Die Geschichte, die wir unser Leben nennen
Das größte Korsett tragen wir in uns — Wahrheiten, an denen wir wachsen. Wege aus der Ichlosigkeit Teil 6 von 7.
«Natürlich ist ein Selbst viel umfassender als der innere Erzähler. Die Insel des selbst-bewussten Geschichtenerzählers liegt mitten in einem Meer von Unbewusstem, über das wir nichts wissen, nie etwas wissen werden oder das wir vergessen haben. Es gibt vieles in uns, das wir nicht beherrschen oder wollen, aber das bedeutet nicht, dass es unwichtig wäre, eine Erzählung für uns selbst zu finden. In der Sprache bilden wir den Lauf der Zeit so ab, wie wir ihn empfinden – das Es war, es ist, es wird sein. Wir abstrahieren, denken und erzählen. Wir ordnen unsere Erinnerungen und verknüpfen sie miteinander und diese Bruchstücke bekommen einen Besitzer: das autobiographische Ich, das nicht ohne ein Du ist. Für wen erzählen wir denn schließlich? Auch allein in unseren Köpfen ist ein vorausgesetzter anderer dabei, die zweite Person unserer Rede.» — Siri Hustvedt, The Shaking Woman
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Menschen, die ihre eigene Wahrheit leben, sind in dieser Welt nicht gerne gesehen. Zu unangenehm ist die Erinnerung, die ihr Selbstsein in den anderen, nicht sie selbst Seienden, auslöst: nämlich, dass auch sie einst so etwas besaßen wie Selbstachtung.
Dabei bewirkt sie, die Selbstachtung, gerade in solchen Momenten jenen kleinen Schmerz, der uns immer dann beschleicht, haben wir uns einmal wieder selbst dabei ertappt, wie wir einer weiteren unangenehmen Wahrheit ausgewichen sind.
Wobei die Leichtfertigkeit, mit der wir sie zu übergehen vermögen, wiederum davon abhängt, wie viel von unserer Selbstachtung noch übrig ist. Leben wir für uns selbst? Oder haben wir dieses Selbst bereits so sehr vergessen, dass wir das Zepter unseres Lebens längst an «die Anderen» übergeben haben?
Wie viel Wahrheit sind wir im Stande zu ertragen? Oder lastet die Meinung der anderen bereits so sehr auf uns, dass wir es nicht einmal mehr in Erwägung ziehen, uns selbst besser kennenzulernen. Wozu auch? Damit wir danach bei den anderen mehr anecken und sie sich von uns distanzieren?
Oder noch schlimmer: Je mehr wir dieser Selbstachtung Raum zugestehen und ihren Schmerz nicht länger unterdrücken, mit desto mehr unangenehmen Wahrheiten könnten wir konfrontiert werden. Allen voran: die, die uns selbst betreffen.
Die anderen einmal außen vor gelassen: Wie gern würden doch auch wir nicht vor Augen geführt bekommen, wie wenig wir unsere letzte Beziehung verarbeitet haben, oder wie viel weniger unabhängig oder gelassen wir sind, als wir es uns selbst vormachen. Dass wir verletzt haben – und verletzt wurden. Dass wir nicht die Person sind, von der wir die anderen glauben machen, wir würden sie sein.
Der Versuch, frühere Fehler aus dem Fremd- wie Selbstbild zu löschen, kann sich ins Unermessliche erstrecken. Und dabei den Wunsch, uns selbst vollständig anzunehmen, vollends ersticken. … Ach, wie viel angenehmer wäre es doch, wäre da nicht dieses Leben und würde uns einen Spiegel vorhalten.
Wäre da nicht dieser ewige innere Konflikt zwischen unserem Bedürfnis nach seelischem Schutz und diesem nie vollends verklingenden Drang nach Wahrheit: Ist es wirklich so, dass es mir in der Sicherheit von wasserdichten, perfekt funktionierenden Lügen über mich selbst besser geht? Oder drohe ich nicht vielmehr in ihnen zu ertrinken?
Wahrscheinlich. Denn so «menschlich» oder auch hilfreich in Zeiten der Schwäche es auch sein mag, schmerzhafte Wahrheiten zu verdrängen – sein psychologischer «Schleier» hört dann auf, an einen Akt der vor Überforderung schützenden Selbstfürsorge zu grenzen, wenn er uns am Ende mehr verdeckt, als es unser Schatten allein getan hätte.
Keine Lüge wiegt schwerer, als die, die wir uns über uns selbst erzählen. Eben weil sie die Bürde unserer mit ihr begrabenen Selbstachtung tragen muss. Liegt sie schließlich nirgendwo anders als dort beerdigt, wo wir aufgehört haben, nach Selbsterkenntnis zu streben.
Ihrer beiden Verknüpfung – Selbstachtung und Selbsterkenntnis – scheint auch der Grund zu sein, warum kein gelingendes Leben lebbar scheint, ohne dass wir richtig verstehen, was Leben ist.
Existiert dieses zunächst einmal in uns. Und verneinen, ja unterdrücken wir dieses Leben in uns, respektieren und achten es nicht – ja wie sollen wir dann je uns selbst respektieren und achten?
Wer das Leben verachtet, verachtet auch sich selbst. Schützt hinsichtlich der eigenen Selbsterkenntnis doch nichts so sehr davor, die eigene Wahrheit anzunehmen, wie Verachtung. Selbstverachtung.
Selbstverachtung treibt einen Keil zwischen uns und das Leben. Degradiert uns zum Objekt. Zum niederen Wesen, das nicht erkannt, sondern behandelt, verwahrt, verbessert werden muss.
Sie ist das Ende jeder Lebendigkeit. Denn wo wir uns selbst nur noch als etwas zu Reparierendes begreifen, verlieren wir das Eigentliche – das Lebendige, das sich nicht in Kategorien pressen lässt, sondern im Vollzug seiner selbst geschieht.
Eben weil sie in uns in dem beschneidet, was uns selbst lebendig fühlen lässt, unserem Spüren, Wollen, Werden, birgt sie den Tod dessen, was unser Subjektsein, unser Dasein als fühlendes, handelndes Wesen überhaupt erst ausmacht: unsere Freiheit zur Selbstbestimmung.
Und so bleibt die Rückkehr zur Lebendigkeit untrennbar verbunden mit der Wiedergewinnung eben dieser Freiheit – nicht als abstraktes Ideal, sondern als gelebter Vollzug. Als das Wagnis, sich selbst wieder als Ursprung des eigenen Handelns zu erkennen.
Dort beginnt Selbstbestimmung: nicht im Widerstand gegen das Außen, sondern in der Anerkennung des Eigenen – des Unverwechselbaren, das sich nur zeigt, wenn wir aufhören, uns zu verbessern, und beginnen, uns zu bewohnen.
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Wie wir diese Verantwortung, fortan unsere eigene Freiheit zu leben, antreten? Indem wir Nein zur Falschheit im Außen sagen. Und damit – mit jedem Nein – Ja zu unserer eigenen Wahrheit sagen.
In diesem Sinne kann Selbstbestimmung durchaus von außen gelesen werden – als Bewegungsfreiheit. Als Beschluss, uns dadurch von allem zu lösen, dem wir im Außen Macht über uns eingeräumt haben, als dass wir diese Macht in unserem eigenen Innern zurückgewinnen.
Und zwar, indem wir aufhören, uns selbst zu täuschen. Indem wir es nicht bei der äußeren Freiheit, der Abgrenzung vom Urteil der anderen belassen, sondern sie zu einer inneren Freiheit wandeln, in der wir uns von niemandem mehr abgrenzen müssen, ist das einzige Gericht, dem wir fortan noch unterliegen, unser eigenes.
Oder nicht einmal das: Ist der Ort, den wir mit unserer inneren Freiheit fortan bewohnen, letztendlich frei von richtig und falsch. Hier verzichtet jeder auf jedes Urteil. Es besteht kein Grund mehr, sich über andere zu erheben. Sei es im Geheimen oder öffentlich.
Das Gesetz, das fortan gilt, ist das eines jeden Einzelnen. Ihm gilt es nicht zu gehorchen, sondern fortwährend auszubauen, zu festigen, in seinen organischen – dem Leben dienenden – Grenzen neu zu verstehen.
Ein, wie ich zugeben muss, durchaus nicht einfaches Unterfangen, bedarf es für das Leben dieser inneren Freiheit zunächst einmal ihre Erkenntnis. Ein Prozess, der umso schwieriger wird, je mehr die weltweite Schere zwischen Verdrängung und dem Vergessen jenes Organischen weiter aufklafft.
Wenn auch diese Schere zumindest das auslöst, was sie soll: eine Welt, die ihren Mangel an innerer Selbstbestimmung als schwer einzuordnende Zerrissenheit erfährt. Und sie gerade aufgrund dieser fehlenden Zuordnbarkeit zusehends ins Außen projiziert.
Die heutigen Debatten zeigen dieses fehlende Unterscheidungsvermögen zwischen Innen und Außen und seine darauf folgende Schuldzuweisungen wahrhaft zur Genüge: Die Kurzformel «Mein Unglück haben die anderen verursacht» schafft klare Verhältnisse, wie viele sie in ihrem eigenen Inneren nicht zutage bringen.
Der Mensch vermeidet, was sein Weltbild ins Wanken bringt und sein Selbstbild erschüttern könnte. Beginnt wahre Selbstannahme letztendlich doch dort, wo wir nicht mehr ausweichen können, sondern stattdessen dazu gezwungen sind, unsere Grenzen immer weiter dorthin zu verschieben, wo sie mit den Gesetzen eines freien Lebens nicht mehr vereinbar sind – und sich daraufhin von selbst auflösen.
Diese Auflösung unserer bis dato gelebten Unfreiheit beruht schlussendlich auf einem sehr einfachen Prinzip: Unfreiheit kann schlussendlich nur so lange fortbestehen, wie die sie konstituierenden Zäune und Grenzen unseres Unterbewusstseins sich im Anbetracht jener möglichen Freiheit nicht in die Quere kommen und damit von selbst negieren.
Überall dort, wo der Mensch sich jedoch weigert, sich einzugestehen, dass er etwas oder jemand anderem unterliegt als sich selbst, ist es beinahe unmöglich, diese inneren Barrieren aufzulösen. Sie existieren aus ihrer Sicht ja gar nicht.
Meist sind sie nur für die anderen sichtbar – jene, deren Unterbewusstsein diesen inneren Grenzziehungen nicht unterliegt. Oft sind sie diejenigen, die jene von sich selbst Zurückgehaltenen darauf aufmerksam machen, dass sie von etwas zurückgehalten werden. Dass da etwas ist, was sie am Leben hindert.
Für die Außenstehenden sind dies oft befremdliche Situationen: «Du kannst nicht – weil? Du traust dich nicht – weshalb? Dich hindert – was? Es könnte schlecht über dich denken – wer? Du kannst das nicht – wegen? So etwas macht man nicht – sagt wer?»
Was von außen wie eine übertriebene Sensibilität erscheint, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als ein universelles Muster: Denn ja, im Grunde unterliegen wir alle inneren Zügeln und Handbremsen wie diesen. Jeder von uns ist irgendwo auf eine bestimmte Weise unfrei. Die Frage ist bloß, ob wir diese eigene Unfreiheit erkennen können. Oder ob wir jene Zügel und Handbremsen als Normalgeschwindigkeit, als maximalen Handlungsspielraum – ja als Freiheit akzeptieren?
Solange wir unsere inneren Begrenzungen nicht als das erkennen, was sie wirklich sind – das Gefängnis der von uns aufrechterhaltenen Unwahrheit, verwechseln wir Anpassung mit Freiheit. Und verwechseln das, was uns begrenzt, mit unserer Persönlichkeit. Indem wir das, was uns klein hält, fortan als unsere Natur bezeichnen.
Dabei wird niemand wahrhaft frei durch bloße Abgrenzung von außen, sondern durch die Bereitschaft, sich selbst nicht länger auszuweichen.
Der Weg der Freiheit wird mit Selbsterkenntnis gepflastert
Ich persönlich glaube, frei werden, meint, sich selbst zu begegnen. Den Mut zu haben, zusehends den Raum, den die Wahrheiten, die dir andere über dich erzählt haben, mit deiner eigenen Wahrheit zu füllen. Einer Wahrheit, die du aus dir selbst gebierst.
Um sie ans Tageslicht zu befördern, brauchst du das Rückgrat, dich fortan selbst zu meinen – unabhängig davon, wie andere das finden und wie sie dir daraufhin begegnen. Nur dort, wo wir unsere eigene Wahrheit nicht länger als Zumutung, sondern stattdessen als Geschenk erleben, beginnt das Leben.
Freiheit ist kein Zufluchtsort, keine Ausrede, kein Platz, an den wir hin zurückkehren können, ist uns das Gewicht der Welt wieder einmal zu viel geworden. Verantwortungslosigkeit ist keine Freiheit.
Freiheit bedeutet vielmehr, antworten zu können auf die Fragen, die uns das Leben stellt. Ihnen nicht auszuweichen; nicht in den vermeintlichen Schutz unseres Unbewusstseins abzudriften, in der wir Sorglosigkeit der Wahrheit vorziehen.
Freiheit ist kein Schutz. Das Leben ist nicht sicher. Wird es nie sein. Und wenn es das ist, dann ist es nicht mehr das Leben. Ebenso wenig gleicht wahre Selbsterkenntnis einem Plausch beim Therapeuten. An den viele, nebenbei bemerkt, oft auch zu viel Verantwortung über ihr Leben abgeben.
Sich an den Menschen zu erinnern, der man seinem Wesen nach ist, ist ein durchaus schmerzhafter Prozess. Er ist begleitet von Trauer, Verzeihen, Konfrontation. In erster Linie der mit uns selbst, als wer wir waren in der Beziehung mit anderen, aber auch in der zu uns selbst – mit oder ohne andere.
«Selbsterkenntnis also als Quelle von Freiheit und damit von Glück. Dazu gehört auch ein befreites Verhältnis zur Zeit des eigenen Lebens. Erinnerungen können ein Kerker sein, sie können eine lähmende Wendung nach rückwärts erzwingen und einen befreiten Blick in die Zukunft verhindern. Ihre Tyrannei können wir nur durch Selbsterkenntnis brechen: dadurch, dass wir verstehen, woher ihre zwanghafte, erstickende Macht kommt, an welche verborgenen Dinge sie rühren, und wie es zu verstehen ist, dass es dem späteren Leben nicht gelungen ist, ihr Gewicht zu relativieren.»1 — Peter Bieri, Wie wollen wir leben?
Nur wo wir ernsthaft den Beschluss und uns ein Herz fassen, unser Leben nicht länger hinter Täuschung und Selbstbetrug zu führen, besteht die Möglichkeit, uns selbst erstmals ernsthaft kennenzulernen. Und damit auch andere.
Denn, ich kann es nicht oft genug sagen, als wer oder was gehen wir in Beziehung, sind wir nicht die, die wir meinen zu sein? Können wir überhaupt in Beziehung gehen, solange wir nicht mit uns selbst in Beziehung sind?
Und – allem voran – welche Wahrheiten im Außen wollen wir fortwährend hochhalten und verteidigen, können wir nicht einmal unsere eigene leben?
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Die innere Waagschale
Wie viele Menschen meine ich doch zu kennen, deren «Kampf um die Wahrheit» sich weniger wie eine Schlussfolgerung ihrer Auseinandersetzung mit sich selbst angefühlt hat, als eine Flucht vor eben dieser.
Die Einigkeit, die sie mit sich selbst nicht leben können, verlagern sie ins Außen. Wollen sie dort beschlossen, amtlich bestätigt wissen. Wohlwissend, dass es damit, mit der Ungerechtigkeit in dieser Welt, nicht getan ist.
Was sie da ausfechten, ist ein Kampf gegen Windmühlen: Wurde das eine Urteil gesprochen, werden im Hintergrund bereits die nächsten Dinge ausgerollt. Solange, bis wir abermals so Teil des Systems geworden sind, dass wir erneut vergessen haben, dass sich keine Wahrheit im Außen aufdecken lässt, die wir nicht zuerst in uns selbst befreit haben.
Wenn wir nicht ernsthaft verstehen, was hier läuft, wird es kein Gericht auf dieser Welt mehr geben, das uns retten kann. Nicht, solange wir nicht damit anfangen, in erster Linie uns selbst zu helfen. Was zählt, ist unsere innere Waagschale. Heute mehr denn je.
Wer sie nicht für sich entdeckt, wird immer ein «Verlierer» – oder vielmehr: Verlorener – bleiben. Egal, was das Außen über ihn auch urteilen mag.
Und dennoch: Wir können niemanden zu seiner Entwicklung zwingen. Nicht einmal groß motivieren. Das Einzige, was uns bleibt, ist, bei uns selber zu bleiben. Und als die, die wir sind – oder nach diesem Text versuchen zu sein –, Impulse in diese Welt zu geben, von denen wir nur hoffen können, dass irgendjemand sie aufgreift und für sich zum Guten wendet.
Die Illusion von Zufriedenheit
Wem all’ dies nicht reicht, dem sei vielleicht noch Folgendes gesagt: Die Menschen werden immer irgendetwas finden, was sie an dir nicht mögen oder lieber anders hätten. Der Glaube, du könntest es ihnen rechtmachen, ist also eine Illusion.
Bleibst du ihm treu, wirst du früher oder später den Glauben an dich selbst verlieren. Das nämlich ist der Punkt, wo die anderen «aufhören» werden, dir dein Leben zu diktieren: Wenn du aufgehört hast zu versuchen, mit dir selbst zufrieden zu sein. Dann sind sie zufrieden. Wenn du genauso unzufrieden bist wie sie.
Deinem Leben gegenüber resigniert, traumlos, wunschlos unglücklich sollst du sein. Dann sind alle «glücklich». Weil du sie auf diese Weise nicht an ihre eigene Unzufriedenheit, an ihr ungelebtes Leben erinnerst. Dein Unglück hält ihre Illusion von der Alternativlosigkeit ihrer Unzufriedenheit aufrecht. Ist der Glaube an sie derweilen doch das einzige, was sie in dieser noch hält.
Bis auch er eines Tages zerbrechen sollte, gilt, was Martin Walser schreibt:
«Bloß nicht immer daran denken, was die anderen über einen denken. Das ist Kapitulation! Ruin ist das! Man versetzt sich in andere hinein, überlässt denen das Urteil über sich selbst, ist also verloren. Andere urteilen über dich immer, wie du nie möchtest, dass über dich geurteilt werde. Es interessiere dich nicht, wie andere über dich denken. Tritt auf als der, als der du angesehen sein willst.» — Verteidigung der Kindheit, Seite 347
Fortlaufend: «Auch was die Zukunft anlangt, kann ein wachsendes Verständnis unserer selbst entscheidend sein. Denn auch unbewußte Entwürfe können ein Kerker sein. Ich kann, ohne es zu erkennen, der Meinung sein, daß man mich nur mag, wenn ich stets von neuem Leistung auf Leistung türme, eine unerkannte, durch und durch unvernünftige Furcht vor Mißachtung und Einsamkeit kann mich im Würgegriff halten, und so kann es kommen, daß ich unter der Last meines Leistungswillens durch mein Leben hetzte, ohne es zu leben. Erst wenn ich erkenne, was da für Kräfte am Werk sind, habe ich die Chance, die Dinge zu verändern.»
Klasse, Lilly. Ich fühle mich erinnert an die schonungslose Klarheit eines Erich Fromm. Du beschreibst mein Leben. Es ist genau das, wofür ich als Stadtschamane von Gerolzhofen angetreten bin: Das Kartell des Schweigens, der Verdrängung, Leugnung, gefälligen Lügen und umfassenden Tabus aufzubrechen, dem sich alle hier unterwerfen sollen.
Nicht, indem ich gegen das kollektive Unglück kämpfe, sondern indem ich meine Wahrheit lebe und insbesondere zeige, was ich fühle. Aufrichtiges Fühlen ist der einzige Weg, wie wir da gemeinsam herauskommen. Die Wahrheit steht uns allen im Herzen. Meine wahren Gefühle in mir selbst zu befreien und sie auch gegen den heftigsten kollektiven Widerstand offen zeigen zu lernen ist die herzlichsten Einladung ins Mitgefühl. Wir alle warten heimlich auf jemanden, der uns daran&darin erinnert und so jemand möchte ich sein.
Danke für diesen weiteren hervorragenden Teil der Serie!
Tragisch ist, dass den Text wohl nur nachvollziehen kann, wer diese Erkenntnisse schon selbst er-lebt und erarbeitet hat... Schön ist, nicht allein zu sein.
Bedenklich ist, dass ich erst ein halbes Jahrhundert und den Krankheitsfaschismus brauchte, um Freiheit richtig zu entdecken und zu leben. Mich vom Terror der Meinung der Anderen zu emanzipieren. Glück als falsches Lebensziel zu durchschauen. Der Macht der eigenen Entscheidung zu trauen.
Schön seid ihr da, liebe kommentierende und schreibende Funken des Geistes.