Atomkraft-Renaissance? Nein Danke!
Warum es mir beim Gedanken an die "Atomkraft der vierten Generation" kalt den Rücken runter läuft.
Hiroshima, Tschernobyl, Fukushima, Kyschtym. Man müsse meinen, wir hätten genug Nuklearkatastrophen erlebt, um aus diesen gelernt zu haben. Nach Hiroshima starben 70.000 Bewohner sofort und rund 70.000 bis 80.000 in den darauffolgenden Monaten. An den Folgen der Verstrahlung leiden viele bis heute.

Die Anti-AKW Bewegung kannte auf diese Super-GAUs (GAU= größtmöglicher anzunehmender Unfall) nur eine mögliche Antwort: “Atomkraft? Nein danke!”.
Jetzt, 40 Jahre später, lautet eine Schlagzeile der Süddeutschen Zeitung “Atomkraft, ja gerne!”. Sie verweist auf Protestbewegungen, die heutzutage unter dem Slogan “Stand Up for Nuclear” auf die Straße gehen. Pro-Kernkraft-Lobbying sei dank. Klar, man könne nun lachen und meinen, die seien einfach irre. Reden von einem “Gezeiten-wechsel” zugunsten der Kernkraft. Interessenverbände, die versuchen, sich an etwas zu klammern, wogegen wir uns doch schon längst entschieden haben.. Oder?
Es folgen ein paar Schlagzeilen, die daran zweifeln lassen:
Bill Gates will bis 2050 hunderte von Mini-Atomkraftwerken bauen lassen und damit “das Klima retten”. Der Prototyp seines neuen Reaktors "Natrium" soll bereits “Mitte bis Ende der 2020er-Jahre betriebsbereit und an das Stromnetz angeschlossen sein”.
Gleiches in Großbrittanien: Dort will Rolls Royce mindestens 15 Mini-Reaktoren bauen. Der erste soll 2029 ans Netz gehen.
In Frankreich hält insbesondere die konservative Wählerschaft an der Atomkraft als “angeblich heimischer Industrie fest”. Atomkraft sei “Teil der nationalen Größe”. Folglich planen sowohl Macron, Le Pen, Zemmour und Pécresse den Bau neuer AKWs. Insbesondere für Macron sei Atomkraft “ein Trumpf für Wirtschaft und Umwelt”.
Selbst die Niederlande “kehrt zur Kernenergie zurück” und will ihre Atomkraftwerke verdreifachen (von 1 auf 3).
Folgt man Olaf Scholz, so gehe es nicht um eine “Einstufung” von Atomkraft. Es gehe ”um die Einschätzung der Aktivitäten von Unternehmen - wichtig für diejenigen, die Geld anlegen wollen” (Übersetzt: Solange Marketingkonzept und Rentabilität stimmen, ist Atomkraft durchaus eine Überlegung wert).
Die angegebenen Gründe sind stets dieselben: Klimawandel und Versorgungssicherheit. Ihre Diskussionsgrundlagen ebenfalls bekannt: Atomkraftwerke verursachten sehr niedrige Treibhausemissionen und hätten somit im Vergleich mit erneuerbaren Energien einen kleinen ökologischen Fußabdruck. Zudem führe die hohe Energiedichte von Uran zu einem geringen Verbrauch von Rohstoffen und Landfläche. Sie sei (versorgungs-)sicher und günstig. Ein unschlagbares Angebot (?).
Das dachte sich wohl auch Ursula von der Leyen. Sie erwägt aktuell “die Atomenergie auf eine Liste "nachhaltiger" Energieformen aufzunehmen”. Wie passend. Warum auch sonst würden sich derzeit die Meldungen über “Grüne Atomkraft” oder die “Atomkraft der vierten Generation" so dermaßen häufen? Das passiert nicht nur, weil Vereine wie Nuklearia oder "Mothers for Nuclear" versucht haben, auf der Bühne des Klimagimpfels Kernkraft grün zu waschen – dieser globale Sinneswandel scheint vielmehr anderen Machtinteressen zugrunde zu liegen.
So ist beispielsweise für Macron das europäische Bekenntnis zur Atomkraft “politisch überlebenswichtig: Die Einstufung als nachhaltige Energiequelle würde es dem Land und seiner Industrie ermöglichen, Investitionen etwa in neue Atomkraftwerke viel günstiger zu finanzieren”. Was hilft es da noch, wenn unser Wirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck oder die Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz Steffi Lemke Atomkraft weder für den richtigen Weg, noch für die richtige Technologie halten: “Atomkraft wird grün – ob Deutschland das will oder nicht”.
Atomkraft in die EU-Taxonomie aufnehmen und so zum nachhaltigen Investment machen? Warum auch nicht? Wenn wir mal ehrlich sind, scheinen die Würfel ohnehin schon gefallen: Es geht um zu viele Karrieren und zu viel Geld. Auf der “Anti-Atomkraft”-Seite stehen bislang nur Deutschland, Österreich, Luxemburg, Dänemark und Portugal. Für ein Nein wären jedoch 20 Stimmen der 27-EU-Länder nötig.

Ökonomische Interessen werden erneut über ethische wie ökologische Prinzipien gestellt. Abwägungen von Kosten, Nutzen, Risiken existieren, werden aber in der Entscheidungsfindung ignoriert, bzw. zurechtmodelliert und rationalisiert. Besonders deutlich wird dies in einer Fachstellungnahme des Bundesamts für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE) am 9. November 2021:
Das Gutachten des Joint Research Centers (JRC) der EU vom März 2021, welches die Nachhaltigkeit von Kernenergie bescheinigt hat, gilt nach Prüfung des BASE als “unvollständig”. Auf 200 Seiten Fachbericht kommt dieses zu dem Schluss, das JRC habe die “Risiken der Kernenergie und radioaktiver Abfälle unterschätzt und an entscheidenden Stellen Grundsätze des wissenschaftlichen Arbeitens nicht berücksichtigt”.
“In Bezug auf das Ziel der Anpassung an den Klimawandel scheint es an schlüssigen wissenschaftlichen Beweisen für die Widerstandsfähigkeit der Kernenergieerzeugung gegenüber dem Klimawandel zu fehlen. Dies gilt nicht nur bzgl. der erwarteten Zunahme von Extremwettereignissen, sondern auch für den Anstieg des Meeresspiegels und der Temperaturen mit der Folge von Dürren, Mangel an Kühlwasser, Anstieg der Wassertemperatur und Interessenkonflikten für die Wassernutzung.”
“Angesichts des empirisch nachgewiesenen Risikos schwerer Unfälle in Kernkraft werken und unter Berücksichtigung der schwerwiegenden Folgen solcher Unfälle für die menschliche Gesundheit und die Umwelt ist darüber hinaus davon auszugehen, dass es auch keine ausreichende wissenschaftliche Grundlage für die Annahme gibt, dass der Betrieb von Kernkraftwerken den Umweltzielen hinsichtlich der nachhaltigen Nutzung und des Schutzes der Wasser- und Meeresressourcen, der Verhütung und Kontrolle der Umweltverschmutzung und des Schutzes und der Wiederherstellung der biologischen Vielfalt und der Ökosysteme keinen erheblichen Schaden zufügt.”
“Darüber hinaus sprechen auch materielle Anforderungen des EU-Primärrechts wie der Schutz der Umwelt und der menschlichen Gesundheit sowie das Vorsorgeprinzip gegen eine Einbeziehung der Kernenergie in die europäische Taxonomie. Nach diesen Grundsätzen muss eine Maßnahme, die ausdrücklich auf die Förderung „nachhaltiger“ Investitionen abzielt, von einem besonders hohen Schutzniveau ausgehen. Die bloße Einhaltung der EU-Sicherheits- und Umweltvorschriften, die Voraussetzung für die legale Ausübung jeglicher Tätigkeit in der Union ist, kann in dieser Hinsicht nicht ausreichen. Zudem ist es nach dem Vorsorgeprinzip nicht erforderlich, das Vorhandensein eines Risikos zu beweisen, um Gegenmaßnahmen ergreifen zu können, sondern dafür genügt, dass es am Beweis des Ausschlusses eines solchen Risikos fehlt, solange es sich nicht um ein hypothetisches Risiko handelt. Insoweit sprechen insbesondere das nicht ausschließbare Risiko schwerer Nuklearunfälle und die weit in die Zukunft reichenden Unsicherheiten aufgrund der notwendigen Endlagerung hochradioaktiven Atommülls im Ergebnis gegen die Einstufung der Kernenergie als nachhaltig, auch als Übergangstechnologie”
Bin ich die Einzige, die über den fehlenden Aufschrei solch eklatanter Fehler aufschreit? Wo ist die Fridays for Future Bewegung in jenen pro-atomaren Ländern, wenn man sie mal braucht? Wo sind die Günther Andersse oder Hans Jonas unserer Zeit? Warum fühlt sich keiner unserer “Intellektuellen” dazu verpflichtet, etwas über nukleare Verantwortung zu schreiben? Eine solch gemeineigene Entscheidung, deren Fehleinschätzung über unser aller Fortbestehen entscheiden könnte, gilt solange als nicht abgehakt, wie sie von der Gesellschaft nicht als eine solche anerkannt wurde.
Wenn wir nicht darüber entscheiden, wohin wir uns als Gesellschaft entwickeln möchten, wird dies jemand anderes für uns erledigen. Da können wir uns sicher sein.
“Das Verhältnis von Mittel und Zweck, wie es etwa in der beliebten Redensart „Kein Zweck heiligt die Mittel" zum Ausdruck kommt, ist offensichtlich überholt. Heutzutage, da Zwecke zu Mitteln und Mittel zu Zwecken werden ; da es nicht nur das Ziel aller Tätigkeiten ist, Mittel herzustellen, sondern da nun auch Ziele erfunden werden, um als Mittel eingesetzt zu werden ; und da schließlich Beschäftigungen erfunden werden, damit diese zugleich als Mittel und als Zwecke dienen - nein, heutzutage sind solche simplistischen Formeln sinnlos geworden. Beiläufig: Heute gilt nicht mehr das Postulat: „Kein Zweck heiligt die Mittel", sondern umgekehrt: „Kein Mittel heiligt die Zwecke”: Die Tatsache, daß es das Mittel „Atombombe" gibt, heiligt nicht dessen Ziel : den Einsatz”(Anders 2002, S. 374).
Nachtrag (05.01.2021): Diese Debatte ist wirklich schizophren. Während einerseits die “Empörung” wächst und Zweifel an von der Leyen und der EU-Kommission aufkommen, ruft die NZZ Europas Grünen zur Vernunft. Sie sollten doch aufhören, “nostalgische Schlachten zu schlagen” und stattdessen “die Prioritäten für den Klimaschutz richtig setzen” (mehr Atomkraftwerke).
Also entweder entpuppen Atomkraft und Gas sich nun wirklich als nachhaltig und grün, oder auch “Ziel Klimaschutz” wird vom Zweck zum Mittel verkehrt.
Literatur(-empfehlungen):
Anders, Günther (2002): Die Antiquiertheit des Menschen. München (C.H.Beck).
Jonas, Hans (2020): Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt am Main, Berlin (Suhrkamp Verlag).
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