Durchbruch zum Wesen
Ein Totengespräch mit Karlfried Graf Dürckheim (1896 - 1988), Zen-Lehrer und Begründer der Initiatischen Therapie.

Sehr geehrter Herr Dürckheim, worum geht es im Leben?
“Es geht um die Entdeckung der wahren, der wesenhaften Wirklichkeit des Menschen und des ihm in seinem Wesen zugedachten Lebens, das heißt der Wirklichkeit, der seine Bestimmung entsteigt.”1
Wie aber kommt es, dass der Mensch für gewöhnlich nichts von dieser Wirklichkeit weiß? Dass sie überhaupt nicht für ihn dazu sein scheint?
“Das kommt daher, dass er für gewöhnlich die Zeichen, in denen sie sich bekundet, nicht ernst nimmt. Er kann sie solange nicht ernst nehmen, als er seinen Ernst nur den Dingen zuwendet, die sich der Rahmenordnung seines gewöhnlichen Bewusstseins einfügen und er an dem vorbeigeht und das abwertet, was sich nicht in sie ein, ordnet. Aber wenn ihm dann einmal der Halt und der Sinn und die Geborgenheit in seiner gewohnten Lebensordnung genommen wird und alles zusammenbricht, worin er sich bis dahin so fraglos hielt - dann zeigt sich die ganze Fragwürdigkeit seiner bisherigen Existenz und es meldet sich aus der Tiefe die andere, die eigentliche Wirklichkeit. Und nimmt der Mensch dann die ungewohnten Stimmen des ihm noch unbekannten, aber in seinem Wesen verkörperten größeren Lebens ernst, dann erst gewinnt das darin verborgene Sein Wirklichkeit im Selbst. Der eigentliche Kern, das Wesen, wird zum Kern des Selbstes und ein neues Leben hebt an.”2
«Wo die rationale Ich-Sicht sich in unserem Bewusstsein verhärtet, gilt uns nur das noch als ‹wirklich›, was in ihre Ordnungen passt.»3
Aber was ist dieser «Kern» im Menschen? Was ist er eigentlich und im Grunde, und was ist seine Bestimmung?
“Offenbar das, was alle äußeren Mächte des Daseins nicht zu zerschlagen und zu zernagen vermögen. Er ist offenbar etwas, das gerade dann sichtbar werden und aufgehen kann, wenn alles, was bis dahin ernst genommen wurde und anscheinend so ernst genommen werden musste, sich als wesenlos erweist. Er bedeutet also die Verankerung des Menschen in einer Wirklichkeit, die von allen „Wirklichkeits“gefügen und Wertordnungen dieser Welt anscheinend unabhängig ist und weit über sie hinausreicht. Der Kern bekundet offenbar die Wirklichkeit im Menschen, die umfassender, tragender und bergender ist, als alle Wirklichkeit, in der der Mensch sonst so fraglos in seinem Rahmen dahinlebt. In dem, was wir den Kern des Menschen nennen, ist offensichtlich die Wirklichkeit verkörpert, die die eigentliche ist, die Wirklichkeit, die uns im Grunde trägt, durchwirkt und umfängt. Es ist das Sein, das hinter und in allem Dasein, das Größere Leben, das in und über allem kleinen Leben ist.”4
Inwiefern sehen Sie in diesen menschlichen „Rahmenbedingungen“ den Ursprung gegenwärtiger Krisen?
“Die alt gewordene Zeit, in der wir Menschen von heute noch stehen, steht im Zeichen der Bewältigung der Natur durch den Menschen. Sie hob an mit seiner Befreiung aus den Fesseln des Geistes, die ihn die Natur nicht sehen ließen, wie sie sinnennah da ist, noch sie begreifen ließen in der Gesetzlichkeit ihrer Ordnung, sondern nur schauen ließen in Bildern, deren Gestalt und Bedeutung in einem Gefüge des Glaubens vorgeformt war. […] Der neue Geist zog den Blick des Menschen von innen nach außen und die frommen Kräfte in die Welt, die neuentdeckte Welt der Objekte! Diese Welt wurde selbständig und fraß die Frömmigkeit auf. Ihrer frommen Wurzeln beraubt, rissen die Kräfte sich los, entzauberten die Welt und stellten den Menschen auf sich. Gewaltig ist das Gebäude, das der Mensch, sich selbst als Mitte betrachtend, mit seinem «frei» gewordenen Wissen und Können errichtete, aber, der heiligen Mitte entbehrend, gerät es heute ins Schwanken.”5
Die Verunstaltung oder Verfehlung der dem Menschen zugedachten und auf getragenen Lebensgestalt hängt also mit dem Fehlen seiner Mitte zusammen. Was aber bedeutet die «Mitte»?
“Persönlich-existentiell verstanden meint «In der Mitte sein» eine Verfassung des Menschen als Subjekt, in der er in seinem Fortschreiten auf sein Eigentlichstes, also auf seinen Wesensauftrag hin zentriert und von ihm her in seiner Bewegung im Gang gehalten, zusammengehalten und bestimmt ist. Dieser Verfassung entgegengesetzt ist jene, in der der Mensch allein an der Welt orientiert nur um die Anliegen des Welt-Ichs kreist. [..] In ihrer personalen Bedeutung meint Mitte ein Zentrum personalen Lebens, also das, woher, worum und woraufhin der Mensch als Subjekt lebt. So bedeutet «Mitte» personal gesehen einen dreifachen «Grund». Es meint die Kraft, aus der der Mensch lebt, den Sinn, um den er kreist, die Erfüllung, auf die er suchend bezogen ist.”6
„Das Glück des Menschen als Person hängt ab von der Erfüllung seiner tiefsten Sehnsucht.” 7
Dieser Text erschien zuerst in der 01/2022 Ausgabe des Schweizer Magazin “Die Freien”.
Aber wie äußert sich denn das Wesen? Wie erfahren wir von ihm? Was sind die Kriterien dafür, dass Erlebnisse, die wir für Äußerungen dieses Wesens nehmen, auch wirklich solche sind?
“In unserem« Wesen » sind wir nicht Produkte des Daseins, sondern eine Weise des übernatürlichen Seins, die sich in unserem Dasein, das heißt in der raumzeitlichen Wirklichkeit unseres Ich-Selbstes, auch gegen dessen natürliche Wünsche und Triebe manifestieren will. So ist es die Bestimmung und Aufgabe des Menschen, aus seinem lch-gebundenen Pseudoselbst heraus, und zu seinem eigentlichen Selbst hinzufinden, was bedeutet: in fortschreitender Wandlung dasjenige Selbst zu entwickeln, das seinem Wesen gemäß, beziehungsweise dem in seinem Wesen liegenden und drängenden Auftrag gewachsen ist. Das « wahre Selbst» ist erst das, in dem das Wesen so aufgegangen ist, dass der Mensch sich von ihm her als Subjekt fühlt und also den Glanz seines Erlebens, den Schwerpunkt seines Selbstgefühls und den Sinn seines Handelns in der endlichen Welt vom Nichtendlichen in ihm gewinnt und auch den eigentlichen Sinn seiner Selbstentfaltung und Weltgestaltung im Dienst am Unendlichen erblickt.”8
Was fehlt den Menschen von heute am meisten, um zu ihrem Wesen durchzubrechen?
“Die menschliche Strahlung. Es fehlt ihnen an innerer Ausgeglichenheit, am Frieden mit sich selbst - und so auch an der Fähigkeit zu echtem menschlichem Kontakt. Es geht keine Wärme von ihnen aus – kein Segen, weil sie mit sich selber uneins und innerlich nicht glücklich sind. Und da liegt vielleicht der wichtigste Maßstab für den Wert eines Menschen: In der Antwort auf die Frage, ob er innerlich glücklich ist, im Frieden mit sich – und so auch selbstverständliche Quelle jener Ausstrahlung, in der der Mitmensch sich als Mensch angenommen fühlt – angenommen, das heißt überhaupt als Mensch gesehen, gefühlt, verstanden und geliebt.”9
Wie aber finden wir diesen Frieden?
“Erst wo die Idee der Gemeinschaft - sei es die Ehe oder der Staat - oder die Idee des einzelnen und seiner Freiheit im Zeichen des Unendlichen stehen, wird auch die Endlichkeit, in der sie wachsen und aufgehen, verwandelt, und es öffnen sich in ihr die Wege zum Frieden. Frieden im Endlichen gibt es nur, wo die in der Endlichkeit unversöhnliche Gegensätzlichkeit der Wünsche und Triebe aus der Bezogenheit auf das Unendliche überwunden oder entmachtet wird. Erst wo im Menschen über sein kleines Ich hinaus das eigentliche Subjekt aufgeht, das, vom Unendlichen ergriffen, seinem verpflichtenden Ruf folgt und ihm verantwortlich handelt und lebt, zieht Frieden in die Welt ein.”10
Gibt es Momente, in denen der Mensch besonders „offen“ dafür ist, zu seinem Wesen zu gelangen?
“Gerade ein Mensch, der sich in der tiefsten Dunkelheit seiner Verlorenheit in der Welt fühlt, die ihn, so lange er im Ich festsitzt, in Angst, Verzweiflung und Einsamkeit stürzt, ist besonders bereit für den Ruf aus dem Wesen und so auch für einen Anruf, der sein Ich-Gehäuse durchstößt und ihm sein Wesen bewusst macht.”11
„Der rechte Mensch will lieber unter der Treue zu seinem Wesen leiden, als seine Freiheit von diesem Leiden mit dem Verrat an ihm erkaufen.” 12
Was ist dementsprechend das Wichtigste für die Entwicklung eines praktisch wirkenden kritischen Selbstbewusstseins?
“Es ist die Erweckung, Differenzierung und Artikulierung eines Spürsinns. Es geht um die Entwicklung eines feinsinnigen Organs, das zuverlässig die Abweichungen von der rechten Innenordnung vernimmt, insbesondere aber für die falsche beziehungsweise richtige Zentrierung des Subjektes empfindlich ist. So bezieht sich die kritische Wachheit vor allem auf das, «worin» und «wozu» das Subjekt sich im Leben hält und «worum» es im Fortschreiten kreist. Dies bedeutet die Ausbildung des Organs zum Spüren der rechten Mitte und dessen, was von ihr abweicht.”13
Kann der Mensch üben, zu seinem Wesen durchzubrechen?
“Jede Arbeit, jede Kunst und jeder Beruf bedarf, damit das Werk gelinge, der Übung. Das weiß jeder, und, um sich in der Welt zu bewähren, lernt er, übt sich und verarbeitet seine Erfahrungen. Daß dies aber auch die Voraussetzung für das Gelingen des wichtigsten aller dem Menschen aufgegebenen Werke ist, ist weitgehend unbekannt geblieben. Wie alles, was lebt, dazu bestimmt ist, sich voll zu sich selbst zu entfalten, so auch der Mensch. Der Mensch aber wird, was er sein soll, nicht von selbst. Er wird es nur, wenn er sich selbst in die Hand nimmt, an sich arbeitet und sich zur Vollendung des Werkes ohne Unterlass übt. Das wichtigste Werk seines Lebens also ist er selbst, ER SELBST als der «rechte Mensch».”14
Kann der Mensch auch lernen, „die Wahrheit“ zu erkennen?
“Er kann lernen, sein Ich mit seinem Dauerwillen zu lassen, kann lernen, die Schmerzscheu des Ichs zu überwinden und die leidvolle Wirklichkeit dieses Daseins auf sich zu nehmen. Er kann sich üben, zum Wesen hin durchlässig zu werden und sein inneres Auge und Ohr mit Stetigkeit zu verfeinern. Er kann lernen, sich, vom Wesen berührt, im Leiden des Selbstes in der Stille zu läutern, das heißt, das Leiden als den Schleifstein zu nehmen, der den Kristall seines Wesens überhaupt erst hervortreten lässt. Er kann vor allem auch lernen, allen Einflüsterungen zu widerstehen, die in teuflischer Weise den Zweifel an der Wahrheit der inneren Stimme erregen, indem sie mit der hybriden Behauptung, die «objektive» Wahnwirklichkeit des Ichs sei die eigentliche, die Wesenserfahrungen zu « bloß subjektiven Erlebnissen und Stimmungen» entwerten. Er kann also lernen, in steter Übung, die Stimmen des Wesens ernst und wahr zu nehmen, kann lernen, sich von der Wirklichkeit, die aus dem Wesen her auf blüht, fortschreitend bestimmen und durchwachsen zu lassen und sich, wo ihm das Wesen einmal wirklich ins Innesein kam, aus ihm heraus zu verwandeln.”15
Lernen, üben, Sammeln und Verarbeiten von Erfahrungen, was bedeutet das im Dienst des Werkes, das man selbst ist? Welche Erfahrungen gilt es ernst zu nehmen und zu verarbeiten? Worin besteht die Übung? Was sind die Voraussetzungen des Gelingens?
“Die Voraussetzungen für das Gelingen jeglichen Werks in der Welt sind: eine dienende, von der Sache erfüllte Gesinnung, zäher Wille, Entfaltung sachdienlicher Fähigkeiten, Gewinnung zuverlässiger Fertigkeiten, eine gediegene Leistungskraft, das Verarbeiten der Arbeitserfahrungen und im ganzen eine ungestörte Angepasstheit an die Welt. Am Ende steht dann das Können, das das Gelingen .des Werks garantiert Das Gelingen des inneren Werkes ist die Frucht menschlicher Reife. Die Voraussetzungen des Reifens sind: Der Abbau des kleinen, nur weltbezogenen, schmerzscheuen Ichs, das Spüren und Zulassen und die Entfaltung des eingeborenen, transzendenten Wesens, das Einschmelzen der es verstellenden Positionen und Einstellungen, das Ernstnehmen und Verarbeiten der zu seinem Innewerden hinführenden und es bekundenden Erfahrungen, die Gewinnung zuverlässiger Haltungen, die dem Wesen entsprechen und in allem die Treue im Fortschreiten auf dem inneren Weg. Am Ende steht dann eine Meisterschaft nach innen. […] Übung im Alltag bedeutet immerzu Einkehr und Umkehr, Loslassen der Welt und Zulassen des Wesens. Und wenn wir den innersten Kern unseres Selbst einmal fühlen und in uns das Wesen erwacht - dann spüren wir auch das Wesen der Dinge, und mitten im weltlichen Dasein begegnet uns allenthalben das Sein.”16
„Wo wir wirklich einmal uns in unserem Wesen erfahren, haben wir ein Einssein mit dem Sein erfahren.” 17
Wenn wir dann unser Selbst gefunden haben, wie können wir es bewahren?
“Das Wesen im Dasein bewähren kann nur ein Mensch, der sich nie einbildet, «fertig» zu sein. Nur wenn er weiß, daß er nie fertig ist, kann er mit der Welt fertig werden, wie sie ist, kann heiler werden gerade dort, wo sie ihn kränkt, und kann auch den Kampf mit ihr aufnehmen. Aber auf das rechte Kämpfen kommt es an! Und dies hängt davon ab, dass der Mensch recht ist.”18
Dieser Text erschien zuerst in der 01/2022 Ausgabe des Schweizer Magazin “Die Freien”.
Dürckheim, Karlfried von (1954): Durchbruch zum Wesen. Aufsätze und Vorträge. (M. Niehans), S. 9.
ebd., S. 105.
Dürckheim, Karlfried Graf (2004): Der Alltag als Übung. Vom Weg zur Verwandlung. Bern (Huber), S. 19.
Dürckheim, Karlfried von (1954): Durchbruch zum Wesen. Aufsätze und Vorträge. (M. Niehans), S. 105f..
ebd., S. 7f..
Dürckheim, Karlfried Graf (2004): Der Alltag als Übung. Vom Weg zur Verwandlung. Bern (Huber), S. 77.
ebd., S. 46.
Dürckheim, Karlfried von (1954): Durchbruch zum Wesen. Aufsätze und Vorträge. (M. Niehans), S. 21; 55.
ebd., S. 38.
ebd., S. 52.
Dürckheim, Karlfried Graf (2004): Der Alltag als Übung. Vom Weg zur Verwandlung. Bern (Huber), S. 110.
ebd.
ebd., S. 76.
ebd., S. 7.
Dürckheim, Karlfried von (1954): Durchbruch zum Wesen. Aufsätze und Vorträge. (M. Niehans), S. 22.
Dürckheim, Karlfried Graf (2004): Der Alltag als Übung. Vom Weg zur Verwandlung. Bern (Huber), S. 7f.; 37.
ebd., S. 91.
ebd., S. 127.
Deine Gedanken sind beim ersten Lesen unfassbar. Kommen für mich zur richtigen Zeit.Danke Lilly
Vielen Dank für diesen schönen Beitrag.