Amor Fati: Das Ende des Ressentiments
Januar 2024: Zehn Thesen, Anstöße und Impulse für das neue Jahr und alles, was kommt.
I. Unsanft und verlustsintensiv: Die vergangenen vier Jahre haben uns auf eine Art geweckt, die notwendig war. Zu ihren schmerzhaftesten, zugleich aber erhellendsten Lektionen gehörte die Bedingung, dass wir unsere Freiheit nicht mehr im Zusammenhalt des Zusammenbruchs, sondern im Zusammenbruch jedes Zusammenhalts finden mussten. Die Masken sind gefallen und das einzige Geländer, das uns geblieben ist, sind wir selbst.
II. Ohne die Härte der vergangenen vier Jahre hätten wir jetzt nicht die Klarheit, an deren Aufgaben es weiterhin zu wachsen gilt. Dank ihr beschäftigen uns heute andere Fragen als damals. Die Frage nach dem Warum stellt sich nur noch für die Wenigsten. Es ist das Wie, das uns quält. Wie gestalten wir eine Zukunft, in der Freiheit, Frieden und Fürsorge herrschen und Korruption, Krieg und Kindeshandel keinen Platz mehr haben? Wie entwickeln wir Zusammenhalt, ohne das Individuelle zu verraten und uns selbst zu verlieren? Wie verhindern wir, dass sich diese wenigen hoffnungsvollen Menschen in ihrem Veränderungsdrang aneinander aufreiben und schlussendlich an ihrer Unterschiedlichkeit entzweien?
III. Wenn Zentralisierung der Grund für unsere Empörung war, wird Zentralisierung uns auch keinen Frieden bringen. Die Vergangenheit hat gezeigt: Der Versuch, die Welt auf eine Zukunft zu eichen, ist immer schon gescheitert. Auch wir werden ihre Engstirnigkeit nicht dadurch aus der Welt schaffen, legen wir sie weiterhin als Maßstab für Kommunikation und Kooperation an den Tag. Die Illusion vom Fortschritt durch Vereinheitlichung wirkt nicht mehr. Wir sollten lernen, Einigkeit in der Uneinigkeit zu finden. Ansonsten wird sich die Geschichte solange wiederholen, wie ihre »Revolutionen« fortlaufend Verlierer, Erniedrigte und Beleidigte produzieren.
IV. Mehr noch als über die institutionellen Strukturen und ihre Mechanismen haben uns die vergangenen drei Jahre gelehrt, dass sich nur die europäischen Faschismen »als revolutionäre Bewegungen vorstellen und durchsetzen konnten, die einem frustrierten revolutionären Subjekt, dem völkischen Selbst, was immer das sein mochte, endlich das Seine zu verschaffen versprachen.«1 Am eigenen Leib haben wir erlebt, »wie es möglich und machbar ist, über einem Volk, das viele Millionen Menschen zählt, eine so wirksame kulturelle Hypnose, eine so dichte telekommunikative Glocke zu errichten, dass die Darinlebenden sich notfalls für die Verteidigung ihrer Illusion von Zusammenwuchs und Zusammenleben sogar zu den Waffen rufen lassen.«2 So haben wir lernen müssen, unser Eigenstes »in der Reaktion und im Ressentiment gegen neue Verhältnisse auszubilden.«3 Doch auch dieses Muster, haben wir gemerkt, kann sich ins Destruktive wandeln, folgt es nur noch dem Prinzip des »Dagegen«, anstatt irgendwann auch mal wieder »dafür« zu sein.
V. Ebenso wie man sich nur selbst seelisch vergiften kann, kann man auch das Ressentiment nur selbst überwinden. Bedeutet Ressentiment im Französischen übersetzt so viel wie »verhaltener Groll« oder »Rachegefühle«, war es Friedrich Nietzsche, der das Ressentiment (gemäß Max Scheler) als Phänomen der »seelischen Selbstvergiftung« bezeichnete: Indem Menschen Vorbehalte gegen das Leben; gegen die Lebendigkeit haben, senkt sich die Kränkung durch das Leben selbst als ohnmächtiges Zurückziehen in die eigene Seele. In Form von »Hasskonserven« (Sloterdijk) werden diese Gefühle gehalten, bis sich ihre Aggression gegenüber anderen oder uns selbst entlädt. Amokläufe, Attentate, Depression, Schuldzuweisung, Selbsterhöhung, Frust und Unzufriedenheit: Im Ressentiment ist man mehr beim anderen als bei sich selbst. Nur wer das Re-Sentiment, das Wiederholen und Zurückführen von Gefühlen, ihr Grübeln und Gedankenkreisen durchbricht, kann verhindern, dass das eigene Herz zur Mördergrube wird.
VI. Das Gebot der Stunde lautet Dezentralisierung als Zentrierung im eigenen Innern. Dezentralisierung wird solange Zentralisierung bleiben, wie wir nicht erkennen, dass uns kein Halt zu halten vermag, entspringt er nicht uns selbst. Denn was heißt Dezentralisierung? Sie meint Unabhängigkeit. Unabhängigkeit von allen Strukturen, die mehr der Machtakkumulation denn der Wissensdistribution dienen. Sie meint, in der Welt anzukommen, wie wir in sie hineingeworfen wurden: verantwortlich. Und allein. Dezentralisierung bedeutet, in jeder Hinsicht zuerst bei sich selbst anzufangen und Verantwortung für sich selbst und die eigenen Gedanken und Taten zu übernehmen. Wahrhaft unabhängig sind wir erst, wenn wir uns niemandem gegenüber mehr verpflichtet fühlen, Rechenschaft abzulegen, als vor uns selbst.
VII. Das Leben ist kein Entweder-oder, sondern vielmehr ein Sowohl-als-auch. Viele Menschen meinen, auf dem Weg zu sich selbst, »die Wahrheit« (für sich) entdeckt zu haben. Und das ist soweit auch okay. Zum Problem wird dieser Wahrheitsglaube erst, wenn der »Erleuchtete« meint, seine Wahrheit sei die einzig wahre. Wer anfängt, anderen Menschen ihren Erkenntnisprozess abzusprechen, ist nicht »erleuchtet« oder »aufgewacht«, sondern schlichtweg Gefangener seines eigenen Weltbildes. Wahre »Erleuchtung« – und damit auch Unabhängigkeit – besteht in der Akzeptanz des Anderen in seiner Andersartigkeit. Es geht darum, das Seinige losgelöst vom Anderen betrachten zu können und Differenzen nicht mehr als Angriff, sondern als Lernaufgabe für einen selbst – nicht für andere – zu betrachten.
VIII. Es wird sich nichts ändern, wenn wir nichts daran ändern, immer erst die anderen zu ändern. Jeder hat seinen eigenen Weg, um zu sich selbst zu kommen. Und es ist nicht an uns, »Abkürzungen« für ihn zu finden. Den Weg zu sich selbst geht jeder allein.
IX. Eine konkrete Möglichkeit, das Ressentiment zu überwinden, bestünde darin, der Welt anders gegenüber zu treten und ihrem Bild als Ort des Mangels, der Missgunst und der Niederträchtigkeit ein Bild der Fülle entgegenzusetzen – der Seinsfülle. So schrieb beispielsweise Peter Sloterdijk ganz treffend: »Die Erde ist von sich aus kein Ort, der zur Magersucht einlädt.« Der eigentliche Perspektivwechsel bestehe folglich in der Kunst der Transfiguration (Nietzsche) – darin, die Welt als Einladung zu verstehen, auf ihr Großzügigkeitsgeschehen zu blicken und aus ihm heraus zu versuchen, den Willen zum freudigen Erleben des Daseins zu stärken. Nietzsches Maxime des Amor Fati soll dahingehend den Zustand der höchstmöglichen Lebensbejahung des Menschen greifbar machen: Man will nichts anderes haben. Rückwärts nicht, vorwärts nicht, in alle Ewigkeit nicht. Man erklärt sich als identisch mit seiner Vergangenheit. Dabei heißt, seinem Selbst ewige Treue zu schwören, gleichzeitig auch, diesem, dem Schicksal und der Welt zu vergeben. Die Exerzitie (geistliche Übung, die abseits des alltäglichen Lebens zu einer intensiven Besinnung und Begegnung mit Gott führen soll) des Amor Fati, das meint für Sloterdijk »Vorwärts schenken, statt heimzahlen.« Es meint, mit Großzügigkeit in die Zukunft gehen, Abstand zu nehmen von Selbsterhöhung und Erniedrigung anderen gegenüber und stattdessen eine Haltung der Epochae einzunehmen; sich des Urteils und der Wertung zu enthalten: sich befreien.
X. Das Leben zu bejahen meint, das Leben so zu nehmen, wie es ist. Es meint nicht, sein Ressentiment behalten zu wollen, um weiterhin aus diesem »Energie« zu ziehen, indem man aufzeigt, wie ungerecht die Welt doch sei und dass man selbst doch derjenige sei, der gegen diese Ungerechtigkeit angehe. Das Leben zu bejahen, meint nicht, sein Leiden wegzudiskutieren, oder die Wirklichkeit an Idealvorstellungen zu messen. Ja zum Leben zu sagen, heißt, die Wirklichkeit stark zu machen, in ihr zu leben.
Sagen Sie mir doch gerne, ob Ihnen diese Art von Text zusagt oder nicht. Ich habe so viele Gedanken, manchmal zu viele, dass es mir oft schwerfällt, sie argumentativ, logisch in einen Fließtext zu verwandeln. Dieses Format eines »thesenhaften Notizheftes« wäre für mich ein schönes Ventil für zwischendurch. Aber natürlich nur, wenn es Sie nicht allzu sehr stört.
Sloterdijk, Peter (1998): Der starke Grund, zusammen zu sein. Erinnerungen an die Erfindung des Volkes. Frankfurt am Main (Suhrkamp), Seite 17.
Ebenda, Seite 28.
Ebenda, Seite 9.
Ihr Lieben, habt vielen Dank! Eure Worte tun gut zu hören.
Ein sehr guter und gutgemeinter Text grundsätzlich. Ich finde allerdings, dass einige Gedanken und Formulierungen zu intellektuell (etwas kopflastig) und abstrakt (von der Realität abgekoppelt) sind, manche Sätze zu komplex (Inhalt) und kompliziert formuliert, so z.B. IX. Die Frage ist, wen wollen Sie erreichen und warum und /oder warum nicht.
Um alles im Text Angesprochene zu verstehen oder einordnen zu können, setzt ein wenig die Kenntnis von Nietzsche`s und Sloterdijk`s intellektuell ausgerichtete Philosophie voraus (bei Nietzsche kommen noch weitere Aspekte, die das Ganze erschweren hinzu), was sehr anspruchsvoll ist.
Philosophie heisst übersetzt Liebe zur Weisheit und Wahrheit. Weisheit ist immer mehr, als blosses faktisches oder lexikalisch-intellektuelles Wissen. Philosophie heisst der Versuch des Menschen, für sich mit Vernunft und Logik die Welt und das Sein zu erfassen und Antworten auf die letzten Fragen, Wer bin ich? Woher komme ich? Was ist das Sein? Warum bin ich hier? Was hält die Welt zusammen? Was ist Leben? usw. usw. zu bekommen. Wahrnehmung, Erkenntnis, (Hintergrund)Wissen, ganzheitliche Betrachtung und Bildung unterstützen den Erkenntnisweg. Die Gefahr besteht immer in einer Einseitigkeit, so z.B. in einem realitätsfernen, naiven Idealismus oder in einem pragmatischen, destruktiven Materialismus. Letzteres ist heute weltweit feststellbar. In einer einseitigen "Wissenschaftlichkeit" wird versucht, alles was auf etwas Übersinnliches hinzuweisen scheint nur mit materialistischen Erklärungsmodellen -oder Methoden zu enträtseln.
Geist (Spirit) verbindet Körper und Seele, und verleiht ihnen Bewusstsein. Geist und Bewusstsein sind unabhängig vom Körper, d.h. nach dem physischen Tod gehen sie nicht verloren, sondern existieren im Feinstofflichen weiter. Sowohl Geist als auch Materie tragen die göttliche Energie in sich. Nur deswegen können sie überhaupt erscheinen in der physischen Welt. Geist manifestiert in-carniert sich im Körper, wie der Begriff Inkarnation (Fleischwerdung) dies auch exakt ausdrückt.
Den Weg muss jeder für sich alleine gehen, wie Sie auch schreiben. Alleinsein ist keine Einsamkeit, aber es kann sein, dass wenn man sich ernsthaft auf den Weg begibt, plötzlich ganz einsam wird.
"Einsamkeit hat weiche, seidige Hände, aber mit starken Fingern ergreift sie das Herz, und lässt es vor Kummer erzittern. Einsamkeit ist der Bundesgenosse des Schmerzes, aber auch der Gefährte der geistigen Erhöhung."
Khalil Gibran