Bevor es begann, wo hat es angefangen?
Auf der anderen Seite des Terrors: über Selbsterhöhung und was passiert, wenn der Mensch zur moralischen Tabula Rasa wird.
«Ich glaube, die Menschen verleugnen die Realität und begreifen nicht, wie schwer es noch werden wird. Das ist das Drama unserer Zeit.» — Salman Rushdie
Saladin und Gibril werden Opfer eines Terroranschlages. Die beiden indischen Schauspieler waren gerade auf dem Flug nach London. Nach der Explosion ihres Flugzeuges fallen beide, eng umschlungen, vom Himmel und stehen in einer neuen Rolle auf: als Erzengel des Guten und des Bösen. Es ist der Beginn einer Odyssee – zwischen Mythos und Ratio, Fantasie und Realität, Verstand und Glauben, Unterdrückung und Selbstbestimmung – als auch das Ende eines Lebens in Freiheit. Zumindest für Salman Rushdie, den Autor jener Satanischen Verse.
«Die Arbeit eines Dichters besteht darin, das Unbenennbare zu benennen, auf Betrüger hinzuweisen, Partei zu ergreifen, Streit anzufangen, die Welt zu formen und zu verhindern, dass sie einschläft.» — Salman Rushdie
Zur Verbannung verdammt
Rushdie wird im Juni 1947 in Indien geboren, genau acht Wochen vor dem Ende der britischen Besatzung. Er selbst beschreibt seine Kindheit als glücklich. Seine Familie war muslimisch, nicht aber streng gläubig. Allgemein war Religion damals kein besonderes Thema: Zu Rushdies Freunden zählten Hindus, Moslems, Christen. Das vorherrschende Gefühl war nicht eines der Differenz, sondern das der Fülle. Niemand war darauf bedacht, sich mittels Abgrenzung zu behaupten. Jeder war dankbar für die Vielfalt, in der er aufwuchs, von und an der er lernen und wachsen konnte.
So sehr das Indien unter und nach Gandhi doch auch von einer Stimmung der Gleichheit und des Miteinanders getragen wurde – diese verließ Rushdie alsgleich er zwecks Studium britischen Boden betrat: «Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich das Gefühl, der andere zu sein, derjenige, der nicht so war wie die Leute, die dort lebten und die mich deshalb nicht mochten»1. Es war die Erfahrung, ausgestoßen und zum Abschuss freigegeben zu sein, mit welcher Salman Rushdie hier, in diesem primär nicht religiös geprägten, dafür aber vom kolonialistischen Denken befallenen Groß Britannien zum ersten, nicht aber zum letzten Mal konfrontiert wurde.
Nur wenige Jahre später, am 14. Februar 1989, ruft der iranische «Oberste Führer» Chomeini mittels einer Fatwa alle Muslime dazu auf, Rushdie zu töten. Jedem Iraner, der das Todesurteil vollstreckt, wird ein Kopfgeld von 25.000 Dollar versprochen. Jedem Muslim anderer Nationalität 7.500.
Mehr als zehn Jahre lang lebt Rushdie als Verfolgter, unter permanentem Polizeischutz und in vollkommener Anonymität. In diesen zehn Jahren ändert er 56-mal seine Adresse und wird das Ziel von fast zwei Dutzend Mordanschlägen.
Die eigens gewählte Unterwerfung
Bevor es begann, wo hat es angefangen? Wenn Terrorismus aus dem Hass auf das Eigene entsteht – an welchem Punkt hat unsere Kultur uns dazu gebracht, unsere Menschlichkeit als Schwäche zu erleben und sie aus diesem Grund zu verwerfen?2 Was muss passieren, dass ein Mensch von einem anderen, einer ganzen Gruppe oder Religionsgemeinschaft zum Feind erklärt wird? Ja, wie kommt ein Mensch zu sich selbst, ehe er einen anderen seiner Menschlichkeit beraubt?
Bereits Walter Benjamin wies darauf hin, dass der Faschismus Hitlers die Ideologie zwar benutzte, im Kern aber keine war. Dieser bestand in etwas anderem: der Auflösung des Einzelnen. Das an Orientierungslosigkeit leidende und sich ohnehin selbst nicht spürende Individuum galt es im Strom der Masse untergehen und damit unsichtbar werden zu lassen. Sämtliche Energien, die es bis dahin gegen sich selbst wandte, galt es nun in Form von Aufopferung und Idealismus der eigenen Sache zuzuführen. Wie und womit? Die Antwort lautet Identifikation: Der Bannstrahl des Dritten Reiches bestand letztendlich darin, anhand von Inszenierung und Posen, die Macht verkörperten und damit Pflicht und Gehorsam implizierten, jenen ein Zugehörigkeitsgefühl zu vermitteln, die bis dato über keines verfügten.
Gemäß dem Psychoanalytiker Arno Gruen fußte der Nährboden, der diese auf Selbst-Verleugnung beruhende Massenpsychose überhaupt erst fruchtbar machte, auf einer inneren «Leere, die ihre Ursache darin hat, dass sich keine Identität bilden konnte, die im Mitgefühl für den anderen wurzelt. Wenn ein solches Fundament fehlt, entsteht eine Identitätsstruktur, die nur auf Identifikation mit Autoritäten und auf Gehorsamkeit beruht und die Entwicklung einer wirklich eigenen Identität verhindert. Das, was das Eigene hätte sein können, wird gehasst, weil die erziehenden Autoritäten es abgelehnt haben und das Kind dazu verdammt war, es als fremd abzuspalten. Die Leere, die solche Menschen empfinden, macht sie mehr als andere empfänglich für die Inszenierung von Spektakeln, weil diese ihnen das Gefühl geben, mit Stärke und Macht vereint zu sein»3.
Die «tödliche Motivation» kommt für Gruen damit vor der Ideologie. Ihre Funktion bestehe für ihn lediglich darin, die «wahren Antriebskräfte» zu verschleiern. Die Ideologie als solche sei niemals selbst die Motivation.4 Damit sie von einem Menschen «Besitz» ergreifen kann, muss in diesem bereits eine Lücke, ja eine Leere angelegt sein, die es zu füllen gilt, die der Einzelne jedoch nicht vermag, aus sich selbst heraus zu schließen. Und ist der Mensch ohne Inneres, ist er sein Leben lang dazu angehalten, nach einer überhöhten Macht zu suchen, der er sich unterwerfen kann. Die einzige Revolte, zu der er fähig sein wird, ist die eigens gewählte Unterwerfung – «das Verlangen nach Erlösung durch Identifikation mit einer Autorität»5.
Terror als Todessehnsucht
«Das Bedürfnis nach Strukturen» ist für Arno Gruen «kennzeichnend für Menschen, die kein eigenes Selbst haben»6. In «Wider den Terrorismus» führt er diesen Mangel an «Ganzheitlichkeit» am Beispiel jener Gottes- und Glaubenskrieger, kurz, Terroristen aus: «Sie können innere Konflikte nur außerhalb ihrer selbst lokalisieren. Ihre Ängste und Hassgefühle bekommen sie nur in den Griff, indem sie sie auf äußere ‹Feinde› projizieren. Indem sie andere töten, projizieren sie diesen Selbsthass…. Sie sind also von sich selbst abgespalten, um den Tod als Leben inszenieren zu können. Es ist diese Selbstzerstörung, die allen terroristischen Akten gemeinsam ist»7.
Ein Teufelskreis: Während ihn sein fehlendes Individualitätsgefühl dazu veranlasst, sich mit fremden Autoritäten in Form von Macht, Ideologie oder Religion zu identifizieren, verhindert seine Orientierung im Außen – «die Identifikation mit der Macht, die einen unterdrückt»8 – die Entfaltung seines eigenen Selbst sowie die Entwicklung wahrer Selbstbestimmung und Verantwortung. Und damit nicht genug: «Die Ideologie, unter deren Banner die Mordtaten ausgeführt werden, verschleiert dabei die Unterwerfung unter die Macht. Die geistige Verarbeitung des Geschehens, die Ideologie der Terroristen, hat mit der grundsätzlichen Motivation nichts zu tun. Es ist die Lust am Untergang, die im Kern den wahren Beweggrund bildet»9 .
Weil wir unser Tun mit rationalen Beweggründen erklären, neigen wir dazu, radikale Ideologien als Motivation misszuinterpretieren. Wir verkennen, «dass es nicht um abstrakte Gedanken geht, sondern um Todessehnsüchte, die einem leeren Selbst dazu dienen, vor dieser Leere davonzulaufen»10. Egal ob sie ihre Ziele als religiös, nationalistisch oder im Namen einer Ideologie heiligsprechen – so wie sich alle Terroristen einem «Gott» verschworen haben mögen, wird ihre Gewalt nicht vom «Glauben» als solchem genährt, sonder durch «das Mörderische der Identitätslosen»11.
Schmerz als Schwäche
«In Indien, wie auch anderswo in unserer sich verdunkelnden Welt, ist die Religion das Gift im Blut. Wo sich Religion einmischt, ist bloße Unschuld keine Entschuldigung. Dennoch umgehen wir dieses Thema und sprechen von Religion in der modischen Sprache des "Respekts". Was gibt es daran zu respektieren, oder an einem der Verbrechen, die heute fast täglich auf der ganzen Welt im gefürchteten Namen der Religion begangen werden?»
— Salman Rushdie
Der Terrorist lebt treu der Überzeugung, er bekäme sich und sein Leben dadurch in den Griff, indem er über andere verfügt, sie demütigt und tötet12. Er befindet sich in einer Art Selbstüberhöhung: Als «unwert» wird erachtet, was nicht der eigenen Gesinnung entspricht. Die Legitimation zum Morden entsteht aus der Überzeugung, der richtigen Sache zu dienen: «Der andere ist weniger, deshalb kann man ihn umbringen»13. Das eigentliche Selbstmitleid, in dem sich der Terrorist befindet, verhindert nicht nur die empathische Wahrnehmung dessen, was er anderen an Leid zufügt – es verschafft ihm zugleich das Gefühl, zu seiner Tat berechtigt zu sein.14
«Nur Menschen, denen ein wahres Mitgefühl für das Lebendige in sich und in anderen Menschen fehlt, können tatsächlich töten»15. Diese im Verlauf des Lebens in Terror kulminierende Kombination aus einem mangelnden Selbst und Selbst-Mitleid wird für Arno Gruen bereits in den frühesten kindlichen Erfahrungen angelegt: Das Fehlen liebevoller Beziehungen fördert den Gedanken, sich einer einem selbst gegenüber feindlich gestimmten Welt gegenüber gestellt zu sehen. Wo der Mensch nie erfahren hat, was es bedeutet, bedingungslos geliebt zu werden, wird er seine «Beziehungs»-Struktur auch nie auf etwas anderem aufbauen können als Erwartungshaltungen. Seine kindliche Angst vor Ablehnung führt zur Idealisierung. Deshalb wird er sich auch später Autoritäten unterwerfen, die ihm versprechen, ihn aus seinen Ohnmachtsgefühlen durch Gewalt zu retten16.
Die Gefahr der Lieblosigkeit liegt im Potenzial der Abspaltung: Wird «das Eigene des Kindes» unterdrückt, verkümmert es. So auch seine Fähigkeit zur empathischen Wahrnehmung. Kindern, denen nie Verständnis oder Mitgefühl entgegengebracht wurde, wird es auch im späteren Leben nicht möglich sein, mitzufühlen oder den Schmerz ihrer Mitmenschen nachzuempfinden. Vielmehr haben sie «sehr früh gelernt, ihren eigenen Schmerz als Schwäche einzustufen. Mehr noch: Sie können mit dieser Erfahrung nur leben, wenn sie diesen schwächenden Schmerz von sich fernhalten und ihn anderen zufügen, um in diesem die eigene Schwäche zu bestrafen»17. So wie manche von ihnen es «als Schwäche empfinden, wenn sie ihre Wut nicht in aggressives Verhalten umsetzen»18 können, sind sie auch außer Stande zu erkennen, «dass Gewalt in menschlichen Beziehungen immer beide, den Täter wie sein Opfer, entwürdigt»19.
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