Der Reiz von «Spiritualität» verfliegt, sobald uns niemand mehr zuhört, wenn wir von ihr sprechen. So zumindest das Bild, das die moderne Wohlfühl- und Wellness-Spiritualität vermittelt: Sie dient nicht mehr der Erkenntnis, der Annäherung an eine tiefere Wahrheit, sondern unserem Ego. — Dem, was sie eigentlich auflösen sollte.
«Der Geist wird erst frei, wenn er aufhört, Halt zu sein.» — Franz Kafka
Das Geschäft mit der Hoffnung
Vom Motivationscoaching zum Selbstliebe-Workshop: Der Markt für Persönlichkeits-entwicklung boomt. Doch war es früher noch die Reise in den indischen Ashram, bucht der «Suchende» heute Seminare für sein «Soulupdate». Unter dem Motto «Alles ist möglich, wenn du nur daran glaubst» entsteht die Vorstellung, es hänge allein vom «richtigen Mindset», also unserer Bereitschaft, in uns zu investieren, ab, ob wir unsere Ziele erreichen oder nicht. Der dabei entstehende Strudel finanzieller Verschuldung samt seinen fast zwanghaften Reinungsritualen als eine Art moderner Ablasshandel wird dabei meist ebenso vernachlässigt, wie die Frage danach, inwieweit uns all dies letztendlich dorthin führt, wo wir eigentlich hinwoll(t)en – zu uns selbst.
Und das ist auch das Problem: Dem Einzelnen zu wahrer Erkenntnis zu verhelfen, rechnet sich nicht. Insofern ein Coach als moderner «Guru» von der Sehnsucht und Unzufriedenheit seiner Kunden profitiert, ist dieser auch nicht daran interessiert, diese zu erfüllen, bzw. aufzulösen, sondern erzeugt stattdessen fortwährend neue. Mit dem Versprechen von Freiheit, innerer Ruhe und spiritueller Erfüllung erweckt er nicht nur Gefühle des Mangels, sondern präsentiert sich obendrein als «Schlüssel», diese zu beheben. Er generiert Abhängigkeiten, in denen jedes «Scheitern» dem Betroffenen selbst angelastet wird: Gefangen in der vermeintlichen Endlosschleife seines Unterbewussten, in der immer wieder neue «Widerstände» auftauchen, die es mittels Abschluss eines weiteren Seminars zu überwinden gilt, findet sich der – zum Kunden verkommene – «Schüler» in einer Art Schuldumkehr wieder. Frei nach dem Motto «wenn es für mich möglich war, ist es für dich auch möglich» gilt: Wer Kritik übt, projiziert seine Themen. Und wer versagt, hat nur noch nicht genug «geheilt».
Was hierbei entsteht, ist nicht nur eine Verkehrung von Mittel und Zweck, sondern auch das Entstehen von sektenähnlichen Strukturen, deren Anhänger das Problem nicht erkennen: Denn sobald ihr Konsum spirituell aufgeladener Praktiken und Zusammenkünfte nichts weiter befördert als einen materiellen Solipsismus, verkörpern sie schlussendlich auch das Gegenteil von dem, was sie vorgeben zu sein: Gefangene ihres eigenen Egos.
Die Stagnation der Komfortzone
Viele Menschen neigen dazu, auf komplexe Fragen einfache und schmerzlose Antworten zu suchen. Das ist soweit nichts Neues. Weshalb diese Art von Lösung jedoch ausgerechnet für den spirituellen Weg nicht zu gelten vermag, machte der Buddhist Chögyam Trungpa bereits 1975 in seinem Buch vom «Spirituellen Materialismus» mehr als deutlich: Der spirituelle Weg, so Trungpa, sei ein sehr schmerzhafter Weg, der kein Zurück biete. Sein Sinn bestünde nicht nur darin, Dinge zu tun, die sich «gut anfühlen», sondern die eigene Komfortzone zu verlassen und stattdessen Unbequemlichkeit ins Leben zu bringen. Es gehe darum, Dinge zu tun, die uns keinen Spaß bereiten und zu lernen, auch diese Praktiken mit Intensität und Freude zu tun. Die Aufgabe des Gurus sei es hierbei, dafür zu sorgen, dass es seinen Schülern nicht «zu gemütlich» wird, auch nicht in seiner Beziehung zu seinem Lehrer. Die Meisterschaft des Gurus bestünde darin, wachzurütteln, einen auf die eigenen Schwächen hinweisen und dabei zu helfen, über selbst gemachte Grenzen und Selbstbilder hinauszuwachsen – sie aufzulösen, anstatt neue anzulegen. Ein wahrer Guru sei Wegbegleiter, nie die Reise selbst.
Folglich bezeichnete Trungpa schon damals, in den frühen Siebzigern, die aufkommende Selbstfindungsindustrie als Weg, sich nicht mit den Dingen auseinanderzusetzen. Spiritualität, so betonte er immer wieder, bedeute Langfristigkeit, und nicht das kurzfristige Einüben der Akzeptanz eigener Fehler. Die Gefahr dieses «Spirituellen Materialismus», wie er ihn treffend bezeichnet, bestünde darin, dass er einem das Gefühl vermittle, man sei auf «der richtigen Seite». Man selbst habe «die Wahrheit» erkannt und besäße damit etwas, was alle anderen nicht hätten. Diese Bestätigung der eigenen Einmaligkeit führe dazu, mit dem eigenen Wunsch nach Befreiung solange in dem Komfort seiner Gemütlichkeit stecken zu bleiben, bis jeder Wille, ernsthaft an sich zu arbeiten und eine authentischere und transformative Beziehung zu seiner spirituellen Reise zu entwickeln, erlischt.
Damit bestand der Verrat an der Spiritualität für Trungpa nicht allein darin, dass man sie zu einem «Ding» verkommen ließ, sondern obendrein anfing, ihre Praktiken und Überzeugungen – als auch die Beziehung zum eigenen Guru – als Bestätigung oder Mittel zur Stärkung des eigenen Egos oder zur Erzielung persönlicher Vorteile zu nutzen, anstatt sich aufrichtig und demütig mit ihren Lehren auseinanderzusetzen. Unser Ego, erklärt Trungpa, neige dazu, spirituelle Lehren zu «verzerren», indem es sie in ein Streben nach außergewöhnlichen Erfahrungen, Kräften oder Leistungen verwandelt. Insofern wahres spirituelles Wachstum jedoch das Loslassen von ego-getriebenen Wünschen bedeuten würde, könne nur ein tiefes Verständnis für die Natur des Geistes uns dabei helfen, unser Ego zu konfrontieren und den Holzweg der reinen Selbstverbesserung oder Selbstverherrlichung zu verlassen und stattdessen den Pfad der (Selbst-)Transzendenz beschreiten.
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Warum fliehen wir? Der Schmerz der Selbstentblößung
Den Grund unserer Flucht ins Materielle glaubte Trungpa in der Tatsache zu erkennen, dass unser Ego nicht als feste Einheit existiert und wir im Grunde mit uns selbst alleine sind. Um uns diese Tatsache nicht eingestehen, geschweige denn, uns mit ihr auseinandersetzen zu müssen, produzieren wir fortwährend Gedanken, Erinnerungen und Emotionen. Wir glauben: Solange wir nur immer beschäftigt sind, können wir den Umstand unserer Ichlosigkeit nicht erkennen. — Solange, bis wir vor lauter Beschleunigung die Realität selbst verdrängen: Anstatt die sich verändernde Natur der Dinge wahrzunehmen, springen wir wahllos von einer Sache zur nächsten; und anstatt die grundlegende Unzufriedenheit in und mit uns selbst anzuerkennen, überdecken wir sie durch die Annehmlichkeit unserer Erwartung, dass das Nachahmen von Lehren schon ausreichen werde, all unsere Probleme zu lösen.
Das Eingeständnis, sich auf keinen Retter oder die magische Kraft yogischer Techniken verlassen zu können, und stattdessen selbst an unserem Leiden arbeiten zu müssen, ist demaskierend und schmerzhaft. Laut Trungpa aber brauche es genau diese Enttäuschung. In ihrer Beleidigung zwinge sie uns dazu, unser Ich, unsere Leistung, aufzugeben und eröffne uns den Weg wahrer Erleuchtung als Frage der Tibeter nach «Bodhicitta» — der selbstlosen Entschlossenheit, das Ziel der Erleuchtung nicht um unserer selbst willen zu suchen; sondern zum Wohle aller anderen Lebewesen. Erst dort, wo wir unser Ego haben fallen lassen, könnten wir aus echtem Mitgefühl und Verständnis handeln. Jeder Atemzug vor dieser Bewusstwerdung war spiritueller Materialismus, das Polieren des eigenen Bildes. Das aber sei das wahre Gold. Denn wäre der spirituelle Pfad nicht schmerzhaft und langwierig, wäre er wie alles andere, das wir kaufen und verkaufen können. Dabei ist das die wahre Illusion.
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Leseempfehlungen:
Chögyam Trungpa (2011): «Spirituellen Materialismus durchschneiden»
Shamar Rinpoche (2023): «Lojong. Der buddhistische Weg zu Mitgefühl und Weisheit»
Mitten ins Schwarze getroffen! Es wird ein Zustand angestrebt, den es auf Erden kaum geben wird, die komplette Befreiung von allen Kümmernissen. Somit bleibt vieles ein kostspieliges Abonnement für die tägliche Hoffnung ohne nennenswertes Ergebnis. 'Und immer wieder grüßt das Murmeltier!'
(Ein wunderbarer alter Film.)
Vielen Dank für diesen treffenden Beitrag.
"Spiritualität" ist in aller Munde. Einerseits bei jenen Menschen, die in der Krise stecken und sich durch ein spirituelles Erwachen den Ausweg von den psychischen und physischen Schmerzen erhoffen, auf der anderen Seite die (Hobby) Esoteriker und Pseudo-Gurus, die mit Euro-Zeichen in den glänzenden Augen und größtönenden Versprechen die Hilfesuchenden mit weiten Armen empfangen. Oftmals habe ich das Gefühl, in letzterer Gruppe gibt es nicht nur einen "Heilsbringer", der sich "den einen Ring" so sehnlichst herbeiwünscht, um die Hilfesuchenden zu knechten, sie alle zu finden,
ins Dünkel zu treiben und ewig zu binden und so den Geldstrom unendlich anschwellen zu lassen.
Aber wer ist der Täter und wer das Opfer?
Gerade beim Markt der "Spiritualität" zeigt sich doch wieder einmal wunderbar das alte Marketing-Gesetz von Angebot und Nachfrage.
Das gewöhnliche, konditionierte Schaf kommt irgendwann mal im Leben an einen Punkt, an dem eben nicht mehr eitel Sonnenschein herrscht. Konditioniert hoch 3 und noch immer linientreu gutgläubig, erwartet es, dass es auch für die Schmerzen im eigenen Leben eine Pille, Formel, Schulung, Verfahrensanweisung, Gesetz oder sonst einen Scheiß gibt. Die einen geben sich der Pharma-Mafia und en legalisierten Giften hin, andere versuchen ihren Platz im Paradies zu erkaufen und verfallen den manipulativen, kontra-spirituellen Worten und Praktiken der Religions-Mafia hin und wieder andere "Sheeple" kaufen sich das individuelle, "customized" Paket bei Irgendeiner oder Irgendeinem, der vermeintlich den Weg zur Erlösung gefunden hat.
Als besonders perfide empfinde ich hierbei die Gattung der Influencer. Auch das ist doch nichts anderes als eine neue Form der "Coaches". Irgendwelche Vollpfosten erzählen irgendwelchen Schafen, mit welchen völlig bescheuerten Verhaltensweisen, Konsum- und Luxusgütern man zu vermeintlichem Erfolg und Erfüllung kommt.
Wie bescheuert ist diese Welt nur geworden?
Egal was auch immer und welchen Weg auch immer, das gewöhnliche Schaf sucht die schnelle, bequeme Lösung: "Pille rein und gut is", eine Formel oder ein Ritual auswendig gelernt und alles löst sich in Wohlgefallen auf, etwas unnötiger Luxus und schon strahlt die Sonne im Leben und aus dem Hintern.
Aber ist das denn ein Wunder, bei all den Versprechungen, Verlockungen und der Gehirnwäsche durch Eltern, Lehrer, "Freunde", Pfaffen, Priester, Professoren, Vorgesetzten, Ärzte, Politiker, Banker und den ganz dunklen Mächten, die sich für eine Elite und die Strippen vermeintlich in der Hand halten.
Solange die Schafe noch an die "Wunderpille" glauben, solange werden sich die ganzen Hobby-Esoteriker und Pseudo-Gurus ins Fäustchen lachen, vergessen dabei aber in den (wie ich immer wieder mit einem Schmunzeln feststelle) meisten Fällen selbst das Karma - und "Karma is a bitch!"
Ja, spirituelles Erwachen tut weh! Aber ECHTES Erwachen ist noch viel schmerzhafter. Für mich ist die ganze "Spiritualität" - und was der Einzelne auch immer darunter verstehen mag- nur der erste Schritt. Zum ECHTEN Erwachen gehört eine komplette Veränderung der Weltanschauung und vor allem SELBSTÄNDIGES Denken, ALLES hinterfragen, sich selbst einen Reim auf die Dine machen und das ist noch wesentlich schmerzhafter, denn in der Folge möchte man nur noch schreiend durch die Welt laufen, erdrückt von den Schmerzen durch das eigene Unverständnis für diese verblendete Blödheit der gehirngewaschenen und manipulierten / manipulierenden Gesellschaft.
Die Wahl zwischen blauer und roter Pille muss jeder für sich selbst treffen. Das braucht Mut, die Konsequenzen der roten Pille sind lebensverändernd und ultimativ. Diese Entscheidung ist digital, alles oder nichts, rot oder blau, schwarz oder weiß. Graue Nuancen und Zwischentöne gibt es nicht, und wenn mal erst einmal die rote Pille geschluckt hat, dann muss man den Weg, seinen eigenen Weg, auch (alleine) gehen. Pauschallösungen gibt es dann nicht mehr, ein Schritt führt zum nächsten und jeder Schritt führt weiter von der Schafsherde weg.
Wer dann Zugang zu höheren Frequenzen und Daseinsformen hat und Erklärungen / Hilfestellungen "von höherer Stelle" bekommt, kann sich glücklich schätzen, für die "normal" Erwachenden bleibt es ein steiniger Weg, zumal der Zugang zu unverfälschten Informationen und Daten immer schwieriger wird. Daher sind Plattformen wie diese hier und der Austausch mit "Gleichgesinnten" in meinen Augen so ungemein wichtig.
In diesem Sinne, nochmals danke für diesen Artikel hier und Deine Arbeit, welche Du da reingesteckt hast.