Wie leicht war es, die Welt zu lieben, als man noch wenig von ihr wusste? Und wie schwer ist es, in ihr Heimat zu finden, hat man einmal damit begonnen, an ihrem Schlaf zu rühren? Wer nach seinen Gründen zu suchen beginnt, begibt sich in Sphären, aus denen er nur ohne sich selbst zurückkehren kann. Im Versuch, sie zu verstehen, verliert der eine seinen Verstand. Und im Versuch, ihren Schmerz wieder ungefühlt werden zu lassen, der andere sein Herz. Zu bedrohlich ist die Erfahrung, verschließt sich die Welt gerade in dem Moment, wo wir selbst uns ihr gegenüber öffnen. Distanz als Antwort auf Nähe, Fortbewegung als Antwort auf die eigene Hinbewegung; für den fühlenden Menschen gibt es nichts, was einer härteren Strafe gleicht.
Ähnlich der Erklärung von Weltzusammenhängen kann folglich auch das Gefühl des Ausgegrenztwerdens zweierlei Ursprung haben: einen menschlichen und einen kosmischen. Beide entspringen dem gleichen Impuls. Als Erfahrungen des Getrenntseins sind sie Teil unserer Individuation und damit des Menschseins als solchem. Und doch folgen sie nicht derselben Bewegung: Während Ersterer die Vervollständigung seiner Selbstwerdung zum Selbstzweck nimmt, besteht das Wesen der kosmischen Ausgrenzung darin, immer unvollständig zu bleiben. So erweist sich die Geschichte seiner Abnabelung als eine, die immer schon in Gang gewesen ist: Genauso wie er mit dem Gefühl von Verlassenheit bereits auf die Welt gekommen ist, anstatt sie erst in dieser zu erfahren, hat auch Trennung nicht zu seiner Individuation geführt — Trennung ist seine Individuation.
Für den kosmisch Ausgegrenzten wird es kein »Ankommen« geben. Anders als für den menschlich Ausgegrenzten, der nur fortzuleben braucht, um anderswo Anschluss zu finden, wird es das Gefühl, »dazuzugehören« für ihn nicht geben. Und wenn er ehrlich mit sich ist, weiß er auch, dass menschliche Zugehörigkeit seine Einsamkeit nicht lösen wird. Was er fühlt, ist schließlich keine Einsamkeit. Es ist das Gefühl des Fremdseins. Und von diesem Fremdsein, dessen ist der Fremde sich gewahr, wird er sich in dieser Dimension nicht erlösen können. Wahrhaft fremd in dieser Welt ist am Ende der, für den diese Welt nirgends Heimat bietet und niemals Heimat bieten wird.
Der Existenzfall des Unzuhauseseins
»Philosophie ist wirklich Heimweh – der Wunsch, überall zu Hause zu sein.« Mit diesem Zitat von Novalis begann Georg Lukács 1916 seinen Essay »Theorie des Romans«. Die moderne Philosophie, so postuliert Lukács in enger Beziehung zu der Vorstellung von Novalis, trauere »um das Fehlen einer vorsubjektiven, vorreflexiven Verankerung der Vernunft«. Bestand das Formbestimmende und das Inhaltgebende ihrer Dichtung einst darin, jene urbildliche Landkarte aufzuzeichnen, auf der sich das »Symptom des Risses zwischen Innen und Außen, ein Zeichen der Wesensverschiedenheit von Ich und Welt, der Inkongruenz von Seele und Tat« im Zugeordnetsein der Transzendenz zu erlösen vermochte, scheinen »die Zeiten, für die der Sternenhimmel die Landkarte der gangbaren und zu gehenden Wege ist und deren Wege das Licht der Sterne erhellt«1, an Seligkeit verloren zu haben.
Der Mensch habe seine metaphysische Bedeutsamkeit eingebüßt. Der »Angemessenheit der Taten an die inneren Anforderungen der Seele: an Größe, an Entfaltung, an Ganzheit« sei er nicht mehr gewachsen. Seine »Leidenschaft der von der Vernunft vorherbestimmte Weg zur vollendeten Selbstheit« stehe fortan unter dem »Zeichen einer sonst zum Stummsein verurteilten transzendenten Macht«. In ihr »gibt es noch keine Innerlichkeit, denn es gibt noch kein Außen, kein Anderes für die Seele.« Lukács schreibt: »In der Neuen Welt heißt Mensch-Sein: einsam sein«2 und bezeichnet mit seinem Begriff der »Transzendentalen Obdachlosigkeit« eine Grundbedingung des modernen Lebens: Indem der Mensch Gott für tot erklärt hat, hat er sich seines eigenen Schutzraumes, der Transzendenz und damit auch der Aussicht auf ein Sein nach dem Tod entledigt. Ohne Halt und ohne Ziel findet der säkularisierte Mensch sich in eine Welt geworfen, die offenbar nicht nur keinen Sinn mehr hat; sondern der er obendrein auch keinen Sinn mehr zu verleihen vermag. In ihrer hervorgebrochenen Nichtigkeit fühlt sich der von ihr Verstoßene selbst bedroht.
Das Gefühl des Unzuhauseseins in der Welt, so schrieb schon Heidegger, breche folglich vor allem in der Angst hervor; eben dann, wenn die vordergründige Schicht des »In-Seins« als das vertraute Wohnen und Sich-in-der-Welt-Aufhalten in seinem bisherigen Schein verglimmt. Erst in der Angst zeige sich, dass der tiefere und ursprüngliche Modus des In-Seins das Unzuhause-Sein ist. In der Konfrontation mit der Welt, im Erkennen der eigenen Nichtigkeit ist der Heimatlose einer Kierkegaard’schen Verzweiflung ausgeliefert, deren innere Abgründe Peter Sloterdijk in seinem Buch »Weltfremdheit« beschreibt: »Mein Leben ist ein Theater des Zitterns darüber, dass ich anders zu sein habe als alles, was den Komfort genießt, Ding unter Dingen, Wesen unter Wesen zu sein. Warum trifft es mich?« — Eine Frage, die sich ein jeder stellt, der meint, entweder zu viel verstanden zu haben, oder nichts mehr zu verstehen; der sich insgeheim wünscht, der Dinge wieder unwissend zu werden; der nur noch darauf hofft, dass es aufhört.
Doch »zu den Kennzeichen dieser Erfahrung des Seins im Ichsein«, führt Sloterdijk fort, »gehört ihre Plötzlichkeit. Ein Riß im Gehirnkino, das sich für Denken hält, und die jähe Gegenwart der Grundfraglichkeit klafft auf, für die sogar die reichsten Begriffe: Sein, Grund oder Gott nur konventionelle Vorstellungen sind.«3 Ihm zufolge könne uns das Gefühl der eigenen Existenz – und damit zeitgleich der Nichtigkeit der eigenen Existenz – jederzeit überkommen. Vor ihr gäbe es keinen sicheren Schutz. Weder Theorie noch Alkohol, keine Vorsorgeuntersuchungen oder regelmäßigen Waldläufe könnten ausschließen, dass bei uns über Nacht der »Existenzfall« eintritt. Was immer wir täten und worin wir uns auch immer zu flüchten versuchten: Nichts auf der Welt könne eine »lückenlose Daseinsverhütung garantieren.«4
So bleiben dem, den das eigene Dasein überkommt, nur zwei Wege, mit diesem umzugehen: Entweder er nimmt es an, oder er versucht, ihm zu entkommen. Entweder er will der sein, der er ist, oder er muss ein anderer werden, um zu dem zu kommen, was er in Wirklichkeit ist – »das aporetische, das ausweglose Lebewesen. Er ist das Wesen, das aus sich selbst etwas anderes machen muss, als es ist, um seine Auswegslosigkeit zu ertragen«. Sein Leben, darum kommt der heimatlose Fremde nicht drum herum, besteht in »der Flucht nach vorn« – in der Metamorphose ohne Ziel.
Die Freiwilligkeit der Abhärtung
»Bei der Einhausung in die faktische Welt lernen Menschen – vor allem in Kulturen mit hohem Herrschafts- und Einkreisungsfaktor – von frühester Jugend auf, mehr auszuhalten und hinzunehmen, als für sie gut ist; gleichwohl ist es für sie im Sinne des Überlebens gut, wenn sie mehr auszuhalten lernen, als im Sinne eines Lebens aus Freiheit hinzunehmen wäre. Die Aushaltestrukturen gehören zum eingekreisten Dasein wie die Selbstkontrollzwänge zur fortgeschrittenen Zivilisation. So ist neben der Flucht ins künftige Werden auch die Flucht ins Dulden und Aushalten eine prototypische Antwort von Menschen auf steigengende Unfreundlichkeiten der Weltverhältnisse.«5
Es wird immer Menschen geben, die es im Anbetracht einer aussichtslosen Welt bevorzugen, das Risiko, selbst eine Seele haben zu können, möglichst gering zu halten. Für sie, so erklärt Sloterdijk, gelte »das Gesetz des Hartwerdenmüssens. Für sie ist nicht wahr, dass die Liebe stärker ist wie der Tod.«6 Als vom Leben Angestrengte fügen sie sich seine Härten »noch einmal selber zu und schaffen somit die Ausgangslage zu depressiven Schwächungen. Wo solche in Gang gekommen sind, will das Subjekt im Grunde nicht, was es muß, sondern widerspricht mit einem Teil seines Wesens dem Daseinspensum. Es ist dadurch außerstande, den amor fati zu entwickeln, der alle Wechselfälle des Schicksals auf einer inneren Linie anordnet und keinen völlige äußeren Zwang, kein gänzlich selbstfremdes Fatum gelten lässt.«7
Die Geschichte jedoch, so führt Sloterdijk fort, habe gezeigt, dass sie selbst sich nicht ohne Seele bewältigen lassen: »Die Glücklichen«, das waren auch immer »die Weltfremden, die Verschonten, die am Rand gebliebenen«. Als »elementunsichere Subjekte« entwickelten sie sich zu »metaphysischen Problemtieren, die gelegentlich an ihrer Einbettung in die Welt irre werden«8. Anders als die bei der Einhausung in die faktische Welt für ihre Sinnlichkeiten Verhärteten, ist ihr bejahungsgeschwächtes Leben noch nicht vollends taub geworden, sondern »will um jeden Preis das Gefühl von Bodenlosigkeit und mangelnder Teilhabe zurückdrängen, das ihm in frühen Prägungen eingeschrieben wurde«.9
Die Weltfremden wissen, dass sie um die Pflicht, das Leben zu ertragen, nicht herumkommen können. Die Kant’sche Idee der Mündigkeit verstehen sie »als nachträgliche Einwilligung ins eigene Dasein«10. Sie existiert für sie »nur zusammen mit einer positiven Theorie der Endlichkeit: wir werden sterben; wollen wir deshalb das Leben nicht?«11 Obwohl der Heimatlose erkennt, dass er in dieser Welt nicht sein kann, gibt es für ihn auch kein Sein ohne sie. Er hat verstanden, dass depressiv nur der wird, »wer Gewichte trägt, ohne zu wissen, wozu.« In seinem »aussichtslosen Versuch, Nichtgewolltes doch zu wollen«, könne das Leben nicht länger auf seiner anonymen Grundhärte aufbauen – es werde für sich selbst zu schwer.12 Er weiß: »Stoisch aufgeklärt ist das Individuum, das einsieht, daß es nicht weg kann und besser auch nicht weg will von den Verhältnissen, die nicht verändert, sondern nur ertragen werden können«13.
Die Bewegung des Zur-Welt-Kommens
»Sklaven des Schicksals sind wir, und es fehlt uns Abstand zur Seele, um ihr Heim zu kennen, das Schicksal zwingen wir nur von uns fort durch den erzwingenden Eigenzwang des Schicksals. Wir sind zu fern in uns von äußrer Wahrheit, und leben in der Hitze jungen Irrtums, grad jung genug, sein Wirken zu verkennen. Uns fehlt die Doppelheit des Geistes, uns‘re Gegenwart unter Dingen wahrzunehmen […]. Aus uns spricht eine Sprache, nie erlernt und hält uns von der Wirklichkeit entfernt.« — Fernando Pessoa
Was also würde es bedeuten, wahrhaft In-der-Welt zu sein? In seinem Essay »Der Banner der Welt« führte der Stilist und lebenslange Außenseiter Gilbert K. Chesterton zur Beantwortung die Unterscheidung zwischen dem Optimisten und dem Pessimisten ins Feld. Der Unterschied zwischen ihnen beiden bestehe schließlich nicht darin, dass der Optimist das Universum so akzeptiert, wie es ist. Dieser Ausdruck eines ursprünglichen Treueverhältnisses entspringe für Chesterton eher einem kosmischen Patriotismus. Nein. Der Unterschied zwischen dem Optimisten und dem Pessimisten bestehe darin, dass dem Pessimisten die ursprüngliche, übernatürliche Verbundenheit mit den Dingen fehle. Als Rationalist akzeptiere er die Welt als ein Gemisch aus Gut und Böse und gebe sich damit zufrieden. Und das ist genau die Haltung, die Chesterton anprangert. Was er fordert, »ist nicht genug Kraft, um sich mit der Welt abzufinden, sondern genug Stärke, um sie voranzubringen.«14
Während der christliche Optimismus in der Tatsache gründete, dass wir nicht in diese Welt hineinpassen, hatte Chesterton selbst »dieses Loch entdeckt, dieses Problem, daß man es irgendwie schaffen muß, die Welt zu lieben, ohne auf sie zu bauen, daß man sozusagen die Welt lieben muß, ohne weltlich zu sein.«15 Ob diese Welt zu traurig sei, um sie lieben zu können, oder so fröhlich, dass man sie einfach lieben muss, sei folglich nicht der Punkt. Der Punkt, so Chesterton, sei vielmehr der, zu erkennen, »daß die Fröhlichkeit von etwas, daß man wahrhaft liebt, ein Grund ist, es zu lieben, und daß die Traurigkeit Grund ist, es noch mehr zu lieben.«16
Zu guter Letzt würde ich Sie an dieser Stelle gerne darauf hinweisen, dass ich durchaus versuche, von meinem Schreiben zu leben. Falls Sie also mich, und damit eben auch meine Arbeit, finanziell unterstützen möchten, würde mich dies sehr freuen. Ein bezahltes Abonnement kann ich ihnen übrigens auch gerne via Überweisung einrichten. Schreiben Sie mir hierzu einfach eine Mail. (Allgemein freut es mich immer sehr, wenn Sie mir schreiben und Ihre Gedanken mit mir teilen.)
Lukács, Georg (1971): Die Theorie des Romans. ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der grossen Epik. München/Unterschleißheim (Luchterhand), Seite 21f.
Ebenda, Seite 28.
Sloterdijk, Peter (1993): Weltfremdheit. Frankfurt am Main (Suhrkamp), Seite 17.
Ebenda, Seite 18.
Ebenda, Seite 57.
Ebenda, Seite 370.
Ebenda, Seite 57f.
Ebenda, Seite 85.
Ebenda, Seite 78.
Ebenda, Seite 267.
Ebenda, Seite 276, eigene Hervorhebung.
Ebenda, Seite 57f.
Eebena, Seite 61.
Chesterton, G. K. (2011): Orthodoxie. eine Handreichung für die Ungläubigen. (Fe-Medienverl.), Seite 144.
Ebenda, Seite 157f.
Ebenda, Seite 136.
Wunderbare Worte, tiefer Sinn. Danke von Herzen.
Und wieder ein Artikel, der mich eine Weile begleiten wird. Ein wohltuender Riss im Gehirnkino.