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Das Opium der Aufklärung
Willkommen zum Ende des Zeitalters der Vernunft. Hier lernst du weder, dein Handeln zu denken, noch dein Denken zu begreifen.
Die zunehmende Bürokratisierung und Verwissenschaftlichung des gesellschaftlichen Lebens selektiert: Die wenigen werden zum Expertentum erkoren, die Mehrheit auf die Ebene der Inkompetenz herabgesenkt. Es werden gesellschaftliche Verhältnisse geschaffen, die langfristig zur Entpolitisierung des Bewusstseins führen.
Eine Autoritarismuskritik von Ivan Illich bis Max Horkheimer.

Die Entmündigung durch Experten
Es gleicht einer Ablösung der Kirche durch die Wissenschaft. Was einst den Priestern und Gelehrten vorbehalten war, wohnt heutzutage den Forschern und Akademikern inne: Das Monopol darauf, festlegen zu können, was als wahr oder verschwörerisch und demnach als progressiv oder regressiv wie auch gesund oder ungesund anzusehen ist. Geht es nach ihnen, kann (oder soll) der Bürger nicht wissen, was er braucht. Über seine Bedürfnisse hat nicht mehr er zu bestimmen, sondern die Experten. Es liegt in ihrem Ermessen, welche Sehnsüchte angebracht sind, wie diese im Konsumenten geweckt werden können und und wie man die Menge dazu bringt, das Urteil über die Qualität der Bedürfnisbefriedigung den jeweiligen Sachverständigen zu überlassen.
Es wird eine Autorität des Allwissens installiert, welche logischerweise nicht dazu gedacht ist, dem Bürger jenes nahezubringen. Vielmehr erweckt sie den Anschein bestmöglicher Fürsorge sowie gut begründeter Sorglosigkeit, sodass der Glaube an ihre Unfehlbarkeit zum konstituierenden Bestandteil der Expertise erhoben wird: Damit eingelullt im Wohlmeinen, Gott oder die Wissenschaft werde schon wissen, was “das Beste” für ihn sei, überträgt der als von Intellektuellen dirigierter Wähler fortan jenen Technokraten die Vollmacht darüber, welchen Zwecken er zu unterliegen habe. Halbwegs entmündigt sowie auf überflüssige Genüsse abgerichtet, hört er auf, sich seinen eigenen Gesetzgebungen zu unterweisen: Statt frei wird er zum Bestandteil jener Maschinerie, deren Anpassungsforderungen ihm keinen Raum für die Entfaltung von Spontanität oder Orientierungsfähigkeit lassen.
Subtil und unterschwellig enthüllt sich ein Autonomieverlust, den das moderne Individuum nicht mehr als tiefgehende Kränkung, sondern als eine für “Ordnung” und “Sicherheit” in Kauf genommene Unabdingbarkeit hinnimmt. Wo die Leute einst Eier und Mist auf diejenigen warfen, die sie zu Objekten erklärten, erweist sich nun die Identifizierung mit den marktgängigen Verhaltensmustern als der letzte Halt; das einzig verbleibende Differenzierungssystem dem sie sich und ihre Beziehungen noch unterweisen können. Während dessen Absatzgebiet ihr Innerstes einnimmt, werden Kommunikationswege für diejenigen optimiert, die sich weder etwas zu sagen noch Interesse daran haben, mit dem Gegenüber in Verbindung zu treten als auch Fortbewegungsmittel für Menschen entwickelt, die die keinen Ort haben, an sie fahren können, weil sie keinen Ort haben, an dem sie zu Hause sind... Und obwohl das Individuum seelisch verkümmert und das Kollektiv dem zivilisatorischen Verfall entgegensteuert, kreieren Unterhaltungsindustrie und Massentourismus Fluchtwelten für diejenigen, die ohnehin so wenig gelebt haben, dass sie zu der Vorstellung neigen, sie würden niemals sterben. Ein nihilistischer Strudel ohnegleichen.
Das Angstfundament technokratischer Abhängigkeitsverhältnisse
Was wir hier erleben, ist mehr als eine Wertverschiebung oder ideelle Kursrichtung. Seit die Verbesserung der Dingstrukturen “für” den Menschen wichtiger geworden ist als die seiner selbst, haben die von ihm geschaffenen Dinge angefangen, ihn zu beherrschen, statt andersherum: Immer wiederkehrende Updates, Sollbruchstellen, sich permanent aktualisierende Newsfeeds sowie der unausgesprochene Zwang, Schritte, Kalorien oder Good Habits zu tracken – von jetzt an dirigiert nicht mehr der Mensch, wohin sich seine Gedanken, seine Zeit, ja seine allgemeine Aufmerksamkeit hinverflüchtigen dürfen, sondern der Markt, seine Entwickler und ihre Algorithmen.
Eine Dominanzumkehr, wie wir sie bislang nur aus der Beziehung Mensch–Natur und nicht Gegenstand–Mensch kannten. Während wir zusehends verstehen, dass Tier- und Naturreich unter unserem Fortschrittsdrang leiden, scheint dieser im Menschen Verdrängung und Rationalisierung hervorzurrufen. Aber wieso? Weswegen realisiert dieser nicht, dass jener ihn in seiner Entwicklung ebenfalls nicht mit einschließt? Und wieso reagiert er auf jene – bewusste wie unbewusste, direkte oder indirekte – Herabwürdigung auch noch mit Selbstbegrenzung? Warum lässt sich der Mensch noch immer technokratisch verwalten und in das bestehende Herrschaftssystem einspannen, statt neue Formen des Miteinanders zu suchen, in denen er sich freier entfalten könnte?
Die Antwort lautet (wie so oft): Angst. Während der größte Unterschied zwischen dem Mittelalter und heute darin besteht, die jeweiligen Ge– und Verbote nicht mehr der Bibel zu entnehmen, sondern dem wissenschaftlichen Konsens, ist der normative Einfluss auf das gesellschaftliche Miteinander nahezu identisch: Abtrünnigkeit ist gleichzusetzen mit dem Verlust gesellschaftlicher Anerkennung, sozialer Isolierung bis hin zur Identifizierung als Abweichender oder Feind. Anknüpfend an infantile Ängste vor dem Liebesverlust werden synthetische Ichleistungen geschwächt und jedes Streben nach politischen Alternativlösungen gelähmt. Erzeugt wird eine Stimmungslage der Unsicherheit, in der gerade zu danach gedürstet wird, von etwas oder jemandem aus jenem Nebel der Ungewissheit gerettet zu werden.
“Überall, wo Menschen der Kontakt mit Bildung vergönnt gewesen ist, spielen Fragen nach Engeln, dem Paradies oder der Hölle keine Rolle.” — Klaus Ungerer
Die gesellschaftliche Stimmungslage erlebt ein Momentum der Neuregelung, das noch zu keiner Zeit dazu genutzt wurde, den Einzelnen auf den Weg zu sich selbst zu geleiten. Vielmehr wird das sich zusehends verhärtende Entfremdungsfundament instrumentalisiert als auch übertüncht durch sowie zwecks falscher Glaubensbekenntnisse und Pseudoindividualität: Apokalyptische Prophezeiungen als auch kalte Kalküle und inhaltsleere Statistiken halten den Menschen solange im Außen, bis dieser vor lauter Rationalisierungsdrang sein Gefühl für Selbst– und Weltwirklichkeit verliert. Indem das immerwährende Dekret von oben das natürliche Moralempfinden des Menschen als “irrational” oder “nicht evidenzbasiert” abstempelt, tritt anstelle seines subjektiven Empfindens von Realität die Überzeugung einer objektiven Wahrheit und Letztgültigkeit. Sein Sinn für das Ganze wird folglich nicht erweitert, sondern in gegensätzliche Gruppierungen, Sphären des Bewusstseins sowie Akademisierungsgrade zerteilt.
Der Mensch wird so lange von sich und seinem Urteilsvermögen entfernt, bis es für ihn kein richtig und falsch mehr gibt – nur noch Anweisungen. Es wird ihm solange das Gefühl vermittelt, sein Können wäre unnütz bis inexistent, bis er früher oder später von selbst aufhört, sich als Individuum einbringen zu wollen: Ein inneres wie äußeres Abwerten der eigenen Stimme, dessen darauffolgende Selbstauffassung als klein und unbedeutsam fast jeden in ein Abhängigkeitsverhältnis rutschen lässt. Ein Herabsetzen auf persönlicher Ebene, welches schlussendlich nicht nur sicherstellt, dass ein jeder von den Aufbruchseuphorien rationaler Erkennisgrundlagen gepackt wird, sondern zugleich die Hingabe an humanistische Schwärmereien und somit den Kontrollentzug des techno–faschistischen Überwachungskults verhindert. Sowie das sukzessive Einfrieren jedes praktischen Erkenntnisinteresse die Teilnahmslosigkeit innerhalb jedes Miteinanders begünstigt, gleicht diese Phlegmatisierung dem – individuellen wie kollektiven – Auslöschen von Identität, Wert und Würde.
Der Gruppenzwang irrationaler Autoritäten
Dies alles bildet den idealen Nährboden für jenes Autoritätsverlangen, das gemäß Max Horkheimer auch als “bejahte Abhängigkeit”
bezeichnen werden kann. Für ihn ein grundsätzlich rationales Bedürfnis – solange es auf die Verselbstständigung des Abhängigen abzielt; beispielsweise im Sinne der Autorität liebevoller Eltern, kompetenter Lehrer oder Ärzte. Zu einem irrationalen Wollen werde es erst dann, wenn die Autorität primär um ihrer selbst willen gesucht wird: Erlischt auf beiden Seiten Bestreben danach, den “Vasall” zu emanzipieren, schlage die Idee von “Bildung” in Autoritarismus um. Ein diktatorischer Herrschaftsgeist, der nicht auf Pluralismus und Meinungsfreiheit aufbaut, sondern sich auf Gehorsam und Respekt gegenüber Autoritäten gründet.“Der Unterschied zwischen Diktatur und Demokratie ist, dass du in der Demokratie wählen darfst, bevor du die Befehle befolgst.” — Charles Bukowski
Die Dominanz des Autoritarismus ist folglich gleich einnehmend wie entmündigend. Allerdings fehlt ihm – im Gegensatz zum Totalitarismus – die ideologische Funktion. Er erbaut sich nicht auf Weltanschauungen, sondern “nach den Dimensionen Macht – Ohnmacht, Starrheit und Reaktionsunfähigkeit, Konventionalismus, Konformismus, mangelnde Selbstbesinnung, schließlich überhaupt mangelnde Fähigkeit zur Erfahrung"
. Insofern das Fehlen jener emotionalen Bindung an das vorherrschende System die “Mobilisierungsfähigkeit” der Bevölkerung einschränkt, benötigen autoritäre Regime demnach eine pragmatische statt affektgetriebene Vorgehensweise: Sie setzen auf das formlose Funktionieren von Mentalitäten. Solange diese nämlich als psychische Prädispositionen anzusehen sind, gilt es zuvörderst allgemeine Wertvorstellungen wie Nationalismus, Patriotismus, Modernisierung oder Ordnung im Menschen anzulegen.Schließlich wissen autoritäre Systeme, dass die an sie gebundenen Charaktere auf ein “schwaches Ich” gegründet sind: Da jeder Anflug von Individualität eine Schwächung des Konformismus bedeutet, zielen sie stets darauf ab, dem Menschen ein jede Möglichkeit zu nehmen, sich selbst näher zu kommen. Er soll sich mit “seinem Land” identifizieren, nicht mit seiner eigenen Person. Um seine Aufmerksamkeit von Innen nach Außen zu lenken, werden Führerkulte, Sündenböcke und Feinbilder installiert. Zugleich determiniert das Koppeln bestimmter “Schichtzugehörigkeiten” an ein zu erreichendes Bildungs– und somit auch Selbstbestimmungsniveau das Denken und Handeln ganzer Gesellschaftsgruppen. Nur so ist – und bleibt – der Bürger (unbewusst) angewiesen auf die Stromlinienförmigkeit des großen Kollektivs.
Gesamtgesellschaftliche Verblendungszusammenhänge
Es scheint demnach beinahe egal zu sein, ob Heiland, Hightech oder Allheilmittel des Menschen Sicht versperren: Wird ihm die Illusion einer immerwährenden Veränderung des Verständnisses von Existenz vermittelt, verliert er seinen inneren Halt und gleichsam jede Orientierung. Sobald er sich vollends auf seine soziale Situierung konzentrieren muss, ist er außerstande zu erkennen, dass nicht mehr die Religion das Opium ist, sondern die moderne Aufklärung. Geblendet von Etiketten und Pseudoinformationen sieht er nicht, dass dort, wo diese einst nichts als Leere und Unglück hinterlassen hat, heute ein Überhang an Materialismus all das überdeckt, was ihn ursprünglich von den bevormundenden Engen und Zwängen des Staates befreien sollte.
“Die Fakten preiszugeben heißt, die Freiheit preiszugeben. Wenn nichts wahr ist, dann kann niemand die Macht kritisieren, denn es gibt keine Grundlage, von der aus man Kritik üben könnte. Wenn nichts wahr ist, dann ist alles Spektakel.” — Timothy Snyder
Obgleich es tragisch ist, wie oft der Mensch gerade dann versklavt ist, wenn er glaubt, er sei frei, höre ich bei Zeiten auf, die Condition Humaine auf diese Veranlagung hin zu untersuchen: Insofern das Prinzip des gesamtgesellschaftlichen Verdummungsprozesses Expertokratien ebenso innezuwohnen scheint wie totalitären oder autoritaristischen Diktaruren, tendiere ich vielmehr zu der Frage danach, wie es manche Menschen schaffen, sich diesem – trotz gleicher Ausgangslage – zu entziehen? Wieso reagiert der eine auf Abschreckungsmechanismen mit Infantilisierung und Unmündigkeit, aber der andere mit Ungehorsam und Boykott? Wieso sind einige Menschen auf das Funktionieren des “Ordnungsstaates” angewiesen und die anderen bejubeln jeden seiner Aussetzer? Warum teilen sich Gesellschaften in Folgendende und Nichtfolgende, Angewiesene und Nichtangewiesene?

From the buttom up
Marx hat einmal gesagt: ”Radikal sein, heißt die Dinge bei der Wurzel nehmen. Und die Wurzel des Menschen ist der Mensch selbst.” Indem die moderne Zivilisation dem Menschen zwar die Möglichkeiten bietet, ein freies Leben zu leben, dieser aber außer Stande zu sein scheint, diese Chancen wahrzunehmen, sei dieser am Ursprung seiner materiell wie geistigen Armut als auch Selbstversklavung zu packen. Eine Erneuerung des Menschseins sowie des gesellschaftlichen Gefüges muss dementsprechend von einer Umleitung des Glaubens hin zum Zweifel ausgehen. Der erste Schritt zum Verschwinden jenes Herrschaftsanspruchs der Eliten ist folglich nichts weniger als eine skeptische, respektlose Einstellung des Bürgers gegenüber denjenigen, die meinen seine “realen” Bedürfnisse besser zu kennen als er selbst.
Dies erklärt auch die Tatsache, wieso beinahe alles dafür getan wird, nichts zu tun, was den zum Konsumenten erklärten Bürger seiner ureigenen Bedürfnisse bewusstwerden lassen könnte: Das Dogma von “der fortwährenden Entwicklung der Wissenschaft” hält sich nur solange, wie der Mensch an die von ihr hervorgebrachten “Errungenschaften” angewiesen ist. Oder anders gesagt: Solange der Kapitalismus sich von unserer Kaufkraft nährt, wird er schon dafür sorgen, dass unser Selbst- und Weltverhältnis vom Haben und nicht vom Sein bestimmt wird. Er wird die Welt ideell “bereinigen” und so unsere Vorstellungskraft und unser Weltbild auf sein Wesen, das Materielle reduzieren.
Egal wie nebulös die herrschenden Verhältnisse zuerst auch sein mögen: Letztlich sind wir diejenigen, die darüber entscheiden, was ihnen von Wert ist, was sie in der Welt gefördert sehen möchten und wohin sie als Gesellschaft zukünftig gerne gehen möchten. Die Beantwortung jener Fragen danach, wie teuer wir uns unsere Sicherheit erkaufen wollen oder wie viel Freiheit wir aufzugeben bereit sind, um Gesundheits-, Wirtschafts- oder Finanzsysteme zu “retten”, liegt in letzter Instanz immer noch bei uns. Wir können sie direkt, sprich basisdemokratisch lösen, oder uns dafür einsetzen, dass einzig jenen Leute die Entscheidungsgewalt innewohnt, denen wir auch das nötige Vertrauen entgegen bringen oder die erforderliche Kompetenz zusprechen.
Die erfolgreichsten Lösungen waren noch nie die des geringsten Widerstandes. Wollen wir eine Welt ohne Elitenverdacht und ohne Sachzwänge, müssen unsere wahren menschlichen Bedürfnisse so unaufhaltsam lebendig werden, dass sie jene nekrophilen Kräfte durchbrechen, die sich aktuell noch von ihnen bedroht fühlen.
Literatur(-empfehlungen):
Adorno, Theodor W. (2013): Erziehung zur Mündigkeit. 24. Auflage. Frankfurt am Main (Suhrkamp).
Horkheimer, Max (1987): Studien über Autorität und Familie. Forschungsberichte aus dem Institut für Sozialforschung. Reprint der Ausgabe Paris 1936. Lüneburg (Zu Klampen).
Illich, Ivan (1979): Entmündigung durch Experten. zur Kritik der Dienstleistungsberufe. Reinbek bei Hamburg (Rowohlt).
Marcuse, Herbert (1969): Aggression und Anpassung in der Industriegesellschaft. Frankfurt am Main (Suhrkamp).
"Es riecht nach Mensch" in: "Der Freitag/ Nr. 4/ 26. Januar 2017", S.21
Horkheimer 1987, S. 24
Theodor Geiger: Die soziale Schichtung des deutschen Volkes: Soziographischer Versuch auf statistischer Grundlage. Stuttgart 1932.