Lieber Gunnar,
wie oft muss man sich verabschieden, um den letzten Abschied Abschied sein zu lassen? Wie oft muss man sich sagen, wie gern man sich hat, damit man es endlich weiß? Wie oft muss man in die Akzeptanz gehen, um die Dinge wahrhaft akzeptieren zu können? Du und ich, wir für unseren Teil haben uns zu oft umarmt, uns zu oft verabschiedet, als dass ich hätte glauben können, dass unsere letzte Umarmung auch wirklich die letzte gewesen sein soll.
Jetzt frage auch ich mich: War es am Ende wirklich nicht genug? All’ die Gespräche – die ersten wie letzten –, die Anekdoten und philosophischen Imposanzien, die Spieleabende, Tänze, Buchempfehlungen, Witze und Lacher, die Freudentränen – wann wären sie «genug» gewesen? Gibt es so etwas überhaupt? Ein «Genug»? Und ist das Gefühl, die Dinge nicht bis zum Ende gelebt zu haben, überhaupt etwas so Schlechtes oder nicht vielmehr eine Ehrerweisung an denjenigen oder dasjenige, von dem man glaubt, Vergleichbares nie wieder erleben werden zu dürfen?
Du, lieber Gunnar, warst einfach immer zu «da», als dass ich mir hätte träumen lassen, du könntest irgendwann einmal nicht mehr «da» sein. Aber genau das bist du jetzt. Nicht mehr «da». Und seitdem diese Nachricht es geschafft hat, vollends zu mir durchzudringen, kommt der Schmerz in Schüben… Der Versuch, mir einzureden, auf genau diesen Moment vorbereitet gewesen zu sein, ist an der Realität meiner Gefühle gescheitert. Und so sollte die Selbsttäuschung, mir weismachen zu wollen, wie unbetroffen ich selbst doch sei, ich, die deinem Tod doch in Frieden und Akzeptanz begegnen wollte, wo ich doch «weiß», dass dieser nicht «das Ende» bedeutet und alles schon seine «Richtigkeit» haben wird, keine 24 Stunden anhalten, bis mir die Trauer um dich vollends den Boden unter den Füßen wegzog. — Eine Trauer, die deinem Tod zwar immer noch ohne großen Widerstand gegenüberzustehen scheint, die aber den Schmerz fühlt. Den Schmerz über die Lücke, die du hinterlässt und die du immer hinterlassen wirst. Es ist der Schmerz über die Unwiederbringlichkeit eines Freundes. Eines wahren Freundes, wie geliebten Menschen.
Denn genau das warst und wurdest du, lieber Gunnar: geliebt.
Nicht nur hast du Menschen in deinen Bann gezogen, du hast Freundschaften aufkeimen lassen, wo zuvor nichts war als Verlassenheit. Du hast Menschen zusammengebracht, als besäßest du eine innere Landkarte darüber, wer zusammengehört und wessen Einsamkeit sich gegenseitig aufzulösen vermag. Um dich herum passierte alles wie aus Zauberhand: Videos, Texte, Bücher, Interviews. Aber eben auch Begegnungen, Momente der Freude und Lebendigkeit. Grundsätzlich hattest du irgendwas an dir, das eine Atmosphäre der Leichtigkeit zu erschaffen wusste, selbst dann, wenn du selbst diese vielleicht gar nicht in dir trugst.
Nicht nur hörtest du jedem, wirklich jedem, bedingungslos zu; du wusstest dein Gegenüber auch auf eine Art emporzuheben, ohne dich zwangsläufig kleiner machen zu müssen. Damit warst du für mich, auch wenn du selbst dies vielleicht nicht immer von dir hast behaupten können, ein wahrer Menschenfreund. Und das im wahren Sinne: Genauso, wie du stets den Einzelnen im Blick hattest, als menschliches Gegenüber wie als Individuum im Abstrakten, ging es dir auch bei all’ deinen Tiefgängen, Fragen wie Reisen am Ende immer nur um eines: den Menschen.
Wie wollen wir leben? Worin besteht der Schlüssel zu einem gelingenden Leben? Und wie sähe ein menschenwürdiges Leben überhaupt aus? «Wohlüberlegt leben» (Thoreau) – ja was bedeutet es, wahrhaft lebendig zu sein? Wonach suchen wir überhaupt? Worum geht es uns bei all’ den Reisen? Den inneren wie äußeren. Fliehen oder suchen wir? Vor uns selbst oder den anderen? Uns selbst oder den einen Menschen, der uns zeigt, wie man “richtig” lebt? Was ist, wenn uns niemand außer uns selbst die Antwort auf die Frage geben kann, wer wir sind? Was ist, wenn die eigentliche Verdammnis darin besteht, uns auf jeder Reise mitzunehmen, und uns gleichzeitig immer weiter von uns selbst zu entfernen? Ist jede Reise am Ende nur ein Umweg von dem einzig wichtigen Weg: dem zu uns selbst?
Um Fragen wie diese sondierte dein Denken, vielleicht gerade zuletzt. Die Bahnen wurden enger, die Frage nach dem Sinn und der Bedeutung immer bedränglicher. Doch du scheutest keine Abgründe. Vielleicht, weil du selber um deine wusstest. Vielleicht hast du deshalb auch immer mehr an das Gute in jedem Menschen geglaubt, als auf seine Schattenseiten zu verweisen.
Freunde, intellektuelle Weggefährten, Leidensgenossen im Geiste? Wusste ich zwar selber nie so recht, was «wir» waren; was ich für dich war, geschweige denn, wer du am Ende wirklich warst, hast du mir auch gezeigt, dass es darum am Ende auch gar nicht geht und Überlegungen wie diese zu nichts führen. Ein wahrer Humanist versucht niemanden zu kategorisieren. Er nimmt den Einzelnen so wie er ist, jetzt, in diesem Moment. Und damit vielleicht auch für immer.
Wenn du «da» warst, lieber Gunnar, warst du immer im Moment. Oder du hast es zumindest versucht. Du wolltest im Moment sein. Um deine Zerrissenheit, deinen inneren Spagat zwischen persönlichem Glück und Verantwortung, Gemeinschaft und Alleinsein, eigenen Ansprüchen und Erwartungen im außen, wussten wir alle. Und es tat uns leid für dich. Dass du manchmal einfach nicht im Moment sein konntest.
Vielleicht warst du zu sehr Mensch, um an und in dieser Welt nicht zu verzweifeln. Ich mein, wie kann ein Mensch, der so viel denkt wie du, auch nicht? Eine Mischung aus Begeisterung und Verzweiflung – mit deiner Art deine Gedanken mitzuteilen, hast du in vielen Menschen etwas entfacht, das bis heute anhält. Auch in mir: eine Art Leidenschaft dafür, die Dinge in ihrer Tiefe verstehen zu wollen und den Kern ihres Leidens nach außen zu verkehren – ihn verstehbar zu machen. Dies und – nicht zu vergessen – den Mut für meine Freiheit und die Freiheit anderer einzustehen. Dafür und für so vieles mehr bin ich dir so dankbar, lieber Gunnar. Und ich wünsche mir für dich, dass du loslassen kannst, da wo du jetzt bist. Dass vieles auf einmal Sinn ergibt und du Frieden schließen kannst mit der Welt, so wie sie sich entschieden hat, ihren Weg zu gehen. Ich hoffe, da, wo du jetzt bist, gibt es die Leichtigkeit und die Liebe, von deren Bedingungslosigkeit wir die letzten drei Jahre so viel geredet haben.
Auf Dich. Und die Freiheit.
Ich bitte darum, diesen Text mit Nachsicht zu behandeln. Ich selbst habe lange mit mir gehadert, meine private Trauer um Gunnar nach außen zu tragen. Für mich jedoch hätte es sich nicht ganz stimmig angefühlt, auf diesem, am Ende eigentlich ebenfalls sehr privaten, Blog einfach weiterzumachen, als wäre nichts gewesen. Denn das ist es nicht. Es ist so viel gewesen. So viel Freundschaft, die ich mein Leben lang in Ehren halten werde.
(Die hier verwendeteten Bilder erblickten das Licht der Welt bereits auf Gunnars Instagram.)
Das war die schönste "Trauerrede", die ich je gelesen habe! Ich habe mitgefühlt und mitgeweint...
Auch wenn ich Gunnar nicht persönlich kennenlernen konnte, war er mir dennoch - wie vielen Anderen auch, zum Freund geworden. Ich fühlte, daß er eine feine Seele ist.
An ihm konnten wir/ich deutlicher denn je erkennen und spüren, daß wir alle zusammen eine MENSCHheitsfamilie sind. Immer verbunden, - ob wir uns kennen oder nicht, - ob wir uns fühlen, bewußt wahrnehmen...oder gerade nicht.
Denn im Grunde sind und suchen wir doch alle das gleiche.... "uns" - die LIEBE.
Sehr geehrte Frau Gebert,
großes Kompliment für diese schönen, starken und wahren Worte.
Diese. tun uns allen gut.
Danke dass Sie für mich diese Worte, Gedanken und Bilder finden.
Frank Ulbrich