Gemeinsam wie all-einsam stehen wir heute mehr denn je vor der Frage: Wohin geht der Mensch? Was sind die wahren Menschheitsaufgaben, die wir zu überwinden haben? Welche Kräfte unterstützen und welche hindern uns an unserem Weg? Sind wir dabei uns zu finden, oder zu verlieren? Und gibt es so etwas wie ein geeintes Wirken «der Menschheit» überhaupt? Oder ist nicht jeder einzelne von uns dazu angehalten, selbst zu schauen, wo er bleibt? Fest steht: Gefragt sind wir alle. Die Herausforderung liegt letztlich darin, unterscheiden zu können, was wir nur gemeinsam schaffen können, und welche Prozesse jeder von uns deshalb alleine durchlaufen muss, weil die für sie erforderliche Innerlichkeit ihren Zauber nur dann entfalten kann, sind wir losgelöst von allem, was sich «Außen» nennt. Die Rede ist vom Suchen, das keine Suche ist. Vom Schatz, der nicht gefunden, sondern entdeckt werden will.
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Ahrimans Seelenfinsternis
«Eine Aufgabe der Menschen für die nächste Zivilisationsentwickelung wird es sein, so voll bewusst der Ahrimaninkarnation entgegenzuleben, dass diese Ahrimaninkarnation der Menschheit gerade dient in Bezug auf die Förderung einer höheren geistigen, einer spirituellen Entwickelung dadurch, dass man gewahr wird gerade an Ahriman, was der Mensch durch das bloße physische Leben erlangen oder, sagen wir, nicht erlangen kann. Durch die Erkenntnis Ahrimans werde die Grenze und die eingeschränkte Bedeutung des physischen, damit aber auch des rein intellektuellen, unspirituellen Lebens deutlich. Eine klare Erkenntnis des Ahrimanischen- und Luziferischen - ermögliche und eröffne den Weg zu Christus.»1
Mit dieser Aussage vom 04. November 1919 traf Rudolf Steiner einen, wenn nicht den entscheidenden Punkt hinsichtlich der Konfrontation des Menschen mit «dem Bösen» in der Welt: Es geht nicht darum, dieses zu verleugnen, geschweige denn, an ihm zugrunde zu gehen. Worauf es ankommt, ist seine Erkenntnis. Ab dem Moment, wo der Mensch das Wirken Luzifers oder Ahrimans als das ihrige erkennt, habe er sich bereits von ihnen befreit. Er hat verstanden: Wolle er dem berauschenden Einfluss Luzifers auf seine Empfindungsseele Einhalt gebieten und anstatt aufgehen in seiner Traum-Wirklichkeit, müsse er sich gegenüber ehrlich bleiben; dürfe er nicht fliehen vor sich, der Welt, der Wirklichkeit. Ähnlich verhält es sich mit Ahriman: Gerade weil es in der Natur seines Wesens liegt, uns ans Irdische, ans Materielle zu binden und dadurch loszulösen von dem, was uns dieses verwandeln und überdauern lassen würde: unsere Seele, sei es an uns, die Begegnung mit seinen Kräften in ihr Gegenteil zu kehren: uns nicht verführen zu lassen von seiner Lüge und seinem Macht- und Gewaltdenken, sondern stattdessen unsere Verstandesseele dahingehend einzusetzen, das Geistige emporzuheben, anstatt es zu verleugnen. Ihre Dialektik, das Zwischenspiel aus Hineinfühlen und Emporschwingen, gelte es zu verstehen, um wahrhaft durchzudringen zu dem, was uns zu der Erkenntnis und Erfüllung unserer wahren Bestimmung verhelfe: die Begegnung mit Christus.
Christus, so die Auffassung Steiners, trage in sich in kosmisch gerechtfertigter Art die Zukunftsimpulse der Menschheit. Sich mit ihm zu verbinden, hieße für die Menschenseele ihre eigenen Zukunftskeime kosmisch gerechtfertigt in sich aufzunehmen. Jene Wesen jedoch, die heute schon Wandlungen aufwiesen, die kosmisch gesehen für den Menschen erst in der Zukunft zugänglich seien, gehörten bereits der ahrimanischen Sphäre an: Indem sie den kosmischen Weltenplan nicht mehr respektierten, sondern ihn durch ihre Wissenschafts-Gläubigkeit und Technik-Vergötterung zu überlisten versuchten, stünden die ahrimanischen Verlockungen – anders als jene «luziferischen Illusionen», denen zu verfallen bedeute, nicht bis zur letzten Stufe der Menschwerdung, zur wahren Freiheit mehr vorschreiten zu wollen, sondern auf einer zu frühen Stufe der Entwicklung stehen zu bleiben – für eine Form von metaphysischer Ungeduld: «nicht warten wollen, bis bei einem bestimmten Grade des Menschtums der rechte kosmische Augenblick gekommen ist, sondern diesen Grad vorausnehmen wollen.»2 Ihre automatenhafte Materialisierung führe nicht nur zu Kontakt- und Ichlosigkeit — die Seelenverfinsterung Ahrimans gleiche obendrein einer «Welten-Sucht», deren Beschleunigungsdrang sich derzeit in Form von Transhumanismus und Metaverse selbst zu überholen droht.ㅤ
Der Mensch müsse, so schreibt Steiner am Ende seines Lebens in der letzten Märzwoche 1925, «die Stärke, die innere Erkenntniskraft finden, um von Ahriman in der technischen Kultur nicht überwältigt zu werden». Er müsse seine außerirdische «Über-Natur» durch ein Hinaufsteigen ins Geistige genauso begreifen, wie er die «Unter-Natur», zu dessen Technik und Materialismus er hinabgestiegen ist, als solche verstehen muss. Um mit seinen naturverneinenden Lebensinhalten fertig zu werden, brauche das neue Zeitalter eine «über die Natur gehende Erkenntnis». Fernab von Rückschritt und Zivilisationsvergessenheit gehe es darum, «dass der Mensch den Weg finde, die neuen Kulturverhältnisse in ein rechtes Verhältnis zu sich und zum Kosmos zu bringen.» Im Kern gehe es darum, die zeitgenössischen Entwicklungen «mit wachem Seelenauge [zu] verfolgen» und die eigene Seele für ein «offenes, freies Urteil» zu stärken; sich nicht blenden zu lassen und stattdessen einen «wirklichen Wahrheitssinn» zu entwickeln3. Einzig ein Bewusstsein über die Kraft der «spirituellen Wissenschaft, der Geisteswissenschaft» könne – gemeinsam mit der Gewahrwerdung seiner tätigen und schöpferischen Individualität – die ihm selbst innewohnenden Kräfte des Menschen neu entstehen und ihn selbst zu voller Wirksamkeit gelangen lassen.
Das Weltgedenken Michaels
Worin aber besteht nun des Menschen Weg zu Christus? Die Antwort Steiners lautet: im Wirken Michaels. Insofern einzig die Verbindung zu Christus bedeute, sich auch vor dem Ahrimanischen in rechter Art zu bewahren4, sei es seine Parallelität mit dem Michael-Erlebnis, die den Menschen inmitten von luziferischen Realitätsflüchten und dem ahrimanischen Hochmut, sich die Zukunft vorwegzunehmen, seinen rechten Freiheitsweg finden lässt. Michael-Christus, so schreibt auch Peter Selg in seinem Werk «Die Zukunft Ahrimans», werde «als das Richtungs-Wort stehen im Beginne des Weges, auf dem der Mensch kosmisch-gerecht zwischen den luziferischen und den ahrimanischen Mächten zu seinem Welten-Ziele kommen kann»5.
Um die Polarität ihrer Geistesmächte und wie ihr Kampf um den Menschen sowohl in der Welt wie in ihm selbst zu wirken vermochte, wusste Steiner nur zu gut. Zwecks ihrer Auflösung ließ er seine Leitsatz-Aufsätze zu Michael, welche die Motive seiner Karmavorträge fortführen und zur inneren, spirituellen Substanz der anthroposophischen Bewegung gehören, in einem Aufsatz vom 16. November 1924 kulminieren, indem er das Erstarken Michaels im Menschen durch und nicht wegen der Inkarnation Ahrimans betonte: Das Wirken Michaels in der Welt und im Menschen sei schließlich keine durch die Inkarnation Ahrimans in Gang getretene Zwangsläufigkeit, – Ahriman musste inkarnieren, damit Michael in seinem Wirken für den Menschen überhaupt erst sichtbar werden konnte.
Denn gleich Michael seine Intellektualität durch den Kosmos hindurch in der Vergangenheit entfaltete, stand er hierbei – anders als Ahriman – stets im Dienste «der göttlich-geistigen Mächte, die sowohl ihm selbst wie dem Menschen den Ursprung gegeben haben». Erst als das Verhältnis des Menschen zu seiner Intellektualität ins Wanken geriet und diese zusehends Zugang zum Inneren seines Wesens zu finden begann, ergriff er Stellung und beschloss, sich fortan «in rechter Art zur Menschheit zu stellen», um dieser dabei zu helfen, ihre Intellektualität durch ihre Herzen anstatt durch ihre Köpfe strömen zu lassen. Ganz anders als Ahriman, der sich bereits in urferner Vergangenheit aus der von göttlich-geistigen Mächten gekennzeichneten Entwicklungsströmung herausgerissen und als selbstständige kosmische Macht neben sie gestellt hat, hat Michael sich die Intellektualität nie angeeignet. Im Gegenteil: «Er verwaltet sie als göttlich-geistige Kraft, indem er sich verbunden fühlt mit den göttlich-geistigen Mächten.»
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Diametral entgegengesetzt zu Ahriman, dessen «kaltfrostiger, seelenloser» Impuls mit Herz und Seele nichts zu tun hat und von dem aus sich eine Logik entwickelt, die deshalb «in erbarmungs- und liebeloser Art für sich selbst zu sprechen scheint», – weil es nicht mehr der Mensch ist, der hier aus einer rechten, inneren, herzlich-seelischen Verbundenheit mit sich und dem was er denkt, fühlt und tut, zu sprechen vermag, sondern Ahriman, – zeigt sich das kosmische Wirken Michaels im Menschen dadurch, dass er diesen insofern durchdringt, dass in ihm der Raum entsteht, «ein Ausdruck des Herzens, der Seele ebenso gut zu sein wie ein solcher des Kopfes, des Geistes». Während Ahriman spaltet, führt Michael zusammen, was zusammengehört. Alle Türe, die Ahriman schließt, schubst Michael wieder auf.
Indessen für Michaels Wallen durch den Zeitenlauf sein tiefes Verbundensein mit dem Leben und ihren «intelligenten Inhalten» – kurzum: sein Bejahen der Welt durch das Bejahen seiner Selbst – für Steiner als wesenhaft galt, beschrieb dieser die Abgespaltenheit Ahrimans wie folgt: «Er möchte in seinem Gange aus der Zeit den Raum erobern, er hat Finsternis um sich, in die er die Strahlen des eignen Lichtes sendet; er hat um so stärkeren Frost um sich, je mehr er von seinen Absichten erreicht; er bewegt sich als Welt, die sich ganz in ein Wesen, das eigene, zusammenzieht, in dem er sich selber nur bejaht durch Verneinung der Welt; er bewegt sich, wie wenn er die unheimlichen Kräfte finsterer Höhlen der Erde mit sich führte.»6
Eigensein und Weltenliebe
Neben ihrer Un- oder Verbundenheit lag ein Unterscheidungsmerkmal des Wirkens Ahrimans oder Michaels im Menschen für Steiner somit in dessen Grad an Weltzugewandtheit. Er schreibt: Nur «wenn der Mensch die Freiheit sucht, ohne Anwandlung zum Egoismus, wenn ihm Freiheit wird reine Liebe zur auszuführenden Handlung, dann hat er die Möglichkeit, sich Michael zu nahen; wenn er in Freiheit wirken will bei Entfaltung des Egoismus, wenn ihm Freiheit wird das stolze Gefühl, sich selber in der Handlung zu offenbaren, dann steht er vor der Gefahr, in Ahrimans Gebiet zu gelangen»7. Solange er jedoch mehr «Glied» ist als er selbst, bleibt der Mensch in seiner Intellektualität hineingezogen in den geistigen Automatismus Ahrimans: «All sein Denken wird Erlebnis des Kopfes; allein dieser sondert es vom Eigenherzerleben und eignem Willensleben ab und löscht das Eigensein aus.»8 Er «verliert immer mehr von seinem innerlich wesenhaft-menschlichen Ausdruck, indem er Ausdruck seines Eigenseins wird; er verliert sich, indem er sich sucht; er entzieht sich der Welt, der er die Liebe verweigert; aber der Mensch erlebt sich nur wahrhaft, wenn er die Welt liebt.»9
Erst wenn sich der Mensch als freies Wesen in der Nähe Michaels fühle, würde er in dem Maße «immer mehr Mensch, indem er Ausdruck der Welt wird; er findet sich, indem er sich nicht sucht, sondern in Liebe sich wollend der Welt verbindet.»10 Oder mit anderen Worten: Solange der Mensch aus seiner Eigenliebe zu sich selbst handelt, waltet Ahriman durch ihn. Erst in der Liebe zur Handlung zeigt sich Michael. In eben dieser Ernsthaftigkeit, mitsamt seinem Wesen, seiner Haltung und seines Handelns in Liebe durch die Welt zu wandeln, bestand für Steiner die wahre Aufgabe Michaels: Indem er dem Menschen dazu verhilft, im Verhältnis zu seiner Außenwelt seine Liebe zu entfalten, verhilft er diesem zu einer Liebe seiner Selbst, die für sich genommen keine Selbstliebe, kein Egoismus ist, sondern die reine Strahlkraft seiner Liebe zur Welt zurück auf ihn selbst. Wer dieses liebevolle Verhältnis zu seiner Außenwelt pflege, der fände auch das rechte Verhältnis zur Innenwelt seiner eigenen Seele, welches ihn wiederum mit Christus zusammenführt.
Sich selbst einem Zeitalter des Unbewussten ausgesetzt, könne sich der Mensch seiner Menschheit nur bewahren, wenn er aufhörte, das mechanische Bild, das Ahriman ihm zeigt und durch das er ihn seinem geistigen Automatismus verfallen zu lassen versucht, fortzusetzen, und stattdessen «diesem Bilde, in dem er sich als in dem Bilde der Naturanschauung verliert, das andere gegenüberstellt, in dem Michael waltet, in dem Michael die Wege zum Christus führt.»11
Die Neugeburt des Moralischen
Wie aber kommt der Mensch in ein rechtes Verhältnis zu sich und der Welt? Wie können wir mit der Herausforderung des Bösen so umgehen, dass wir ihre Probleme nicht nur abwehren, sondern an der Auseinandersetzung mit ihm moralische Kräfte und soziale Fähigkeiten entwickeln, die unser menschliches Miteinander wieder verlebendigen? In seiner Vortragsreihe «Drei Geheimnisse der Schwelle» aus dem Jahre 1913 positioniert sich Steiner zu dieser Fragestellung mehr als deutlich:
«Nicht dadurch führt man die richtige Wirksamkeit einer Kräfte- oder Wesensart herbei, dass man sie wegschafft, sondern dadurch, dass man sich in das richtige Verhältnis zu ihnen stellt. Und diese Wesenheiten, die die luziferischen und die ahrimanischen sind, sind ganz falsch aufgefasst, wen man einfach sagt: Das sind schädliche, sind böse Wesenheiten. – Dass sich diese Wesenheiten in einer gewissen Weise auflehnen gegen die allgemeine Weltenordnung, die schon vorgezeichnet war, bevor sie in diese Weltenordnung eingetreten sind, rührt nicht davon her, dass diese Wesenheiten eine schädliche Tätigkeit unter allen Umständen ausüben müssen, sondern davon, dass diese Wesenheiten wie die anderen, die wir als die rechtmäßigen Wesenheiten innerhalb der höheren Welten kennenlernen, ein bestimmtes Gebiet ihres Wirkens im Ganzen der Weltenordnung haben. Und die Auflehnung, das Gegenwirken gegen die Weltenordnung besteht darin, dass sie dieses Gebiet überschreiten, dass die Kräfte, die sie auf ihrem rechtmäßigen Gebiet ausüben sollen, über dieses Gebiet hinaus ausüben.»
Das Stichwort an dieser Stelle lautet «Überschreiten»: In seinem Vortrag vom 21. Januar 1921 im Goetheanum sprach Steiner mitunter über die Bedeutung eines bewussten «Hinblickens» in Bezug auf die Präexistenz unserer Seele und ihren kosmischen Inkarnations- und Entwicklungswillen innerhalb ihrer spezifisch-irdischen Individualität. Erst in dieser Weite unseres eigenen Menschenbildes seien wir dazu in der Lage, uns der geistigen Welt als zugehörig zu empfinden. Erst in der Auflösung von Leben und Tod, von Innen und Außen, von Ich und Du seien wir bereit, Teil jener «Lebenskraft» zu werden, in der wir uns nicht mehr getrennt erleben von der Welt und dem Leben als solchem.
«Da löscht für sie überhaupt das Licht aus, in dem sie sich bewegen. Da kommen sie nicht weiter, da verlieren sie die Richtung, da fühlen sie sich wie in einem Abgrund, wie im Bodenlosen. Und daraus können sie ersehnen, dass es eine ahrimanische Tat ist, die Menschheit davon abzuhalten, vom Ungeborensein zu sprechen.»12
Während Steiner in diesem Zusammenhang auch von einer «Neugeburt des Moralischen» sprach, deren Hauptanliegen darin bestand, durch das pädagogische Wegräumen von Hindernissen, Erinnerungsprozesse zu fördern, die den Menschen nicht belehren, sondern seine moralische Intuition und Fantasie wiedererwecken, wurde er zwei Monate später, genauer gesagt am 13. März 1921, deutlicher und betonte, dass der «Kampf» um die Anerkennung der menschlichen Präexistenz als auch den Begriff der «Ungeborenheit» nun «mit aller Energie» geführt werden müsse13. Der Mensch müsse erkennen, «dass er war, ehe er geboren oder empfangen wurde im physischen Dasein. Er muss ehrerbietig und heiligend aufnehmen dasjenige, was ihm aus göttlich-geistigen Welten zugeteilt war vor diesem physisch-irdischen Dasein. Allein in diesem «Anker ins Übersinnliche» – dadurch, dass er zu dem Glauben an das Nachtodliche fügt das Erkennen des Vorgeburtlichen, bereitet er seine Seele so vor, dass sie von Ahriman nicht angefressen werden kann.»14
Der moderne Rosenkreuzer
«Hingefunden werden muss durch die Arbeit am Inneren der Menschenseelen der Weg zum Heiligen Gral. Das ist eine Erkenntnisaufgabe, das ist eine soziale Aufgabe.»15
Der Mensch habe die Aufgabe, sich als «Geist unter Geistern» zu begreifen. Unter diesem Satz könnte man die vorhergegangenen Worte Steiners wie tatsächlich auch die Philosophie der Rosenkreuzer zusammenfassen. Ihre Aufgabe in der heutigen Zeit fasste Bernhard Lievegoed in seinem Buch «Über die Rettung der Seele» unter nichts Geringerem zusammen als «an der Veredelung der Materie» zu arbeiten. Denn gleich Steiner einst äußerte, die Erde müsse durch Menschenhand zu einem Kunstwerk werden, könne nur dieses Kunstwerk, sprich das aus ehrlicher Menschenhand Entstandene, zum Keim einer künftigen Entwicklung des Menschen werden.16
Was uns zurück zu der Liebe Michaels führt, deren Reinheit auch den Rosenkreuzer in seinem Handeln zu einer Hinbewegung auf die Welt führt. Seine geduldige Absichtslosigkeit beschreibt Lievegoed wie folgt: «Der Rosenkreuzer muß lernen, mit Fragen zu leben und abzuwarten, bis der Augenblick da ist, wo die Antwort aus der geistigen Welt erklingen kann. Auch wenn das vielleicht zwanzig, dreißig, vierzig Jahre dauert. Nur mit dieser Haltung überwindet man Ahriman. Es geht nicht um den äußeren Erfolg, sondern um das Durchtragen.»17 Die Last der Antwortlosigkeit zu tragen und dennoch im Fragen zu bleiben – darin bestehe die meditative Lebensform des Rosenkreuzers. Allein in ihr gelänge es ihm, «das wollende Ich und das gewollte Ich, den eigenen Daseinsgrund nicht aus den Augen zu verlieren, den wirken-wollenden Daseinsgrund»18.
Das rosenkreuzerische Wirken gegen Ahriman, Luzifer, aber auch gegen Sorat oder Asuras lässt sich nicht auf seinen Kampf gegen den Materialismus, sein sich dem Tode der Materie Entreißen, reduzieren. Seine Selbstlosigkeit und sein «sieghafter Geist» liegt vielmehr in seiner Hingabe an den «Lebensstrom der Menschheit». Dem Rosenkreuzer ist es gelungen, seinen natürlichen Egoismus zu überwinden und in seiner Überschreitung den Christus-Weg der Nachfolge zu beschreiten. Der Rosenkreuzer kennt die Hingabe an das Leben, das Bejahen der Welt. Ihm ist es gelungen, «den Grundstein im Herzen zu beleben».
Der Rosenkreuzer hat erkannt, dass der einzige Weg, sich gegen das durch Ahriman induzierte Erstarren seines Ätherleibes zu immunisieren, darin besteht, «metamorphisierend»19 zu denken. Diese Fähigkeit müsse er entwickeln, wolle er den wahren «innersten Ruf der Menschheit» verstehen und erneut Sucher des Heiligen Grals werden. Einzig mit dem Unterschied, dass die durch ihn wirkende Metarmorphose ihn hat erkennen lassen, dass er diesen niemals im Außen finden wird. Der wahre Gral, dessen ist sich der Rosenkreuzer bewusst, liegt in ihm selbst.
Selg, Peter (2021): Die Zukunft Ahrimans. Und das «Erwachen der Seelen». Zur Geistesgegenwart der Mysteriendramen. Dornach, Seite 26.
Rudolf Steiner (2010): Anthroposophische Leitsätze. Der Erkenntnisweg der Anthroposophie. Das Michael-Mysterium. Erstveröffentlichung in der Wochenschrift «Was in der anthroposophischen Gesellschaft vorgeht» 1924/25. Rudolf Steiner Online Archiv, Seite 92.
Steiner zitiert nach Selg, Peter (2021): Geistiges Überleben. der Abgrund des Materialismus und die Aufgabe der Anthroposophie. Dornach (Verlag am Goetheanum), Seite 14.
Steiner (2010), Seite 91.
Ebenda, Seite 92.
Ebenda, Seite 102.
Ebenda.
Ebenda, Seite 103.
Ebenda.
Ebenda.
Ebenda, Seite 104.
Rudolf Steiner, Die Verantwortung des Menschen für die Weltentwicklung durch seinen geistigen Zusamenhang mit dem Erdplaneten und der Sternenwelt. GA 203, S. 275f.
Vergleiche Selg (2021), Seite 45ff.
Rudolf Steiner, Die Verantwortung des Menschen für die Weltentwicklung durch seinen geistigen Zusamenhang mit dem Erdplaneten und der Sternenwelt. GA 203, Seite 274.
Rudolf Steiner: Perspektiven der Menschheitsentwicklung. Der materialistische Erkenntnisimpuls und die Aufgabe der Anthroposophie. GA 204, Seite 104.
Lievegoed, Bernard (1994): Über die Rettung der Seele. das Zusammenwirken dreier grosser Menschheitsführer. Stuttgart (Verlag Freies Geistesleben), Seite 73.
Ebenda, Seite 82.
Selg (2021), Seite 64.
Lievegoed (1994), Seite 87.
Liebe Lilly, wieder einmal zutiefst erfüllt von einem Text aus "deiner Feder" (der soviel mehr ist, als ein Text), der mir so viele neue Denkanstöße und Erkenntnisse liefert, mich mit dir verbindet, auf der Ebene des Geistigen und zugleich mit der Herzebene, sitze ich hier an diesem Mittwoch Morgen, fühle die Schwingungen und sage DANKE aus tiefster Seele ❤️🙏
Jutta beschreibt es treffend, dieser Text liefert wie bisher alle anderen von Dir, wunderbare, breit gefächerte Denkanstöße, welche für mich niemals brach liegen bleiben können, auch wenn mir der Inhalt anfänglich nicht immer gleichermaßen behagt. Egal ob ich alle Ansätze teile oder nicht, sie sind ein Anreiz, in Themen tief einzutauchen. Wie oft habe ich bereits nachgeschlagen, habe Zitate verfolgt, mir gar Bücher ausgeliehen, gekauft. Danke! Deine Kunstauswahl erstaunt mich stets, weil sie mir so uneingeschränkt gefällt, aus der Seele spricht.
- Und wäre Christus tausendmal in Bethlehem geboren, und nicht in dir: Du bliebest doch in alle Ewigkeit verloren - Angelus Silesius