Die Entschulung des Individuums
Wie die Beschulung der Gesellschaft unsere Kinder zu Konformisten macht und wie wir uns diesem Seelenmord entziehen können.
Bildung ist seit jeher ein hoher gesellschaftlicher Wert, der über Perspektive, Wohlstand und Status entscheidet. Der hieraus erwachsene Wunsch nach Exklusivität, Hierarchisierung und Abgrenzung war es, der letztendlich Bildung zur Ware gemacht hat. Insoweit Bildung nämlich als ein an Noten, Zertifikaten sowie dem Rang der jeweiligen Einrichtung gemessenes Kapital gilt, kann sie einfacher verteilt sowie vorenthalten werden. Diese Kommodifizierung von Bildung stellt uns langfristig jedoch vor drei Probleme:
Das Lernen wurde durch die Institution Schule monopolisiert
Der Beschulte wurde seines eigenen Bildungsweges enteignet
Der Begriff der Bildung wurde seines Inhalts entleert.
Erstens: Die Institutionelle Monopolisierung von Lernen
Die moderne, materialistisch orientierte, Wissenschaft erhebt zusehends den Anspruch, alle Lebenszusammenhänge zu rationalisieren und somit dingbar zu machen. Indem sie der Natur infolgedessen jeglichen Zaubers beraubt, fragmentiert sie das Leben als solches. In ihrer Hybris erhebt sie eine Art Alleinanspruch auf das “Lüften” dessen, was wir als Wunder oder Mysterien des Lebens begreifen. So Ivan Illich, Philosoph und Autor des 1971 erschienenen Werkes über die “Entschulung der Gesellschaft”. Er schreibt: “Schulen beruhen auf der Vermutung, daß jedes Ding im Leben ein Geheimnis birgt; daß die Qualität des Lebens von der Kenntnis dieses Geheimnisses abhängt; daß man Geheimnisse nur in der richtigen Reihenfolge kennenlernen kann; und daß nur Lehrer diese Geheimnisse auf die rechte Weise offenbaren können”1.
Das Einführen des Schulwesens hat Bildung institutionalisiert und eine Vormachtstellung, ein Monopol auf das Lernen eingerichtet. Frei nach dem Motto:
“Kinder gehören in die Schule.
Kinder lernen in der Schule.
Nur in der Schule kann man die Kinder lehren”2.
Dem Beschulten wird weisgemacht, er lerne nicht durch das Leben, sondern für das Leben und dass das Lernen über die Welt in der Schule wertvoller sei als durch die Welt. Hierbei droht sich das Gefühl dafür zu manifestieren, dass das Wissen, was er sich außerhalb der Schule angeeignet hat, nicht wissenswert sei. Indem sich die Schule als einzig legitimer Wissenszugang darstellt, erscheint das, was nicht in der Schule gelehrt wird, als wertlos. Es entwickelt sich eine Angewiesenheit in der Verifizierung von richtig und falsch.
Diese (gewollte) Abhängigkeit von der Institution Schule hinsichtlich der eigenen Bildung initiiert auf Dauer bei dem Beschulten Minderwertigkeitsgefühle. Er sieht sich seines Bauchgefühls, seines Vertrauens in die eigene Wahrnehmung und Lebenserfahrung beraubt. Nach Ivan Illich scheint diese “Beschulung der Gesellschaft” ihrem eigenen Curriculum zu folgen:
Kinder sind keine Menschen. Sie sind nicht komplett, bzw. müssen noch reifen.
Kinder passen nicht von Beginn an. Sie müssen noch passend gemacht werden.
Die Teilnahme am Leben der Erwachsenen ist nur durch Beschulung möglich.
Ein Mensch ohne Schulung ist wertlos.
Nur ein Schulabsolvent kann ein vollwertiger Staatsbürger sein.
Zweitens: Die Enteignung des eigenen Bildungsweges
Kritisches Denken braucht Fantasie. Spricht man mir mein Vertrauen in meine eigene Wahrnehmung ab sowie jegliches Vorstellungsvermögen dafür, dass die Welt, in der ich lebe, auch anders sein könnte, so fällt es mir zusehends schwerer, diese zu kritisieren. Schließlich erfahren wir Identitätsstörungen auch nicht, weil es Selbstbegegnung gibt. Umgekehrt: Selbstbegegnung tritt nur deshalb ein, weil es eine Störung gibt3. Verwehrt man mir die Möglichkeit, auf Widersprüche zu treffen, beraubt man mich in letzter Instanz meines höchst persönlichen Individuationsprozesses.
Nun zielt die Beschulung der Gesellschaft jedoch darauf ab: Alle zu Beschulenden seien darauf auszurichten, sich in der Gesellschaft derer wohlzufühlen, die ebenfalls Erzeugnisse dieser Bildungsmaschine sind. Gleichzeitig ist ein Aufstieg innerhalb dieses Systems daran geknüpft, wie sehr man sich in einem früheren Stadium „als sichereres Risiko für die etablierte Ordnung“ erwiesen hat4.
Der Schulbesuch entfernt also das Kind von sich selbst, seinem Intuitionsvermögen. Er zieht es aus seiner Alltagswelt und stürzt es in eine Realitätsferne, die viel primitiver sowie von tödlichem Ernst ist5. Die Schule wird zu einer Enklave. Innerhalb dieser wird der Beschulte gelehrt, seine Hoffnungen durch Erwartungen zu ersetzen. Er wird nicht nur für jede Art institutioneller Planung konditioniert, sondern zugleich seiner Fantasie beraubt6. Diese sei schließlich, als bedrohlich anzusehen. In ihrer Endlosigkeit nicht greifbar.
Drittens: Probleme einer entleerten Bildung
Aus der Vergangenheit wissen wir, dass sobald eine Institution anfing, zu bestimmen, welches Wissen wertvoll und welches wertlos sei, was pädagogisch richtig oder falsch sei, kurzum, was “das Beste” für das Individuum sei, es brenzlig wurde.
Die Institutionalisierung von Bildung hat diese vom Selbstzweck zum Mittel degradiert. Indem somit Substanz durch Fortschritt ersetzt wurde, entstand eine Spezialisierung von Bildung, die ebenso uferlos erscheint wie der Profithunger, dem sie letztendlich nützlich sein soll. Indem die Schulbildung sich somit dazu herablässt, dem Apparat zu dienen, der ursprünglich ihr dienen sollte (und dies wiederum mit den Mitteln der Bildung rechtfertigt), entleert sie sich ihrer ursprünglichen Aufgaben und Zielsetzungen und wird schlussendlich immer nutzloser.
“Education was becoming institutionalised replacing substance with progress.”
“School is the advertising agency which makes you believe that you need the society as it is”
Die Schule gilt demnach als Garant dafür, dass unsere gesellschaftlichen Ordnungen, Einrichtungen und Vorstellungen fortbestehen. Es scheint beinahe so, als bereite die Schule, indem sie “die Notwendigkeit lehrt, belehrt zu werden […] auf die entfremdende Institutionalisierung des Lebens vor”7. Für Illich kenne diese Macht von Schulen, die gesellschaftliche Wirklichkeit aufzuteilen, keine Grenzen: Durch sie werde die Bildung weltfremd und die Welt bildungsfremd8. Indem jene Bürokratisierung der Schulbildung dem alltäglichen Leben Dinge entzogen und sie zu Lehrmitteln erklärt hat, wurde weltweit eine bildungsfeindliche Atmosphäre von der Schule auf die Gesellschaft erzeugt9. Somit hat sich die Schule schlussendlich selbst zu einem gesellschaftlichen Problem gemacht.
Die Schule
Wer die Schule hat, hat das Land.
Aber wer hat die bei uns in der Hand!
Du hörst schon von weitem die Schüler schnarchen.
Da sitzen noch immer die alten Scholarchen,
die alten Pauker mit blinden Brillen,
sie bändigen und töten den Schülerwillen.
Und lesen noch immer die alte Fibel
und lehren noch immer den alten Stiebel:
Wie in den alten Zeiten die wichtigen Schlachten
die großen Völkerentscheidungen brachten,
wie die Fürsten und die Söldnerlanzen
den großen blutigen Contre tanzen,
und ohne die heilige Monarchie
sei die Hölle auf Erden – und schließlich, wie
die Völker nur eigentlich Statisten seien.
Man müßte ihnen die Dumpfheit verzeihen.
Könnten eben nichts weiter dafür …
Und sie lernen vom Kupfercyanür.
Und von den braven Kohlehydraten.
Und von den beiden Koordinaten.
Und von der Verbindung mit dem Chrome.
Lernen auch allerhand fremde Idiome.
Ut regiert den Konjunktiv.
Polichinelle ist ein Diminutiv.
Und was so dergleichen an Stoff und an Wissen.
Himmelherrgott! ist die Schule beschmissen!
Seelenmord und Seelenraub!
Unter die Kruste von grauem Staub
drang auch kein Luftzug der neuen Zeit.
Der alte Schulrat im alten Kleid.
Wundert euch nicht! Was kommt aus dem Haus
schließlich nach Oberprima heraus?
Ein nationalistischer langer Lümmel.
Gut genug für den Ämterschimmel.
Gut genug für die alten Karrieren –
als ob die heute noch notwendig wären!
Türen auf und Fenster auf!
Lege deine Hand darauf,
lieber Herr Haenisch, und zeige den Jungen,
wie die alten Griechen sungen –
aber ohne die Philologie
und ohne die Kriegervereinsmelodie!
Wer die Jugend hat, hat das Land.
Unsre Kinder wachsen uns aus der Hand.
Und eh wir uns recht umgesehn,
im Handumdrehn,
sind durch die Schulen im Süden und Norden
aus ihnen rechte Spießbürger geworden.- Kurt Tucholsky
Die Entschulung der Gesellschaft
Solange das verborgene Curriculum des Schulwesens dem Schüler einimpft, ein verbessertes Leben könne einzig durch eine gesteigerte Produktivität sowie Leistungsfähigkeit geschaffen werden10, lässt es die Illusion entstehen, die Schule besäße als „reproduzierendes Organ einer Verbraucher-gesellschaft eine fast unangefochtene Immunität“11. Hinzukommt, dass viele Erzieher Unterweisung mit Benotung verbinden. Dies ließe Lernen und die Zuweisung gesellschaftlicher Bedeutung zu “Schulung” verschmelzen: Die Schule wird zu einem Ort, der weder Wissen noch Gerechtigkeit fördert12.
“Gleiche Bildungschancen sind in der Tat ein wünschenswertes und auch erreichbares Ziel; wer das aber mit Schulpflicht gleichsetzt, verwechselt die Erlösung mit der Kirche”13.
Die institutionalisierten Werte, welche die Schule vermittelt, sind in erster Linie quantitativer Art. Durch sie werden junge Menschen in eine Welt eingeführt, in der alles messbar und somit notwendigerweise auch zu hierarchisieren ist - Werte ebenso wie Menschen14. Die Bevormundung durch den Lehrer und seine Lehrpläne beraubt den Schüler folglich nicht nur seines individuellen Bildungsweges, sondern zugleich seines inhärenten Gefühls für Wertigkeit. Der Lehrer tritt nicht nur als Moralist in Erscheinung, sondern nimmt gleichzeitig die Rolle des Therapeuten ein, der sich dessen ermächtigt fühlt, in das Innenleben der Schüler vorzudringen15 und diesem ein Ideal von Moral, Mitgefühl und Solidarität einzuverleiben. Indem er meint, wissen zu können, was das Beste für seinen Zögling sei, enteignet er ihn seiner Selbstbestimmung. Seiner Würde.
Das Endergebnis von all dem ist:
Ein Fließbandsystem von Wissen
Ebenfalls wie Fließbänder behandelte Kinder, die trotz all dem „Lernen lernen“ und der „Kompetenzorientierung“ von sich selbst wie auch von ihrem eigenen Lernen und ihrem eigenen Bildungsweg vollends abgespalten sind.
Diese Unfreiheit im Denken und Handeln entspricht keineswegs einer geistigen Emanzipation, sondern vielmehr einer Art sozialem Determinismus, der in der Deindividuation seines Systemkonformismus vielmehr „zu Umwelt-verschmutzung, sozialer Polarisierung und psychologischer Impotenz führt“16.
Insofern somit nicht nur die Erziehung, sondern die gesamtgesellschaftliche Wirklichkeit verschult wurde, bedarf auch nicht nur das Bildungswesen, sondern die Gesellschaft als Ganzes der „Entschulung“17.
Entschulung als Grundvoraussetzung jeder Befreiung des Menschen18.
Wie wäre es, gebildet zu sein?
Leider scheint es so, als verfüge weder diese Hierarchisierung der Gesellschaft noch die Ideologie der Schulpflicht über logische Grenzen19. Doch wie kann man künftige Generationen vor diesem Seelenmord bewahren? Wie schaffen wir es, dass nicht noch eine weitere Generation, fremdbestimmt und materialistisch orientiert aufwächst?
“Die Schule lehrt uns, daß Unterweisung Lernen produziere […]. Kommt der Autodidakt in Verruf, so werden alle nicht berufsmäßigen Tätigkeiten verdächtig. In der Schule lehrt man uns, daß wertvolles Lernen das Ergebnis von Schulbesuch sei; daß der Wert des Lernens mit dem Einsatz steige, und daß sich dieser Wert an Graden und Zeugnissen messen und nachweisen lasse. Tatsächlich ist Lernen diejenige menschliche Tätigkeit, die am wenigsten der Manipulation durch andere bedarf. Das meiste Lernen ist nicht das Ergebnis von Unterweisung. Es ist vielmehr das Ergebnis unbehinderter Teilnahme in sinnvoller Umgebung. Die meisten Menschen lernen am besten, wenn sie «dabei sind». Trotzdem zwingt sie die Schule, ihr persönliches, kognitives Wachstum mit komplizierter Planung und Manipulation gleichzusetzen”20.
Mehr als je zuvor gilt es heute, unter Bildung kein “Eintrichtern” mehr zu verstehen. Stattdessen sei vielmehr das Bild eines lernenden “Gewebes”, eines auf Austausch und Interaktion ausgerichteten marktplatzähnlichen Beziehungsgeflechts, zu etablieren21. Hierzu nützt es auch nichts, Lernmittel und Lernstoffe aufzustocken, die lediglich die Einstellung der Lehrer zu ihren Schülern erneuern oder den Schülern gar noch mehr Verantwortung für ihre eigene Lebensführung abnehmen. Die Bildung ist stattdessen in einem umfassenderen Sinne neu zu definieren: Es geht darum, der Schule ihr Alleinrecht auf Begegnung zu entziehen und somit Möglichkeiten zu schaffen, um jeden Augenblick des Lebens „in eine Zeit des Lernens, der Teilhabe und Fürsorge zu verwandeln.“22. Unabhängig von der Institution Schule.
Beruhend auf der These, dass Bildung für alle auch Bildung durch alle bedeutet23, gilt es für ein schöpferisches und forschendes Lernen diejenigen zu Partnern zusammenzuführen, die von denselben Begrifflichkeiten bedrängt werden24. Diese Gleichgesinntheit fördert nicht nur die eigene Selbstidentifikation, sondern zudem auch das Gefühl, mit den eigenen als notwendig erscheinenden Ergründbarkeiten im Leben nicht allein zu sein. Und dies vollends frei von der Anwesenheit jeglicher Autorität, „die den Teilnehmern den Ausgangspunkt ihrer Diskussion erklärt“25.
Mit der Erkenntnis, dass Bildung - im Gegensatz zur Schulung - nicht an Lehrer gebunden ist, sei innerhalb dieser erweiterten Vorstellung von dem, was wahre „Bildung“ bedeuten könne, jeder von uns für seine Entschulung selbst verantwortlich26. Ivan Illich schlägt somit vor, das neue Lernsystem wie ein dezentral organisiertes Netz zu gestalten, indem dieses vier Zwecken dient:
Barrierefreiheit zu allen Institutionen, die das Monopol auf Lernen ausüben
Garantie auf Freiheit, „Fertigkeiten auf Wunsch zu lehren oder auszuüben“27
Institutionelle Entmonopolisierung auf Wahrheit sowie das Freilegen schöpferischer Fähigkeiten
Das Finden des höchst individuellen Bildungsweges sollte von gesellschaftlichen Erwartungen und Verpflichtungen losgelöst sein (Selbstbestimmung)
“Wenn Bildung keine Ware mehr ist, wenn Wissen keine Verpflichtung mehr ist, können wir als Menschen endlich die Kraft des Lernens annehmen.”
Literatur(-empfehlungen):
Anders, Günther (2002): Übertreibungen in Richtung Wahrheit. Stenogramme, Glossen, Aphorismen. Hg. v. Ludger Lütkehaus. München (1472).
Illich, Ivan (1976): Entschulung der Gesellschaft. Entwurf eines demokratischen Bildungssystems. Reinbek bei Hamburg (Rowohlt).
Illich, Ivan (2002): Deschooling Society. London (Marion Boyars).
Tucholsky, Kurt. Werke 1907-1935. In: Die Weltbühne, 24.07.1919, Nr. 31
Und wenn du mir etwas spenden möchtest, damit ich weiterhin bei Tee und guter Laune lesen und schreiben kann, nutze gerne Paypal oder schreib mir.
Illich 1976, S. 84
ebd., S. 39
Anders 2002, S. 45
Illich 1976, S.47
ebd., S. 45
ebd., S. 51
ebd., S. 58
ebd., S. 38
ebd., S. 23
ebd., S. 82
ebd., S. 83
ebd., S.26
ebd., S. 25
ebd., S. 52
ebd., S. 44
ebd., S. 17
ebd., S. 18
ebd., S. 58
ebd., S. 25
ebd., S. 51
ebd., S. 11
ebd., S. 15
ebd., S. 36
ebd., S. 32f.
ebd., S. 34
ebd., S. 59
ebd., S. 109