Es geht ein Riss durch die Welt und ihre Herzen. Aus Sorge, dass der Mensch sich selbst nicht aus dem Blick verliert, trägt der Romantiker sein Gefühl auf der Zunge und sich selbst zu Grabe. Gibt es keinen anderen Weg, mit unserer Zerrissenheit umzugehen? Wo bleibt das «Dazwischen», die Grenze zwischen Licht und Schatten? Ein Aufruf zur transzendentalen Vernunft.
Was hält die Welt in ihrem Innersten zusammen? Kaum eine andere Frage hat die Philosophie je so beschäftigt, und tut es noch. Atome, Materie, die gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse, unser Verstand, das Bewusstsein, die Ideen? – Welchen Bewegungskräften unterliegen wir? Werden wir von etwas durchströmt, oder durch etwas gesteuert? Der Streit um die Urfrage, das Sein alles Seienden, fand seinen Höhepunkt gegen Ende des 18. Jahrhunderts, als sich in Deutschland, genauer gesagt in Jena, eine Strömung entwickelte, die man später Idealismus nennen sollte. Seine Akteure, unter ihnen die Philosophen Hegel, Schelling und Fichte sowie die Dichter Schiller, Hölderin und Novalis, träumten davon, dem Leben mehr Bedeutung zu verleihen und die edle Ruhe gegen ein Leben voll tieferer Empfindungen einzutauschen. Sie wollten sich nicht länger auf die Wahrnehmung und Urteilskraft anderer verlassen, sondern machten es sich zur Aufgabe, die Dinge selbst zu untersuchen.
Gemeinsam mit ihren Gefühlsverwandten, den Romantikern, vertraten sie die Ansicht, dass die Welt immer kälter werde und ihre Bewohner seelisch verarmten. «Der Lärme von Vernunft und Wissenschaft» mache die Menschen taub für den Traum, die Fantasie, das Unbewusste. Nicht nur bezweifelten sie, dass der Fortschritt immer das «Bessere» mit sich bringe; den Widerspruch von rauer Verstandesherrschaft und der Verletzlichkeit des Einzelnen empfanden sie als Epochenkrise. Die Vernunft, so schlussfolgerten sie, habe Europa in den Abgrund geführt: Nicht genug, dass ihr Ausdifferenzieren all dessen, was zuvor noch als Eins galt, das Gefühl für «die großen Zusammenhänge» zerstörte — indem sie die Religion in das Reich der weltfremden Spinnerei verbannt, Spiritualität unter dem Eindruck der Aufklärung als Geisterseherei denunziert und die Natur ebenfalls zum Gegenstand unserer Bemächtigung erklärt hatte, verwehrte sie dem Menschen jede «Ahnung» seiner eigensten «Innerlichkeit».
Konfrontiert mit der beidseitigen Verlorenheit einer Welt, aus der alles Göttliche zugunsten einer vermeintlich allwissenden Verstandeskraft verschwunden war, unternahmen die Romantiker und Idealisten den Versuch, eine Welt wieder zu verzaubern, die von den Naturwissenschaften gänzlich entschleiert worden war. Selbst den Glauben an die nüchterne Vernunft vollends verloren, sahen sie ihre einzige Hoffnung auf ein «Einschwingen» in das Weltganze darin, die Beschränktheit der bisherigen Aufklärung aufzubrechen und das Gefühl ins Denken aufzunehmen. Als eingefleischte Individualisten strebten sie nach Heilung jenes Bruchs, den ihrer Ansicht nach jeder Mensch in sich selbst erlebt — und an deren Wunden sie oft selbst zerbrachen. Denn so sehr die Romantiker das Geheimnisvolle, die Waldeinsamkeit und ihre äonenvergessene Melancholie auch liebten, durfte es aus Sicht der Aufklärer nicht einmal mehr die Grenze zwischen Licht und Schatten geben.
«Wo keine Götter sind, walten die Gespenster» — Novalis
Denn bestand das Anliegen der von Schelling und Hegel um die Jarhundertwende geprägten Naturphilosophie noch darin, dem mechanistischen Paradigma einer einheitlichen Deutung von Geist und Materie die Auffassung einer lebendigen Wirklichkeit entgegenzusetzen, mussten auch sie sich bald eingestehen, dass ihr Gedanke von der konstitutiven Rolle eines bewussten Erkenntnis-Subjekts seine Wirkmächtigkeit bereits einbüßen musste, als Julien Offray de La Mettrie 1748 den Menschen endgültig zur «Maschine» erklärt hatte. Die Welt und der Blick auf ihre Teilnehmer hatte sich verwandelt: Das Herz in seinem Streben nach Geborgenheit und Vertiefung hatte gegen den Kopf und seine Suche nach systematischen und logischen Erklärungen verloren und unterlag fortan dem Systematisierungsdrang einer kaltgewordenenen Verstandesklasse. Spätestens mit den von Francis Bacon und René Descartes entworfenen Wissenschaftstheorien beginnt sich eine Welt durchzusetzen, in der der Mensch als solcher keinen Platz mehr hat.
In einer Welt jenseits von Wille und Vorstellung galt dieser fortan nicht nur als losgelöst von Philosophie und Poesie in ihrer spirituellen Funktion; in seiner Abkoppelung vom Religiösen verwehrte sich der Mensch auch jede Wiederverbindung zur Natur und damit zur Schöpfung selbst. Mit ihr, der Natur, müsse sich der Stadtmensch, so die Diagnose der Idealisten, wieder versöhnen, um ein vollständigeres Wesen zu werden. Ihren mythischen Zustand der Harmonie, die interne Einheit von Geist und Materie, wollten sie wieder «auf den Begriff» bringen. Sie galten damit gleich als doppelt weltfremd: Nicht nur ihre Meinung, dass das «Wahre» nicht im Intellektuellen zu finden sei, sondern allein die Verbindung von Dichtung, Ästhetik und Philosophie dazu in der Lage wäre, dem Menschen dahingehend bei seiner Sinnsuche zu helfen, seinen Gefühlen mehr Ausdruck zu verleihen, sondern auch ihr Gerede von dem «Unvordenklichen» (Schelling), einem Befinden, das rational weder erklärt werden könne, geschweige denn überhaupt in Worte zu fassen sei, traf auf nichts als Widerstand. Einen Widerstand, ausgelöst durch das genaue Gegenteil, gegen das er sich wehren zu müssen meinte: einen Mangel bzw. einen Überschuss an Gefühl.
«Die Mythologie muss philosophisch werden und das Volk vernünftig. Und die Philosophie muss mythologisch werden, um die Philosophen sinnlich zu machen.» — Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus, verfasst von Hegel, Schelling und Hölderlin
Zweihundert Jahre sollte es dauern, bis der Ausruf von Goethes Werther «Ich kehre in mich selbst zurück, und finde eine Welt!» auch in der Wissenschaft salonfähig wurde. Noch bevor der US-amerikanische Quantenphysiker und Philosoph David Bohm 1980 in «Die implizite Ordnung» von einem «universellen Fluss» schreiben sollte, «der sich nicht explizit fassen, sondern nur implizit erkennen» ließe und in dessen Fliessen «Geist und Materie keine voneinander getrennten Substanzen, sondern vielmehr Aspekte einer einzigen und bruchlosen Bewegung» seien, hatte Kurt Gödel, der österreichische Mathematiker, Philosoph und einer der bedeutendsten Logiker des 20. Jahrhunderts, in einem Aufsatz aus der Zeit um 1961 bereits damit begonnen, ihr Entweder-Oder-Dilemma aufzulösen: Spirituell selbst sehr offen, als auch an der Vorstellung eines nachtodlichen Lebens interessiert, weigerte er sich, «die Welt als einen ungeordneten und daher bedeutungslosen Haufen von Atomen zu betrachten», und vertrat stattdessen die Annahme, dass weder Bedeutung noch Realität an physikalische Tatsachen gebunden seien, sondern sowohl die Wirklichkeit als auch die Seele durch ein übergreifendes Sinnsystem konstituiert würden, das sich nicht auf die physische Materie reduzieren ließe.
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Entweder man akzeptiere, schreibt Gödel, dass der «menschliche Geist (selbst im Bereich der reinen Mathematik) die Fähigkeiten jeder endlichen Maschine unendlich übersteigt», woraus folgen würde, dass der menschliche Geist nicht auf das Gehirn reduzierbar ist, das «allem Anschein nach eine endliche Maschine mit einer endlichen Anzahl von Teilen ist, nämlich den Neuronen und ihren Verbindungen»; oder man nehme hin, dass es bestimmte mathematische Probleme gibt, die «absolut unlösbar» sind. Doch wenn letzteres der Fall wäre, würde dies, so Gödel, wohl «die Ansicht widerlegen, dass die Mathematik nur unsere eigene Schöpfung ist». Mathematische Objekte, so schlussfolgerte er, besäßen eine ganz eigene objektive Realität, unabhängig von der Welt der physikalischen Tatsachen, «die wir weder erschaffen noch verändern, sondern nur wahrnehmen und beschreiben können».
Das auf ewig Ungreifbare
Worauf Gödel, Blohm als auch Schelling anspielen, ist der Begriff der «Henosis». Geprägt wurde er von dem antiken Philosophen Plotin, der durch ihn die «Vereinigung», die «Einswerdung» mit der «formlosen» Gottheit, mit der er sich zu vereinigen strebte, zum Ausdruck bringen wollte. Und dabei sollte es auch bleiben. Bei dem Begriff. Denn wie der deutsche Physiker Hans-Peter Dürr in einem 2012 abgedruckten Gespräch mit dem Titel «Es gibt keine Materie!» versucht zu erklären, widerspreche es der «mythischen Versenkung», dem Zustand, wenn ich mit «dem Einen» vereint bin, über diesen zu sprechen. Sobald wir aus ihm wieder zurückkämen und versuchten, das Erlebte zu beschreiben, seien wir schließlich nicht mehr in der Einung. Dürr nannte dies das «mystische Paradox»: Das in der «Unio Mystica» Erfahrene ist in der Getrenntheit sprachlich nicht mehr einzuholen.
Doch war die Unerklärbarkeit des auf ewig Ungreifbaren für die modernen Wissenschaftler quasi nicht eingestehbar, bedauerte Dürr ihren anhaltenden Versuch. Er schrieb: «Das Immanente ist eigentlich nur die Erinnerung, dass es vorher etwas gegeben hat. In dem Moment, wo ich beginne, das Transzendente in der Immanenz zu erklären, zerstöre ich es.» Die Kunst, so Dürr, bestehe darin, etwas zu verstehen, ohne es in klar umrissene Begriffe oder Kategorien zu pressen. Solange wir das Leben auf einen dreidimensionalen Raum reduzierten, wären wir selbst abgetrennt vom Ganzen und daher nicht in der Lage «zu begreifen, dass es zwischen dieser ‹Materie› eine Wechselwirkung gibt». Für ihn stand daher fest: «Wenn ich innerlich wirklich achtsam und feinfühlig bin, dann verlieren sich die Grenzen. Je sensibler ich bin, desto weiter wird der Horizont, der sich vor mir öffnet.»
Die Romantisierung der Vernunft
Als Welterklärung ist der Materialismus «von einer irrsinnigen Schlichtheit». Das konstatierte auch der englische Schriftsteller G. K. Chesterton in seinem 1908 erschienenen Werk «Orthodoxie». Ihm zufolge sei er «von haargenau derselben Art wie die Argumentation eines Verrückten; er vermittelt gleichzeitig den Eindruck, alles zu begreifen und nichts zu erfassen.» Keine Glaubenslehre oder geistige Verwirrung, so Chesterton, enge den Geist «mit solcher Entschiedenheit ein, wie das die materialistischen Verleugnungen tun». Sie, so sein Vorwurf, ließen nicht nur den Kosmos «schrumpfen»; sie zerstörten auch alles, was Menschsein ausmacht: Hoffnung, Mut, Poesie, Initiative, Menschlichkeit. Für Chesterton ist es «absurd zu behaupten, man leiste vor allem der Freiheit Vorschub, wenn man die Freiheit des Denkens nur nutzt, um den freien Willen zu zerstören». Die Deterministen würden nicht befreien, sondern in Ketten legen. Sie gäben ihnen «allen Grund, ihr Gesetz als kausale ‹Kette› zu bezeichnen». Es sei «die ärgste Fessel, die je ein menschliches Wesen umschlossen hat».
Die Spannkraft des gesunden Menschen bestand für Chesterton im «Ausbalancieren scheinbarer Widersprüche». Das gesamte Mysterium der Mystik wurzelte für ihn darin, dass «der Mensch alles kraft dessen verstehen kann, was er nicht versteht». Der kranke Logiker bemühe «sich überall um Klarheit und schafft es, alles ins Geheimnis zu hüllen». Der Mystiker aber finde «sich damit ab, dass es ein einziges Mysterium gibt – und schon wird alles andere klar».
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Dieser Text erschien zuerst im Schweizer Magazin «Die Freien».
Herrlich. Danke. Es ist was es ist, sagt die Liebe - wie Erich Fromm schrieb. Die hält sich auch nie an Logik und ist doch eine unermessliche Energie.
Liebe Lilly, danke für alle deine Texte, so auch für diesen Text, der heute morgen in meinen Emails aufploppte. Neben so vielen, die ich garnicht mehr lese, sind es vor allem deine Texte und die von Milosz, die mich am meisten bereichern 🙏❤️... Und ja, wieder einmal eine Thematik, die mich auch schon länger beschäftigt, von dir durchleuchtet, auf den Punkt gebracht, verstehbar und durchschaubar gemacht, auf deine so einzigartige Weise, die Dinge in der Tiefe zu durchdringen und dies auch mit Worten so beschreiben zu können, dass es eine Freude für den Leser ist. Erkenntnisgewinn inklusive 👌✨✨✨