Die Unberührten
Pflege: Was passiert, wenn der Baustein allen Lebens keine Beachtung findet.
Letzten September wurde mein Opa 90 Jahre alt. Diesen Geburtstag «feierten» wir im Pflegeheim, wo er seit mittlerweile knapp einem halben Jahr ein Zimmer bezieht. Davon, er würde dort «leben», lässt sich an dieser Stelle schließlich genauso wenig sprechen, wie bereits das «Feiern» in Anführungszeichen gesetzt war.
Ganz im Gegenteil: Statt einem Gefühl von Heimeligkeit, war das einzige Bild, das von meinen mittlerweile zahlreichen Besuchen vor Ort in mir wachgerufen wurde, das der Waisenhäuser, die als Folge von Nicolae Ceaușescus 5-Kinder-Politik im Rumänien der 50er-Jahre aus dem Boden schossen. Weil die – an und für sich sehr fruchtbaren – Böden Rumäniens es ihnen in dieser Hinsicht nicht gleichtaten, versank das Land in Hungersnot und die Waisenhäuser vor lauter ungewollten Babys verarmter Eltern. Was der Beginn einer glorreichen Zukunft werden sollte, besiegelte stattdessen den Anfang eines neuen Sterns am Diktatorenhimmel: der Herrschaft der Berührungslosigkeit.
Das eigentliche Problem der unzähligen Waisenkinder bestand schließlich nicht darin, dass sie fortan ohne Eltern aufwachsen sollten – es bestand darin, dass sie fortan nicht nur nicht von ihren Eltern, sondern von niemandem mehr berührt werden sollten. So herrschten in den Heimen Zustände der allgemeinen Vernachlässigung, die, als sie nach Ceaușescus Sturz 1989 als Bilder an die Öffentlichkeit drangen, für internationale Bestürzung sorgten: Westliche Hilfsorganisationen versuchten, den sich anbahnenden Bindungsstörungen infolge des erlittenen Mangels körperlicher Berührung einen Berg an Aufmerksamkeit und Nähe entgegenzusetzen. Doch für viele Kinder kam diese Form von Zuwendung zu spät. Sie blieben auch nach später erfolgten Berührungen berührungslos.
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Deutschland, heute
Es wirkt für mich ein wenig paradox. Was damals zum Aufschrei geführt hat, weil man einerseits «nichts davon wusste», und es sich andererseits um Kinder gehandelt hat, versandet heutzutage in einem Meer der unbeholfenen Gleichgültigkeit? Ich mein: Den Aspekt fehlender Zuwendung, dass die Waisenkinder oft nur zum Füttern und Wickeln mechanisch berührt und ansonsten sich selbst überlassen wurden, finden wir auch in deutschen Alters- und Pflegeheimen wieder.
Auch hier, so weit würde ich mittlerweile gehen, wird der Mensch nicht (mehr?) wie ein lebendiges Individuum, ein Mensch mit Würde und Anstand behandelt, sondern zusehends als Objekt, als Ware und Abfertigungsobjekt. Was bei den Kindern die logische Schlussfolgerung des (fehlenden) Umgangs mit ihnen bedeutete, scheint bei alten Menschen als bereits vorausgegangenen Tatbestand und damit als Erklärung dafür genommen zu werden, mit ihnen so umzugehen, wie man es nun einmal tut: eine Art hospitalistische Deprivation. Während ihre von Entwicklungsverzögerungen, zu selbststimulierendem Verhalten wie beispielsweise durch Kopf-Wippen oder Schaukeln, sowie Aggressivität oder extreme Passivität, hin zu einem geschwächten Immunsystem und einer erhöhten Anfälligkeit für Infektionen und Krankheiten, als auch psychischen Erkrankungen wie Depressionen, Angststörungen oder sogar Dissoziationen reichenden Symptome bei Ceaușescus Waisenkindern als tragisches Schicksal gelten, dessen Pflicht für uns darin bestünde, dieses aufzuhalten, werden sie bei den Mietern deutscher Pflegeheime vielmehr als Grund dafür gesehen, warum ein Leben außerhalb dieser für sie ohnehin keinen Sinn mehr ergibt und warum sein Mangel gleichzeitig den Grund dafür bildet, weswegen es sich der Bemühungen auch nicht mehr groß lohne, seiner Lücke etwas entgegensetzen zu wollen.

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Womit wir bei meiner eigentlichen Frage wären: Wer entscheidet darüber, ob ein Mensch unter menschenwürdigen Bedingungen lebt? Geschweige denn, sich auch würdevoll behandelt fühlt?
Denn auch wenn Artikel 1 des Grundgesetzes besagt, die Würde des Menschen ist unantastbar, bedeutet dies im Umkehrschluss nicht, dass die Würde des Menschen automatisch dann gewahrt wird, wenn wir ihn nicht berühren. Ganz im Gegenteil: Genauso wie viele der Waisenkinder starben, wenn sie keine Berührung erfuhren, bauen auch die Menschen in unseren Altersheimen zusehends ab, besteht der einzige Kontakt, den sie noch zu anderen Menschen haben, in pflegerischen oder logistischen Aspekten – nicht aber in der liebevollen Fürsorge.
Wir brauchen die Berührung anderer Menschen, um uns selbst dessen zu vergewissern, dass wir am Leben sind. Und nicht bloß existieren. Wir sind keine Roboter. Zumindest noch nicht. Wir werden es aber, oder vielmehr: Wir werden automatisch zu ihnen gemacht, fangen wir nicht an, uns auf das zurückzubesinnen, was wir sind – Menschen. Und als solche sind wir nicht bloß unser Körper, den es zu füttern, waschen und zu betten gilt. Wir sind immer auch unser Geist, unser Herz, unsere Seele. Sie gilt es ebenso zu nähren und zu pflegen wie den Organismus, der sie einst so liebevoll ins sich aufgenommen hat. Sobald wir jedoch zulassen, dass man uns als Menschen auf einen dieser Aspekte reduziert, sei es unser Körper oder unser Verstand, haben wir bereits verloren. Und zwar unsere Würde. Vielleicht nicht ganz, aber wir wären es, die zugelassen hätten, dass man die Definition, auf der sie beruht, beginnt zu untergraben. Und damit gleichzeitig diejenigen, die jenem Phantasma von Transhumanismus und seinem Endstadium der Technologischen Singularität die Pforten geöffnet hätten, indem auch in ihrer Vorstellung vom Menschen dieser nicht mehr aus Körper, Geist und Seele, sondern einzig aus Nullen und Einsen besteht. … Insofern es in diesem Szenario überhaupt noch «den Menschen» gibt, hätte sich dieser doch vielmehr im sozialistischen Sinne in etwas «Größerem» aufzulösen.
Mit Verbundenheit gegen die Unverbindlichkeit
Das Bild, das mir persönlich am meisten hängen bleibt, wenn ich an Transhumanismus oder Pflegeheime denke, ist das der Unverbindlichkeit: Niemand übernimmt mehr Verantwortung für die Art und Weise, wie wir miteinander umgehen. Oder in diesem Fall nun einmal nicht mehr miteinander umgehen. Im Anbetracht der Tatsache, dass wir größtenteils bereits so miteinander interagieren, als wäre dieses «inter», also das, was eigentlich zwischen uns liegen und uns verbinden sollte, längst ins Technische – und damit ins Unmenschliche – übergegangen, gibt es in meinen Augen nur noch einen Weg, dieser Dampfwalze Einhalt zu gebieten: den des gnadenlosen Abbaus all’ dessen, was uns bislang daran gehindert hat, offen und frei auf andere Menschen zuzugehen.
Liebevoll zu sein, tut nicht weh. Lieblosigkeit tut es. Lieblosigkeit verhärtet und lässt den Menschen misstrauisch werden. Gegenüber anderen Menschen, aber auch gegenüber seiner eigenen Liebenswürdigkeit.
Vielleicht ist es auch das, was ich bei den Besuchen meines Opas am wenigsten aushalte: Das permanente Suggerieren einer Form von Unausweichlichkeit, den Menschen vor Ort nicht mehr Liebe geben zu können. Sei es ihres Alters wegen oder systembedingt, und damit – beiderseits – «aufnahmekapazitätsbedingt»: Dass sich dort, wo die Liebe im gegenseitigen Miteinander fehlt, nicht mehr von «Pflege», sondern nur noch von «Aufbewahrung» gesprochen werden kann, scheint den meisten Menschen unzugänglich.
Was ich damit sagen will? Wir haben eine Wahl. In jeder Begegnung und mit jeder Berührung können wir uns bewusst dafür entscheiden, dem vor uns stehenden (oder liegenden) Menschen das Gefühl zu geben, dass wir ihn wertschätzen und dass da Liebe ist in unserem Kontakt zu ihm. Wo diese letzte Wertschätzung, das Würdevolle in der eigentlichen Begegnung, verloren geht, so meine tiefste Überzeugung, sind wir verloren.
Haben wir also keine Angst davor, berührbar zu sein. Solange wir berührbar sind, sind wir am Leben. Um dieses zu bewahren: Seien wir selbst die Berührung, die wir uns wünschen, in dieser Welt zu erfahren.
Dieser Text erschien zuerst im Demenz-Magazin. Einer von mir an dieser Stelle explizit als solche ausgesprochene Lektüreempfehlung – für bereits eingetretene wie kommende Zeiten.




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Liebe Lilly
Danke für Deinen Beitrag, der die Situation sehr treffend beschreibt. Die Situation der alten menschen, besonders in Pfelegeheimen ist menschenunwürdig. Was in der Coronazeit in den Pflegeheimen passiert ist, kann man ohne wenn und aber als Verbrechen bezeichnen.
Dies läßt sich leider jedoch 1 : 1 übertragen auch das heutige allgemeine Leben in Deutschland.
Ich selbst.
Ich selbst bin auch tätig im Bereich der Aufklärung was unsere geistig-seelisch-körperliche Gesundheit anbelangt. So ist es Fakt, dass wenn ein Mensch heute in ein Pflegeheim kommt, seine Lebenserwartung um 50% sinkt. Positiv ist, dass es in den Pflegeheimen immer noch liebevollen Seelen gibt die es anders machen.
Den Fokus gilt es dennoch auf das Lichtvolle auszurichten. Die alten dunklen Mächte verabschieden sich gerade und es kommt immer mehr Licht in die n o c h so dunkle Welt da im Außen. Das Licht in uns ist unzerstörbar.
liebe lilly, du schreibst mir so aus der seele!!! wer die filme und berichte vom verein https://matriacon.net kennt, die berichte, wie in den matriarchalen kulturen die alten frauen (und männer) geachtet werden, eingebunden in ein grossfamilienleben, dem wird erst so richtig klar, was hier in unserer UNKULTUR an unmenschlichkeit stattfindet. sind die menschen klein, als baby wegorganisiert, die mutter muss sich selbstverwirklichen, sind sie alt, wegorganisiert, die inzwischen erwachsenen kinder müssen arbeiten, können die alten nicht bei sich in den viel zu kleinen, viel zu teuren wohnungen beherrbergen. es ist einfach nur zum schreien WIDERLICH! und das nennt sich dann modernes leben, wer anders lebt, wird belächelt oder verhaftet (gerade geschehen). das hat die machtelite gut hinbekommen, der mensch verfügbar nach ihrem bilde, männer UND frauen Steuer zahlend, nennt sich dann emanzipation. dass mit gleichberechtigung eigentlich Gleichwertigkeit bedeuten würde, dass endlich die "weiblichen" tätigkeiten aufgewertet werden und als gleich, wenn nicht sogar WICHTIGER, anerkannt, denn sie sorgen dafür, dass wir ein LEBEN haben, wurde gerne bei der ganzen, gut orchestrierten massenmanipulation unter den tisch fallen gelassen. ich kann jeder/m nur empfehlen, sich mit matriarchalen gesellschaften zu beschäftigen: eine WIRKLICHE alternative zur heutigen unkultur. Sie haben sich als einzige gesellschaftsform FRIEDENSFÄHIG gezeigt, bestanden weltweit, auch rund um den mittelmeerraum, auch bei unseren vorfahren den Germanen, und wurden durch MASSIVE KRIEGERISCHE GEWALT zerstört. hier in deutschland geschah es durch das römische reich und die damit einhergehende gewaltsame Christianisierung. hier der kanal, der matriarchales wissen verbreitet, noch ist er nicht zensiert oder in die rechte ecke geschoben oder gelöscht, aber wer weiss was noch kommt, inzwischen ist bereits das thema alternatives geld oder bindungsorientierte Erziehung gerne mal von bestimmter seite in der rechten ecke:
https://www.youtube.com/@matriwissen3916