Für Erich Fromm stellt der Sündenfall den ersten Akt des Ungehorsams dar. Es war das Nichtgehorchen eines Gebieters sowie Nichtbefolgen eines Gebotes, das Adam und Eva erstmals ihrer Mündigkeit hat gewahr werden lassen. Wenn auch unter Scham und Schande war dieser Akt des Wiedersetzens ihr erster Schritt in Richtung Freiheit und Unabhängigkeit. Diesen Mut, diese innere Revolte, scheint es zu brauchen, um dem blinden Dasein in autoritärer Vormundschaft und Gehorsam, kurz, der eigenen Angst vor der Freiheit, zu entkommen. Es braucht eine Entschlossenheit, sich nicht länger von toten, heteronom oktroyierten Ideen leiten zu lassen – den Entschluss, nicht länger betäubt und objektiviert sein zu wollen.
In Zeiten wie diesen scheint Ungehorsam notwendiger denn je. So meine Meinung. Ich weiß, dass diese Forderung das Gegenteil zur derzeitigen Mehrheitsmeinung darstellt. Gehorsam sei schliesslich das Gebot der Stunde. Nur durch Gehorsam, das strenge Befolgen der Maßnahmen kämen wir aus dieser Krise. Verstehen Sie mich nicht falsch, im Antlitz eines Notstandes mag es durchaus richtig sein, dem politischen Diktat zu folgen, um durch Planung größere Verluste zu vermeiden. Aber wie erkenne ich, wann der Notstand vorbei ist und das Mittel der Planung zum Selbstzweck verkehrt wurde? Wie erkenne ich, dass mein Gehorsam keinem weiteren Sinn mehr dient, als jemandem Kontrolle über mich zu verleihen?
Diesen Fragen möchte ich anhand von Erich Fromms Essayband “Über den Gehorsam” nachgehen. Was ist der Unterschied zwischen heteronomen und autonomen Gehorsam? Wie werde ich meinem Gehorsam gewahr? Wieso schaffen es, manche Menschen“aufzuwachen” und andere nicht? Wie entschließe ich mich dazu, frei zu sein? Und wann bin ich es wirklich? Existiert wahrhafte Freiheit überhaupt?
„Nur wenn der Mensch sich vom Schoß der Mutter und von den Geboten des Vaters befreit hat, nur wenn er sich als Individuum ganz entwickelt und dabei die Fähigkeit erworben hat, selbstständig zu denken und zu fühlen, nur dann kann er den Mut aufbringen, zu einer Macht nein zu sagen und ungehorsam zu sein.“
Gegen den Zwang, für das Leben.
Erst im gewahr werden der eigenen Stimme, dem Wiedererlangen von Sicherheit in die eigenen Ideen, Gedanken und Lebensentwürfe, lässt sich lernen, frei zu denken. Ungehorsam, so wie Erich Fromm ihn versteht, ist folglich keine „gegen etwas gerichtete Einstellung“, sondern vielmehr „eine Haltung, die sich für etwas einsetzt“. Während ich im Gehorsam gegenüber einer Person, einer Institution oder Macht fremde Entscheidungen anstelle meiner eigenen akzeptiere (heteronomer Gehorsam), ist der Ungehorsam die Bejahung der eigenen Vernunft, des eigenen Willens und der eigenen Freiheit (autonomer Gehorsam). Der Ungehorsam bejaht das eigene Leben.
Neben dieser lebenslangen Aufgabe der immerwährenden Selbsterkenntnis, scheint die Schwierigkeit des Ungehorsams allerdings darin zu liegen, erst einmal zu erkennen, dass man sich – egal ob ökonomisch, kognitiv oder emotional – in einer Abhängigkeit befindet: Erst wenn man sich der eigenen Hörigkeit sowie der ausübenden Gewalt dieses heteronomen Druckes gewahr wird, lässt sich auch hinterfragen, warum man diesen bislang ertragen hat. Der Casus knacksus hierbei ist nur, mit was man sich selbst konfrontieren müsse, um zu erkennen, dass so wie man jetzt lebt, nicht länger leben möchte. Ist es ein Gefühl, eine Erinnerung; ein Trauma?
Machtmissbrauch, Unterdrückung und Konformitätsdruck
Die Machtverhältnisse des Gehorsams konstituieren sich auf “der Voraussetzung, daß die Vielen lernten zu gehorchen”. Aufgrund unterschiedlichster Mittel der Angsterzeugung konnten sie ihres Mutes nicht mehr habhaft werden. Zu klein hat man sie gemacht, zu unwichtig hat man sie sich fühlen lassen. Es ist dieses Einimpfen eines heillosen Respekts vor der Konformität, die Angst davor, “anders” zu sein, aus dem Raster zu fallen, das uns jegliches Ausdrucksvermögen unserer Selbst beraubt. Im Erstarken von Ohnmachtsgefühlen merken wir nicht einmal mehr, dass wir gehorchen. Der Gehorsam wird zur neuen Normalität.
Wir sind von internalisierten Machtstrukturen durchdrungen. Unser Leben lang. Die Eigenart der Autorität vermag sich zu ändern, – abhängig ihrer Interessenlage jeweils andere Teile der Klaviatur bedienen, – aber wirklich frei und nach unseren eigenen Wünschen und Interessen leben, tun wir selten. Solange wir unsere eigenen Lebensentscheidungen nicht aktiv bejahen können, unserem eigenen Leben keinen eigenen Sinn verleihen können, sondern diesen stets von außen zugeschrieben bekommen müssen, wird unser Selbstwertgefühl, – das somit von anderen abhängig ist, – auf immer unsicher bleiben; nie unser eigenes werden.

Die Wiederentdeckung des “humanistischen Gewissens”
Gemäß Fromm’s Herleitung aus dem Garten Eden stellt der Ungehorsam eine Art Initialstörung dar: Die Ausgangslage für den Übergang in einen, der eigenen Vernunft und Überzeugung folgenden, „autonomen Gehorsam“. Erst im Abdrehen des „autoritären Gewissens“ und unserer internalisierten Stimme, gemäß der wir die Autorität zufriedenstellen und keinesfalls verärgern möchten, kann das „humanistische Gewissen“ in uns wieder Gehör finden.
Jenes humanistische Gewissen sei „die eigene Stimme, die in jedem Menschen spricht und die von keinen äußeren Strafen und Belohnungen abhängt“ (Fromm 1954, S.173). Es ließe uns als menschliche Wesen intuitiv wissen lässt, „was menschlich und was unmenschlich ist, was das Leben fördert und was es zerstört.“ Anders als das autoritäre Gewissen, das stets aus Sorge des möglichen Missfallens agiert, ist das humanistische Gewissen eine Reaktion unserer Gesamtpersönlichkeit „auf alle Fähigkeiten, die unsere menschliche und individuelle Existenz ausmachen“ und folglich „die Kenntnis über uns selbst, Kenntnis über unsere Erfolge oder über unser Versagen in der Kunst des Lebens“1. Das humanistische Gewissen „ist die Stimme, die uns zu uns selbst, zu unserer Menschlichkeit zurückruft.“ Erst indem sie, anstelle der heteronomen Gewalt, zum Teil der eigenen Identität wird, so Fromm, lernen wir, „wir selbst zu sein und selbständig zu urteilen.“
Wer allerdings sämtliche Intuition und Empfindsamkeit verloren hat, kann auch nicht herausfinden, wer er sei oder was er sein könnte. Angst und Macht führen zum Verlust unseres humanistischen Gewissens und berauben uns nicht nur jeglichen Gefühls und Urteilsvermögens dafür, „was menschlich und was unmenschlich ist, was das Leben fördert und was es zerstört“, sondern letzten Endes auch unserer Menschlichkeit selbst. Schlussendlich ist es das interdependente Verhältnis von Freiheit und Ungehorsam, das Angst zu unterbinden versucht und Mut unabdingbar macht. Insofern der Mangel an Selbstsicherheit sowie Glaube an den eigenen Selbstschutz, den Menschen vom Ungehorsam zu entfremden vermag, gilt es dezentrale Strukturen zu etablieren, die wiederum den Mut zur Selbstbestimmung und Autonomie eines jeden Einzelnen stärken.
Im Mittelpunkt steht der Mensch
Das Erklären gesellschaftlicher Zusammenhänge hinsichtlich einer Auflösung des „verkrüppelten Zustands des Menschen“ scheint nur möglich, richte man jegliches Reflexionsvermögen am Wohl des Menschen aus. Man müsse diesen „mit all seinen körperlichen und seelischen Eigenschaften“ begreifen. Es scheint, als könnten wir als Gesellschaft unser Miteinander erst dann wieder in ein „Orientierungssystem“ integrieren, wenn wir begreifen, wer wir sind. Oder besser noch: Wer wir sein wollen. Welchen Sinn und Welches Ziel soll unser Leben haben? Nur so könnten wir laut Fromm unsere Rolle innerhalb des “Gesellschafts-Charakters” wiederentdecken.
Theorien, „in deren Mittelpunkt der Mensch steht“, können „nicht länger eine Theorie ohne Psychologie bleiben“. Somit bleibt es allerdings auch unabdingbar, „jene besondere Struktur der psychischen Energie, die durch die jeweilige Gesellschaft so geformt wird, daß sie deren reibungslosem Funktionieren dient“ permanent zu hinterfragen. Sie gilt es, am Bewusstseinswandel des Menschen auszurichten. Unterwerfen wir diesen langfristig dem kalten Kalkül der Zahlen, verlieren wir das, was unsere Menschlichkeit ausmacht. Unser Gefühl.
„Je mehr eine Gesellschaft den Menschen verkrüppelt, um so kränker wird er, selbst wenn er auf einer bewußten Ebene mit seinem Schicksal zufrieden ist.“
Kulturelle Anreize können als Auslöser lang verdrängter Impulse des “gesellschaftlichen Unbewussten” jene sinn- und orientierungsstiftenden Werte von Gemeinschaft in uns wiedererwecken, die es bislang durch Ideologien zu ersetzen galt. So ließe sich erkennen, dass “die Freiheit”, die “dem gelangweilten, angsterfüllten, unglücklichen Menschen der heutigen Industriegesellschaft” suggeriert wird, nicht nur nicht seine eigene ist, sondern schlussendlich seine “Liebe zum Leben” unterdrückt.

Nur im Erkennen der “gesellschaftlichen Filter” von Sprache, Logik und Tabus und wie diese in Ideologien und ihren Rationalisierungen verschwinden wird ein Entkommen aus der “Angst der völligen Isolierung von seinen Mitmenschen” möglich. Sei es “der Menschen gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt”, gilt es, – um sämtlicher Fragmentierung entgegenzuwirken, – das “gesellschaftliche Unbewusste” in eine kollektive Bewusstwerden von Menschlichkeit zu wandeln: So befreiten wir uns nicht nur von unseren “Ketten”, sondern würden auch frei dafür, die Entwicklung unserer Fähigkeiten zu unserem letztendlichen Lebenszweck zu machen.
Ideologie trennt, Kultur verbindet.
Ideologien versuchen einen Alleingeltungsanspruch auf das zu erheben, was ihr zu Folge tugendhaft, korrekt und sinnvoll sei. Sie entfernen uns von unserem Intuitionsvermögen, erheben ein Monopol auf moralische Grundlagen. Sie sind durchtränkt von Pflichten, nicht von Freiheiten. Ideologien sind heteronom – fremdbestimmte, oft totalitäre, Wahrheitsansprüche, die uns auferlegt, ja eingeimpft werden. Sie erzeugen falsche “Wir-Gefühle”, erschaffen falsche Realitäten.
Kultur dagegen ist frei von Zwang. Sie folgt dem autonomen Gehorsam, unserem “humanistischen Gewissen”. Sie entspringt dem eigenen Gefühl dafür, was gerecht und sinnstiftend ist. Kultur können wir aus uns selbst erschaffen. In ihr entscheiden wir selbst darüber, nach welchen moralischen Prinzipien wir leben möchten.
Am Ende geht es darum, nie das Gefühl dafür zu verlieren, was es heißt, seine eigene Klaviatur zu bespielen. Was es heißt, man selbst zu sein.
Literatur(-empfehlungen):
Fromm, Erich (1954): Psychoanalyse und Ethik. Stuttgart, Konstanz: Diana Verl.
Fromm, Erich (1982): Über den Ungehorsam und andere Essays. Stuttgart (Deutsche Verlags-Anstalt).
Mausfeld, Rainer (2019): Angst und Macht. Herrschaftstechniken der Angsterzeugung in kapitalistischen Demokratien. Frankfurt am Main (Westend Verlag).
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Fromm 1954, S. 173
Ich fühle mich in der gleichen Lage, also ich bin mir bewusst. Deshalb bin ich auf der Suche nach mehr Erkenntnis hier gelandet. Aber wie weiter?
Ich bin gerade dabei aus einem komplett unbewussten Leben in ein bewussteres dasein zu treten aber Ich gehe noch sehr oft in meinem Kopf verloren. Jetzt weiss ich nichteinmal ob die Menschen um mich herum bewusst sind oder nicht. Das beschäftigt mich heftig