«Die bewusste und zielgerichtete Manipulation der Verhaltensweisen und Einstellungen der Massen ist ein wesentlicher Bestandteil demokratischer Gesellschaften. Organisationen, die im Verborgenen arbeiten, lenken die gesellschaftlichen Abläufe. Sie sind die eigentlichen Regierungen in unserem Land. Wir werden von Personen regiert, deren Namen wir noch nie gehört haben. Sie beeinflussen unsere Meinungen, unseren Geschmack, unsere Gedanken. Doch das ist nicht überraschend, dieser Zustand ist nur eine logische Folge der Struktur unserer Demokratie: Wenn viele Menschen möglichst reibungslos in einer Gesellschaft zusammenleben sollen, sind Steuerungsprozesse dieser Art unumgänglich.»
— Edward Bernays, Propaganda
Ist sie für die einen die größte Missachtung jeder Zwischenmenschlichkeit, sehen die anderen in ihr die Bedingung für gerade diese: die Manipulation und Korruption der menschlichen Seele. Diese, so die an Descartes’ Maschinendenken angelehnte und noch immer weitverbreitete Überzeugung, müsse – insofern sie demnach überhaupt existiere – in bestimmte Bahnen gelenkt werden, andernfalls könne keine Form von Gemeinschaft, geschweige denn Staat oder Nation langfristig aufrechterhalten werden. Würde jeder tun und lassen, wonach ihm gerade sei, entstünde Chaos und Chaos gilt bekanntermaßen als unregierbar. Das Gesetz, dem der Mensch zu folgen hätte, habe folglich nicht sein eigenes zu sein, sondern das einer Instanz, deren Willen im Grunde kein Wille ist, sondern das selbstlose Verbalisieren einer unumstößlichen Wahrheit, die sich je nach Epoche und Gemengelage in Form unterschiedlicher Naturgesetze wie Sachzwänge äußere und welche der Einzelne nur nicht in der Lage sei, als solche zu erkennen.
Dabei scheint es niemanden zu interessieren, ob das «Chaos», das angeblich einem Ausleben (wahrer) menschlicher Individualität entspränge, schlussendlich wirklich Chaos bedeute, oder es nicht eher dem natürlichen, – wenn auch nicht immer als ein solches ersichtliches – Gleichgewicht des Lebens entspräche, aus dessen Perspektive es vielmehr jener starre Rahmen ist, den wir als Gesellschaft uns versuchen aufzuerlegen, der als unnatürlich, zwanghaft und falsch angesehen wird. Sollte die Frage also nicht vielmehr lauten: Warum ängstigen wir uns davor, unsere innersten Wahrheiten zu leben, aber nicht vor den Konsequenzen, wenn wir es nicht tun?
Zwischen Motivation und Manipulation
«Wir alle haben gelernt, käuflich zu sein. Das kann man Schule des Lebens nennen. Eine Schule, die uns ‹Werte› vermittelt, auf die wir durch eigenes Nachdenken und eigene Entscheidung niemals gekommen wären, und die so gleichsam die Währung festlegt, in der wir bezahlt werden können. Eine Schule aber auch, die uns lehrt, Kompromisse zu schließen, auch zwischen unseren Idealen und der Wirklichkeit.» — Rupert Lay1
Ein System, das darauf ausgelegt ist, seinen Willen zu deinem zu machen, ist nicht daran interessiert, dich zu dir selbst finden zu lassen. Dieses Prinzip sollte jedem eingängig sein. Wir finden es in der Werbeindustrie, in Religionen, Sekten und anderen toxischen Beziehungsformen, mitunter auch im Schulsystem. Insofern sich jedoch nicht alle Menschen bis zur Unkenntlichkeit verbiegen lassen, fängt ab einem gewissen Punkt der Fremdherrschaft bei so manchem das Luftschnappen an. Diesen vermehrt auftretenden Versuch, der eigenen Stimme wieder Herr zu werden, nahm der deutsche Philosoph, Psychotherapeut und Unternehmensberater Rupert Lay zum Anlass, die Mechanismen und (zwischen-)menschlichen Prädispositionen von und für Manipulation aufzudecken. Wenn wir schon alltäglich manipuliert werden, so Lay, dann sollten wir zumindest lernen zu erkennen, wo und wie häufig man Zugriff auf unseren Willen verübt, um so unsere Techniken dahingehend zu ändern, uns im «Dschungel der Manipulation» ein Maximum menschlicher Freiheit bewahren zu können2. Also versuchte Lay, in seinem 1977 erschienenen Buch «Manipulation durch die Sprache» die Mechanismen von Manipulation dadurch aufzudecken, dass er sie auf ihre individuellen Anknüpfpunkte zurückführte: Motivation und Anreiz.
Wer Gesellschaft ändern will, daran führe laut Lay kein Weg dran vorbei, der müsse auch die Menschen ändern wollen, die – materiell gesehen – Gesellschaft ausmachen (zumal weil jede «freiwillige» Bereitschaft und jeder intrinsische Antrieb immer nachhaltiger und ressourcenschonender ist als die Anwendung von Gewalt). Ließe sich somit das Überleben einer Gesellschaft darauf zurückführen, inwieweit sie es schafft, das Verhalten ihrer Mitglieder zwecks diesem anzupassen, brach Lay die hierfür benötigte Motivation – verstanden als Menge aller «nicht aus äußeren Reizen ableitbaren Variablen, die menschliches Verhalten in Bezug auf Intensität und Richtung beeinflussen und/oder kontrollieren»3 – auf vier Strukturformen herunter:
zweckrational (über Ausrichtung auf materielle Ziele)
wertrational (über die Berufung auf ethische oder religiöse Werte)
traditional (über die Gewohnheiten innerhalb einer Arbeitergruppe)
emotional (gefühlsmäßige Einstellungen)
Entsprechend zweckentfremdet als Manipulationstechniken könnten diese Motivationspforten zur «Selbstentwirklichung» des Einzelnen führen, indem sie
die Fähigkeit, selbstständige Entscheidungen zu treffen, einschränken.
die personale und soziale Autonomie des Beeinflussten gefährden.
emotionale und affektive Entscheidungen vor rational begründeten begünstigen.
Leitwerte und Beurteilungssysteme aufbauen, im Rahmen derer auf eingeprägte Signale reagiert wird.4
Wohlwissend, dass Manipulation nicht schon im Vorhinein etwas Schlechtes ist, sondern zunächst als etwas Indifferentes betrachtet werden kann, verweist Lay zugleich auf die Anthropologie, in deren Jargon man im Zusammenhang der Manipulierbarkeit durchaus von einer «conditio humana» spricht, also von einer Befindlichkeit des Menschen, die ihm zukommt, wenn er nicht gerade als Robinson aufwächst und lebt, und nach welcher der Mensch nur unter der Bedingung der Manipulierbarkeit Mensch zu sein können scheint5. Demzufolge sei kein Mensch, der unter Menschen aufwächst, frei von Manipulation, also der Beeinflussung seiner Person durch seine Mitmenschen. Wie viel Selbst man damit selbst ist und wie viel die anderen, bleibt also stets eine offene Frage.
Die Abspaltung der Wirklichkeit
«Der changierende Stoff, in dem Krieg und Frieden, Stadt und Land, Tag und Nacht, Genuss und Arbeit, Zwang und Freiheit sich derart verflechten, dass oft die bloßen Worte ihren Sinn verlieren, ist aus anderen Fäden gewebt.» — Ernst Jünger, Der Arbeiter
«Es ist zwar einfacher, nach Kommando zu leben, aber nicht leichter.»
— Vladimir Fedorovich Tendri︠a︡kov6
Es sei diese «Gleichursprünglichkeit» des Menschen, sowohl Individuum als auch gesellschaftliches Wesen zu sein, die es ihm nicht erlaube, sich bloß als Individuum zu verstehen. Folglich pflegte Lay als «gesellschaftliche Einheit» auch nicht das Individuum zu benennen, sondern die Dynamik der «sozialen Interaktion»7. Er wusste, wie leicht Menschen unter dem Eindruck eines Kulturschocks zu manipulieren waren (hier mein Text zu Naomis Kleins «Schockstrategie») und sah die gleiche Herangehensweise in dem Handwerk sogenannter Revolutionäre, deren Anspruch an Geschichte und Gesellschaft immer nur durch die Ausübung von Zwängen realisiert und eingetrieben werden konnte. Ein Recht auf Selbstbestimmung? Das gab es nur, wurde dieses «Selbst» vorab auf die «richtigen Werte» abgestimmt.
Ein, auch heute noch beliebtes Mittel, besteht hierbei in dem Erzeugen von Ohnmachtsgefühlen. Das Gefühl, ausgeliefert zu sein, – sei es noch so subjektiv und irreal–, führt unweigerlich dazu, dass Menschen sich selbst ent-wirklichen. Demnach sind explosionsartig anwachsende Mengen von Daten und Fakten für den «normalen» Bürger nicht nur nicht mehr bewältigbar, sie führen auch zur Verantwortungsabgabe an diejenigen, von denen man glaubt, wenigstens sie seien noch Herr der Lage. Insofern jedoch diese Externalisierung von Kompetenz mit einem verstärkten Angewiesensein auf Fremdinformation einhergeht, bleibt auch das Überlagern von Eigenerfahrungen durch Fremdzuschreibungen nicht aus. Und so wird die Abspaltung von Sprache und Realität selbst zu einem Mittel der politischen Manipulation: Entspringt unsere Beschreibung dessen, was wir als Wirklichkeit bezeichnen, nicht mehr unserer eigenen Erfahrung oder Recherche, ist auch die Sprache, die wir verwenden, um sie zu beschreiben, nicht mehr die unsere. Unser «Wissen» wird zum sekundären Wissen und damit zum «Nicht-Wissen».
«Eine Wahrheit muss das Zeitliche segnen können, wie man früher gesagt hat; sonst bleibt sie weltlos. Die Welt ist so dürr geworden, weil sich so viele hergestellte Gedanken herumtreiben, ortlos und bildlos.» Dieses Zitat Erhardt (nicht Erich) Kästners trifft unseren Mangel an Wirklichkeitsnähe an seiner Wurzel: Fehlende Eigenerfahrung verhindert nicht nur ein tiefgreifendes Verstehen, also ein Internalisieren der eigentlichen Information, – indem sie uns die Dinge nur an ihrer Oberfläche berühren lässt, beeinträchtigt sie zugleich unseren Umgang mit der Realität. Denn beruht diese nur auf Fremdzuschreibungen, wird auch das Bild, das wir von ihr haben, bald kalt, farblos und fremd. Unsere Realität wird gespalten und unser Interesse an ihr nichtig. Innenwelt und Außenwelt, Wahrnehmung und Erzählung decken sich nicht mehr, der Aufwand ist zu groß, sich ihrer Disharmonie und Disorganisation wieder zu entledigen. Lieber tritt der Mensch in einen immerwährenden, aber nie ausgetragenen, Konflikt mit sich und seiner kosmischen Außenwelt. Lieber wird sie ihm ein fremdes, oft feindliches Gegenüber. Und sollten spontane Reaktionen überhaupt noch gewagt werden, misslingen sie oft an ihrer Wirklichkeitsverfehlung und steigern nicht selten umso mehr das Desinteresse an einer solch unbeherrschten und unbeherrschbaren Welt. War es anfangs nur das Gegenüber, das verstummt zu sein schien, tut man es ihm nun gleich, indem man das spontane Gespräch versiegen und die Subjektivität über die (unbeherrschbare) Objektivität triumphieren lässt8.
Der Weg zum eigenen Wort
«Manchmal scheint mir, als lebten wir in einer riesigen, geräumigen Gruft für viele Personen. Ich blickte auf die Welt, eingehüllt in den grauen, kühlen, unangenehmen Morgendämmer. Das Gefängnis ist nicht außen, es steckt in jedem von uns. Vielleicht können wir ohne es nicht leben.» — Olga Tokarczuk, Der Gesang der Fledermäuse
Sei es die «conditio humana» oder doch das um sie errichtete Konstrukt, das es ihr untersagt, zu wahrer Größe zu gelangen – bis die Unmenschlichkeit im System (oder das System selbst) verschwunden ist, wird es vermutlich noch lange dauern. Damit wir bis dahin allerdings nicht müde werden, auf unserem Bedürfnis nach Freiheit und Lebendigkeit zu beharren, stellt sich die Frage: Was tun, um sich und die Welt wieder als lebendiges Gegenüber zu erleben? Bestehen die Möglichkeiten dahingehend, neben guter Literatur und anderweitig anregender Gesellschaft, viel Musik und dem größt- wie engstmöglichen Kontakt zur Natur, in Aufklärung, Bewusstserweiterung oder – wie ich in meinem nächsten Text näher erläutern werde – Arbeit an der eigenen Integrität, stammt ein ebenfalls sehr guter Tipp aus dem Lied «Spent the day in Bed» von Morrissey, dem damaligen Frontsänger von The Smiths:
And I recommend that you
Stop watching the news
Because the news contrives to frighten you
To make you feel small and alone
To make you feel that your mind isn't your own
Life ends in death
So, there's nothing wrong with being good to yourself
Be good to yourself for once!
Alle in diesem Artikel verwendeten Bilder unterliegen ©Lilly Gebert
Lay, Rupert (1990): Manipulation durch die Sprache. Rhetorik, Dialektik und Forensik in Industrie, Politik und Verwaltung. Frankfurt am Main, Berlin (Ullstein), Seite 9.
Ebenda, Seite 13.
Ebenda, Seite 18.
Ebenda, Seite 21.
Ebenda, Seite 14.
Die Nacht der Entlassung (1975), Seite 139.
Lay, Rupert (1990), Seite 60.
Ebenda, Seite 145.
Danke für dieses Plädoyer zur Selbstfindung und -stärkung. Kann jeden Gedanken teilen. Meine Conclusio aus den letzten 3 Jahren ist, auch wenn es mehr Einsamkeit erfordert, gewisse Distanz zu den Mitmenschen zu halten, die eigene Seele/Gesundheit, nicht das Ich, hat Vorrang. Denn zuallererst muss jeder Mensch für sich ein praktisch möglichst widerspruchfreies Leben führen, um seelisch gesund zu bleiben. Wahrheiten und Konformismen sind für das praktische Überleben überhaupt nicht nötig, Tiere kennen keine Wahrheiten, die Evolution kennt sie nicht, Propaganda existiert darin nicht, Angst dagegen schon und diese wird auch operativ konditioniert wie bei dressierten Tieren. Für das Karriere machen, soziale Aufsteigen braucht man sie sicherlich schon. Aber ich verstehe mehr und mehr Menschen, die sich gegen dieses Gesellschaftsleben entscheiden und in ein Kloster gehen. Vielleicht nicht einmal meist aus religiösen Gründen, sondern spirituellen, weil Sie ahnen, dass ihr Seelenheil und ihre innere Integrität wohl gefährdet und nicht aufrecht zu erhalten wären. Für Meditation, Lesen, Musik, Natur sind Kloster der richtige Ort. Natürlich sind Sie und das Leben darin keine Blaupause und Heilanstalt für alternatives Leben in einer kapitalistischen Gesellschaften und dressierte verlorene Seelen, sondern eher das Antonym und letzte Ausweg dazu und daher für viele kein gangbarer Weg. Integrität könnte man auch als ein widerspruchsfreies Leben verstehen, Idealismus wäre schon wieder zu weit über das Ziel hinausgeschossen in diesen Zeiten. Wenn Wissenschaftler Widersprüche umfahren wie Slalomstangen, nicht viel anderes sehen wir seit vielen Jahren nur noch, kommen Sie ihrer Berufung nicht mehr nach. Wenn (gelenkte) Demokratie nur noch das soziale Aushandeln des kleinsten gemeinsamen Nenners ist, aber die sozialen und gesellschaftlichen Widersprüche überhaupt nicht mehr benannt und öffentlich durchleuchtet und diskutiert werden, ist es nur noch eine Scheindemokratie. Aber anfangen muss jeder bei sich zuerst, wer die Widerspruchsfreiheit in seinem Leben nicht anstrebt und lebt, kann Sie auch nicht von der Gesellschaft erwarten. Im Kloster verordnet/erhält man Sie durch Regeln, für manche Gemüter vielleicht der einzig praktikable und gewünschte Weg, solange die eigene Seele daran eben nicht zu Grunde geht. Aber wenn Regeln zu Gesetzen gemeißelt werden ohne Not und verhandelbar zu sein, Alternativlosigkeit Widerspruchsidentifikation unterminiert, gerät die Seele in traumatische Bahnen über kurz oder lang. Jeder Mensch lernt sein Leben lang oder ist dazu zumindest in der Lage. Ist das Leben frei von Widersprüchen, ist man eins mit sich selbst, seiner Umwelt, den Mitmenschen, zen, hat man die höchste Stufe des Daseins erreicht. Führen die Menschen im oder außerhalb eines Klosters ein sozialeres, empathischeres, philantropischeres Leben? Eine Gesellschaft die gesteuert werden muss und eine die subsidiär gedeiht sind wohl so ziemlich der größte soziale Gegensatz.