Freiheit beginnt, wo Ideologie endet
Bevor eine Grenze gebaut wird, existiert sie in den Köpfen der Menschen.
»Die Menschen haben vor dem Denken mehr Angst als vor irgend etwas sonst auf der Welt - mehr als vor dem Ruin, ja selbst mehr als vor dem Tod. Das Denken ist umstürzlerisch und revolutionär, destruktiv und schrecklich; das Denken kennt keine Gnade gegenüber Privilegien, fest begründeten Institutionen und bequemen Gewohnheiten; das Denken ist anarchisch und gesetzlos, gleichgültig der Autorität gegenüber und rücksichtslos gegen die erprobte Weisheit von Jahrhunderten. Das Denken blickt hinab in die Tiefe der Hölle und fürchtet sich nicht. Es sieht den Menschen, ein schwaches Fleckchen, umgeben von unergründlichen Tiefen des Schweigens; aber es hält sich stolz aufrecht, so unberührt, als wäre es der Herr des Universums. Das Denken ist groß und behende und frei; es ist das Licht der Welt und der höchste Ruhm des Menschen. « — Bertrand Russell1
Von Denkmonopolen und mentalen Einfallstoren
Denken beinhaltet die Gefahr zur Potenzierung von Einfällen. Das wussten bereits Walter Lippmann, Edward Bernays, Goebbels oder Stalin. Ihre Propaganda beruhte schließlich auf nichts weniger als der Angst davor, das Volk könne sich mittels Kraft seiner eigenen Gedanken selbst ermächtigen und sich infolgedessen der Gewalt des Staates entziehen. Insofern dieser seine Macht grundsätzlich nicht auf Aufrichtigkeit, sondern Alternativlosigkeit gründet, galt es schlichtweg als kontraproduktiv, erzöge man den Bürger zur mentalen Unabhängigkeit. Auf diese Weise entzöge sich ein jedes paternalistische System seiner Legitimationsbasis.
„Gedanken sind mächtiger als Waffen. Wir erlauben es unseren Bürgern nicht, Waffen zu führen – warum sollten wir es ihnen erlauben, selbständig zu denken?“ — Josef Stalin
Institutionell als auch religiös verankert – es liegt im Ansinnen keiner Ideologie, die Illusion ihrer Zwangsläufigkeit zu lüften. Von Riegenführer bis Kirchgänger – niemand darf die Hintergründe jener Mechanismen verstehen, auf denen er seine Existenz zu führen habe. Dennoch musste man sich mit der Zeit eingestehen, dass jene Zeiten der offensiven Repression soweit vorbei waren. Die Ausbreitung von Ideen ließ sich langfristig gesehen weder durch Gewalt noch Stacheldraht und Beton aufhalten.
Stattdessen ging man dazu über, die Lehre von der “Freiheit des Willens” an den Willen der herrschenden Klasse anzupassen. Man entwickelte Methoden dafür, die Mauern nicht mehr um, sondern in den Köpfen der Menschen zu errichten. Dem zugrunde lag die generelle Erkenntnis darüber, wie viel einfacher es ist, anstelle einzelne Gedanken zu verbieten, das Denken an sich zu bekämpfen: Hört der Mensch auf, eigene Gedanken zu denken, besteht auch keine Notwendigkeit mehr darin, diese zu kontrollieren. Gedanken, die gar nicht erst gedacht werden können, braucht man auch nicht zu verbieten.
Es wird demnach alles dafür getan, nichts zu tun, was den Menschen auf unorthodoxe Gedanken bringen könnte. Anstelle eines pluralistischen Diskurses konstituiert man das Bild einer großen Determiniertheit: Die Freiheit des Einzelnen ist nur so lange tragbar wie sie nicht die Freiheit des Systems gefährdet. Lässt man den Menschen glauben, er könne nur innerhalb der ihn umgebenen Strukturen ein wahrhaft freies und gutes Leben führen, entledigt man sich nicht nur des Risikos, er könnte sich des vorherrschenden Denkmonopols entziehen; man bewegt ihn obendrein dazu, ein intrinsisches Verlangen danach zu entwickeln, die an ihn gerichteten Anforderungen bestmöglich zu erfüllen.
“Moderne Propaganda ist das stetige, konsequente Bemühen, Ereignisse zu formen oder zu schaffen mit dem Zweck, die Haltung der Öffentlichkeit zu einem Unternehmen, einer Idee oder einer Gruppe zu beeinflussen.” — Edward Bernays, Propaganda2

Die substanzlose Masse mentaler Einbahnstraßen
Das ganze gleicht einer Dystopie. Nicht à la Big Brother, sondern à la Soma: Während Orwell diejenigen fürchtete, die Bücher verbieten würden, war es bei Huxley die Sorge darüber, dass es irgendwann keinen Grund mehr dazu geben würde, ein Buch zu verbieten. Es gäbe ohnehin niemanden mehr, der eines lesen wollen würde3. Darin besteht die große Diskrepanz zwischen dem Vorenthalten von Informationen und einer Flut von Pseudoinformationen, die den Menschen blenden und ihm die die Illusion einer ständigen Veränderung des Verständnisses von Existenz vermitteln.
“Formerly no one was allowed to think freely; now it is permitted, but no one is capable of it any more. Now people want to think only what they are supposed to think, and this they consider freedom.” — Oswald Spengler
Betrachtet man im Zuge dessen die derzeitige Selbstauffassung des sich für “modern” haltenden Menschen, wäre es deutlich zu kurz gegriffen, die Ursache der bestehenden Krise seines Denkens in Differenzen von Denkmodellen oder Ideologien zu suchen: Indem sich die äußere Freiheit des Einzelnen an seinem Verhältnis zu seinen Mitmenschen misst, kann diese erst dann echt sein, wenn er zunächst seine innere Freiheit für sich erlangt hat. Widerspricht jedoch jede Systematisierung des Menschen diesem als geistiges Wesen, ist es keine Frage danach, ob seine individuelle Freiheit eher im Kommunismus, Kapitalismus oder in der Demokratie zu bewahren ist: Solange der Mensch auf äußere “Lebensanleitungen” angewiesen ist, ist er nicht frei.
Während es für Vögel überlebenswichtig ist, in Gefahrensituationen in der Masse aufzugehen, um als Individuum unsichtbar zu werden, bildet sich im Zuge eines solchen Schwarmverhaltens beim Menschen keine hermetische Formation, sondern ein nihilistischer Strudel: Ob individueller Überlebensinstinkt oder unhinterfragter Herdentrieb – sobald Gedanken auf Nähe und Kollisionsvermeidung geeicht werden, werden diese berührungslos. Und berührungsloses Denken ist totes Denken.
„Aber selbst Gedanken, so substanzlos sie scheinen, brauchen einen Stützpunkt, sonst beginnen sie zu rotieren und sinnlos um sich selbst zu kreisen; auch sie ertragen nicht das Nichts.“ — Stefan Zweig, Schachnovelle4
Anders gesagt: Denkpfade, die aus aus Angst vor Regelverstoß und Normabweichung unterbunden oder einer Maschinerie aus Bewertung, Abwertung und Beurteilung unterworfen werden, verlieren ihre menschliche Perspektive. Ähnlich demjenigen, der seine individuelle Freiheit aufgibt, um an Sicherheit zu gewinnen, aber am Ende beides verliert, wird der Mensch sich überall dort, wo er sich nicht mehr mit “dem Fremden” auseinandersetzt, früher oder später selbst fremd werden. Grundsätzlich gilt: Wer einmal damit angefangen hat, sich in seinem Denken mit dem zu begnügen, was als wahr und richtig anerkannt wird, der hat bereits aufgehört zu denken.
“Das Gehirn ist so unfrei und das System, in das mein Gehirn hineingeboren worden ist, so frei, das System so frei und mein Gehirn so unfrei, daß System und Gehirn untergehen.”
— Thomas Bernhard, Gesammelte Gedichte, Suhrkamp“Also, was hat es denn für einen Zweck, mir den Kopf zu ruinieren, mein Gedächtnis auszutilgen, das mein Betriebskapital ist, und mich bankrott zu machen ? Die Kur war brillant, aber der Patient ist tot.” — Ernest Hemingway über seine Elektroschocktherapie kurz vor seinem Selbstmord 1961
Eine kleine Anleitung zur mentalen Selbstermächtigung
Aus der Moralphilosophie wissen wir: Der tiefste Kern des Menschen ist seine Persönlichkeit; sein Selbst-Sein. Je mehr er sich diesem bewusst wird, desto näher er sich selbst kommt, desto mehr ist er Mensch. Andersherum heißt dies jedoch auch, dass überall dort, wo der Mensch durch äußere Einflüsse aus seiner Mitte fällt, auch sein Verlangen nach Freiheit verfremdet wird. Demnach ist die Frage nach Kohärenz und Authentizität keine Frage mehr des Nicht-Wollens, sondern eine des Nicht-Könnens.
Der Weg für mehr Gerechtigkeit und weniger Geistesbrechung liegt folglich darin, durch den Abbau mentaler Schranken dem Menschen Halt und Raum dafür zu bieten, die Wahrheit in sich selbst zu finden. Erst wenn der Mensch zu einem Glauben kommt, der nicht von dem Glauben seiner Umgebung abhängig ist, sondern in ihm selbst so tief verwurzelt ist, dass er durch den Unglauben an seine Umgebung nicht erschüttert werden kann, hört er auf, Instrument zu sein und kann beginnen, unabhängig jeder Obrigkeit seine eigenen Entscheidungen zu treffen.
Sobald ein Mensch seine Mitte gefunden hat, verlieren jene Pseudorealitäten aus Propaganda und Interessensmatrix ihr Wahrheitsmonopol. Ein Mensch, der zu sich selbst gefunden hat, besitzt das nötige Selbstvertrauen, sein bestehendes Weltbild anzuzweifeln. Er weiß, dass es möglich ist, zu hinterfragen, warum die Dinge so sind wie sie sind, ohne dabei den Boden unter den Füßen zu verlieren. Zugleich wird er nicht eher wieder still sein, bis er eine befriedigende Antwort gefunden hat. Er wird anfangen, außerhalb von dem, was ihm stets als interessant und des Wissens relevant dargeboten wurde, etwas suchen, das ihn erfüllen statt bloß ausfüllen könnte.
“Philosophie ist eine Bewegung, mit deren Hilfe man sich […] von dem freimacht, was für wahr gilt, und nach anderen Spielregeln sucht.” — Michel Foucault

Literatur(-empfehlungen):
Bernays, Edward L. (2007): Propaganda. die Kunst der Public Relations. Kempten
Zweig, Stefan (2013): Schachnovelle. Köln: Anaconda (Edition Anaconda).
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in "Principles of Social Reconstruction" (1916)
Bernays 2007, S. 21
Neil Postman, Amusing Ourselves to Death, Forword
Zweig 2013, S. 65