Trauer des Denkens
Februar 2024: Emile Ciorans Leidenschaft aus Langeweile als Antwort auf die Schwere des Seins. Siebzehn Thesen im Rauschen seiner Einsamkeit.
Bereits mit Anfang zwanzig verfiel Emile Cioran der Absurdität des Seins. Nach einem Anfall schrecklicher Schlaflosigkeit verfasste er mit «Auf den Gipfeln der Verzweiflung» die Vorahnung auf ein Werk, das ihn die dunkelsten Schattenseiten des Menschseins nicht nur erforschen, sondern am eigenen Leib erfahren lassen sollte. Angetrieben von Depression, Angst und Verzweiflung, wurde das Schreiben für ihn zu einer Frage nach Leben und Tod. Nicht sein Werk machte ihn traurig, es war seine Traurigkeit, die sein Werk formte.
«Sieben Jahre lang konnte ich kaum schlafen. Ich brauchte diese Depression, und noch heute, bevor ich mich zum Schreiben hinsetze.» — Emile Cioran
Der von 1911 bis 1995 lebende Emile Cioran fasste wie kein anderer in Worte, was niemand in Worte zu fassen vermag. Der gebürtige Rumäne litt an der Welt und war ihr damit näher als all diejenigen, die ihre Kritik an ihr rein rational verarbeiteten. Ohnehin zu groß war seiner Ansicht nach der Anteil derjenigen, die den Geist verherrlichten, ohne zu wissen, was er bedeutete; die niemals der Folter des Lebens ausgesetzt gewesen waren oder die beißenden Antinomien am Daseinsgrunde erfahren hätten. Wirklich «gefühlt» hätte den Geist nur der, der verstanden hätte, dass seine Gegenwart immer ein Defizit an Leben, viel Einsamkeit und langwieriges Leiden aufzeige. Erst müsse die Krankheit das Leben durchbohren, um ihn, den Geist, zu gebähren. Cioran gefielen folglich auch nur jene, die mit «der Selbstaufopferung für die Humanität, dem Gemeinwohl, dem Kult des Schönen» gebrochen hätten. Nur sie hätten absolut gelebt. Nur sie hätten das Recht, über das Leben zu reden.
«Die wahren Bekenntnisse kann man nur mit Tränen niederschreiben.»1
Das Leiden an der Welt war für Cioran ein Zustand innerlicher Einsamkeit. Für Außenstehende unverstehbar, für Vergleiche unzugänglich, sinnlos. Als Folge der Übermüdung und Erweiterung der eigenen Leere trenne sie den Menschen von der Welt und von den Dingen. Wahrhaft einsam sei nur derjenige, der sich zwischen Himmel und Erde vollkommen allein und verloren fühlt. Das Gefühl der eigenen Endlichkeit bringe ihn nicht nur dazu, vom Leben nichts mehr zu fordern und nichts mehr zu erwarten, sondern resigniert die Auflösung seines Lebens zu ertragen.
Die Hoffnung darauf, dass jemand kommen könnte, um ihn zu retten, hatte zumindest Cioran schon lange aufgegeben. Die einzige Suche, die ihm Zeit seines Lebens blieb, war die nach dem Wirklichen. Nur der Ausdruck, davon war er überzeugt, rette die Dinge aus ihrer fatalen Irrealität. Denn was bleibt uns schon von dem Erlebten im Gedächtnis haften? Die Freuden und Schmerzen ohne Namen, aber für die wir einen gefunden haben. Das Ungreifbare, das wir bereit waren zu greifen. Innerhalb eines Gefühls, einer Erinnerung, oder, wie in Ciorans Fall, im geschriebenen Wort.
«Durch Worte entladen wir uns von Lasten, durch die wir mehr wären. Die nicht schreiben, die sich nicht schreiben, leben unangetastet, sind unendlich gegenwärtig. Der Geist nagt am Möglichen. Und was wir Kultur heißen, ist ein sich Lossagen von unseren Quellen. Die Wesenlosen der Welt werden zu Wesen durch das Wort, um den Preis unser selbst. Der Ausdruck zeugt Leben auf dem Leichnam des Schöpfers. Nichts von dem, was du gesagt hast, eignet dir mehr. Und auch du gehörst dir nicht mehr. Keine Nacht, die ich durchschaute, ist mehr meine. Und auch keine Liebe.»2
Cioran selbst bezeichnetete sich als den verkommensten aller Menschen. Die Vorahnung des Verlassenwerdens begleitete ihn auf Schritt und Tritt. Wohlwissend um Erfahrungen, die man nicht überleben kann, litt er an der Unüberwindbarkeit jenes Bruchs, nachdem man nichts von dem, was man auch täte, mehr mit Bedeutung versehen kann. Seither gab es für ihn kein Argument mehr für das Leben. Er war fasziniert vom Selbstmord, und auch wenn er ihn in seiner Umsetzung nicht vertrat, wollte er nicht «leben, ohne sterben zu wollen». Die Einsamkeit als Zustand des Getrenntseins wurde zum Angelpunkt seines Denkens. Einem Denken, das uns weniger allein fühlen lässt mit der Überforderung des Lebens in Momenten tiefster Traurigkeit. Einer Traurigkeit, deren Angesicht so viel Innerlichkeit beweise, dass das Äußerliche das Innerste zugänglich macht.
Cioran selbst mag ein Misanthroph gewesen sein, oder zumindest als einer gelten, aber wenn es einen menschlichen Typus gab, für den er Mitleid hatte, dann war es der Versager. Für «den vom Leben Abgefallenen»; für den das Tragische eine äußerst schmerzvolle Intensität gewinnt, «weil sich die Widersprüche nicht nur in ihm selbst, sondern zwischen der Welt und ihm entfalten»3. Selbst das Monopol aufs Leiden innehabend, kannte Cioran das Gefühl, an der Sinnlosigkeit der Welt, wie auch der eigenen, zugrunde zu gehen, nur zu gut. Mit seinem Schreiben versuchte er aufzuzeigen, dass viele von uns nicht nur viel trauriger sind, als wir es uns einzugestehen vermögen, sondern im Kern alle an demselben leiden, aber bloß zu unsicher sind, um darüber nachzudenken, geschweige denn darüber zu sprechen.
«Lyrisch sein bedeutet, nicht in sich selbst verschlossen bleiben können.»4
Mir durchaus darüber bewusst, dass der Erfolg Ciorans mitunter in seiner Unnachahmlichkeit besteht und jeder Versuch der Nachahmung auf eine Parodie hinausläuft; bestand mein Anliegen darin, für die folgenden Zeilen den durchdringenden Klang Ciorans ein wenig beizubehalten, anstatt seine verzweifelte Negativität nur anhand der den «Thesen» vorangestellten Zitaten zu verdeutlichen.
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Zeitlose Endlichkeiten
1. «Du leidest an der Zukunft und stürzt dich ins Leben.» Auf der Suche nach dem Endziel, dem einzig wahren Augenblick, in dem sich dein ganzes Sein verdichtet, strebst du nach der Ewigkeit, der endgültigen Bestätigung deiner Existenz. Du träumst von den Weltgründen, doch deine Zerknirschung hat kein Ziel. Die Zeit ist so vereinzelt, dass du selbst an ihr zerbrichst. Also gehst du fort. Und beim Fortgehen schaust du dich um. «Im Gehen bist du ein Anderer und seiend – bist du nicht mehr.»
2. «Die Menschen verstehen sich nicht darauf, unnütz zu sein.» Ohne Wege, die du verfolgst, Ziele, die du erreichst, oder Bedürfnisse, die du meinst, erfüllen zu müssen, kannst du deine Unvollkommenheit nicht genießen. Zu sinnlos erscheint der Gedanke, der Sinn des Lebens läge in der Ekstase eben jener Unvollkommenheit. Du erträgst es nicht, ebenfalls der Ausdünnung der Welt anheimfallen zu sollen. Doch um nicht Teil ihrer Unwirklichkeit zu werden, müsstest du aufhören, in der Lüge zu leben. Das aber beißt sich mit deiner Furcht vor der Wahrheit, der Wurzel deiner Unvollkommenheit. Also schließt du, sie entspräche dir nicht. Du weißt, dass du ihr nicht gewachsen bist. Heimlich aber fragst du: «Warum ist das Herz außerstande, die Welt zu erlösen? Warum verrückt es die Dinge nicht in eine duftdurchwehte Unerschütterlichkeit?»
3. «Die Kluft zwischen der Seele und den Sinnen setzt das Schicksal mit dem Unheil in eins.» Wenn du dich mit Nichtigkeiten umgibst, spürst du nicht, wie der Fluch des Nichts, den du pausenlos atmest, selbst von dir Besitz ergreift. Verloren in den Lieblichkeiten des Seins, schirmt dein Wunsch nach Lust die Welt ab und unterbindet dir damit erst recht den Zugang über das Daseinsgefüge deiner Sinne. Deine Gelüste zehren zu sehr an dir, als dass du in deiner Anspannung Frieden finden könntest. «Du bist zernagt von Schmerzen, und die Begierden berauschen sich dadurch an der Welt. Vergebens lehnt dein Denken deren Bauwerke ab; die Leidenschaft stützt sie weiterhin.»
4. «Geist wie Zeit sind verfault. Waise des Seins und von dir selbst verlassen, ist der Wahnsinn ein sichereres Obdach als der Tod – in der Welt, wo der Verstand keine Zuflucht gewährt.» Mental ausgeschlossen wie transzendental verstoßen, bist du heimatlos im eigenen Kopf und unterm fernen Himmel. Die entgeistigte Zeit lässt dich mit nichts zurück als Empfindungen und Ideen. Die Gestirne sterben und wie sie fängst auch du irgendwann an, nur noch um dich selbst zu kreisen. Während deine Augen davon träumen, wie der Himmel auf dem Grund deiner Inbrunst erlischt, schleicht sich dein Schädel ins tränende Sein, zertrümmert ihn an der Materie deiner Trauer und tötet deine Zukunft «in den durchwachten Nächten des Schluchzens. Auf der kahlen Zeit gleiten Weltabwesenheiten, und von dem bleichen Leben bleibt nur ein stimmloses Wehklagen übrig, eingesikkert in die Schluchten des Verstands.»
5. Worin sich also ertränken? «In der Seine oder in Musik? Von den Unentwirrbarkeiten der Musik ergriffen, in ihnen verloren, geläutert von den Wechselfällen des Atems», sind alle Menschen gleich. In der «Nutzlosigkeit» der Musik, so schreibt Emile Cioran, erfahren wir das Sein ebenso wie das Nicht-Sein. Ihr «tönendes Nirgends» betäubt und belebt zugleich. Nicht dich, sondern deinen Wunsch, gleich den Dingen um dich herum, zu verschwinden. Dich gleich ihnen in die Dämmerung der Schöpfung einzuhüllen, um dich in ihrem Schatten vor der Zeit zu retten. Dein Wunsch, gemeinsam mit der Vergänglichkeit der Dinge zu verschwinden, vergiftet dir den Seinsdurst so unerbittlich, dass dich deine Lust auf Zukunft im Aufblitzen der Gegenwart erstickt. «Wahrhaft leben wir nur, indem wir eine Leidenschaft mit ihrem Gegensatz durchleiden.»
6. «In dir beweint die Welt den Bruch mit der Ewigkeit.» Du hältst es nicht mehr aus. Das nächtliche Wachen, die Ungewissheit, ob du schon bist, oder niemals warst. Es gelingt dir einfach nicht. Dein Geist erhebt sich nicht vor die Abgründe der Welt. Und insgeheim weißt du auch, dass du – so wie du jetzt bist – niemals zu ihm hervorbrechen wirst. Während die Zeit vor dir flieht, weißt du schon nicht mehr, wonach du suchst. Nach dir? Der Wahrheit? Der Liebe? Oder doch dem bloßen Nichtsein? Die Suche nach dem Suchen des zu Suchenden bleibt für dich ein lebenslanges Suchen.
7. «Wieviel Einsamkeit tut not, um Geist zu erwerben?»5 Für diejenigen, für die die Leere der Welt noch spürbar ist, gilt die Suche nach dem Wirklichen als einzig denkbares Ziel, das noch etwas an ihrem Vakuum der Vereinzelung ändern könnte. Es ist die Hoffnung, dass sich hinter der Welt noch eine andere verbirgt, und dass das Nichts, das dich umgibt, dir etwas verheimlicht. Doch «so tief du nach Schätzen gräbst, das Schürfen ist vergeblich: das Gold ist im Geiste versprengt, aber der Geist ist weit davon entfernt, Gold zu sein. Sollst du das Leben durch unnütze Archäologie verunglimpfen?»
8. «Das Sein ist von jeher armselig. Wir können ihm nur als Unwissende beispringen.» Der Geist will die Seele ergründen. Was aber, wenn dich an ihrem zum Herzen hinabgestiegenen Grund kein Klarsinn, keine absolute Sehkraft erwartet, sondern die verblühten Weiten deiner innerlichen Dürre? Erwartest du zu viel? Darfst du überhaupt etwas erwarten? Von dir, vom Leben, vom Dasein allgemein? Oder drohst du mit deinen von den Fangnetzen der hellsichtigen Zerfaserungen des Verstandes Erfassten; deinem permanenten Ergründen und Umkreisen dessen, was nicht erfasst werden will, das zu Erfassene erst recht unfassbar werden zu lassen? Mit anderen Worten: Erwürgt der Geist dich, oder erwürgst du den Geist?
9. «Auf alle unsre Fragen lautet die Antwort der Langweile immer gleich: Unsere Welt ist eine abgestandene Welt.» Ist es an Dir, sie neu zu beleben, oder kannst du an ihrem Vergehen nicht mehr ändern, als dich selbst zu beleben? Du weißt: «Leben ist nur in der Inbrunst der Seele.» Aber worin aufgehen, hat diese Welt dir doch nichts mehr zu sagen? Weder hebt dich deine Langeweile in den Rang des Orakels, noch drängt sich das Geheimnis der Materie durch deinen Pulsschlag, und auch kein Rhythmus ruft dich auf zu den Melodien des Unentschlüsselbaren. Wie alle anderen bist und bleibst du bloß «ein geborener Rekonvaleszent der eigenen Individuation. Sofern du von ihr nicht geheilt wirst und in dir selbst ohne Heilung verharrst, bist du Mensch. Aufgehen in der Natur, in der Menschheit, in Gott? Aber vor jedem Wollen bist du in dir ertrunken.»
10. «Von Geburt an schwebt der süße Fluch des privaten Daseins über dir. Unfähig zur Endlichkeit, ewig im Angesicht deiner selbst und der Endlosigkeit.» Geängstigt von deinen Ängsten, stürzt du in das Leben der Anderen. Du besuchst ihre Feste, tanzt ihre Tänze. Du suchst die Berührung. Aber das einzige, was du findest, ist die Leere, um die sie sich kreisen, und die Langeweile, die ihre Worte durchtränkt. Ebenfalls nahe daran zu verwässern, sagst du dir unwillkürlich: «Nur die sich entleiben, lügen nicht. Denn nur, wenn er stirbt, lügt der Sterbliche nicht.» Und so wendest du dich ab und gehst.
11. «Das Leben ist eine Unsterblichkeit von Schwermut.» Du verstehst nicht, was die anderen an dieser Welt bewegt. Fragst dich, ob dir nur der Zugang fehlt, oder gleich das ganze Verständnis. Du weißt: «Seitdem der Nutzen in der Welt aufkam, ist die Welt nicht mehr. Sie ist nicht mehr im Zauber. Die Anbetung allein achtet die Dinge an sich, und das Leben ist kein Leben ohne die Seligkeitstränen der Leiden, die es verursacht.»
12. «Es gibt zwei Weisen, die Einsamkeit zu erleben: dich einsam in der Welt und die Einsamkeit der Welt zu fühlen.»6 Ist erstere damit gleichzusetzen, dich jeder Resonanz zu entledigen, taub zu werden für das um dich Entstehende, meint zweitere den Schritt in die Tiefe. Die Einsamkeit der Welt zu fühlen bedeutet, nichts mehr auszuschließen; keine Angst mehr davor zu haben, an bestimmten Gefühlen zugrunde zu gehen, sondern stattdessen in ihnen aufzugehen. Das ist die eigentliche Fülle: die Verborgenheit der Dinge. Denn erst wenn du auch ihr Leiden in deinen Blick miteinbeziehst, kannst du sie als das sehen, was sie ihrem Wesen nach sind. Erst im Aufdecken ihrer Innerlichkeit, erhältst du Zugang zu den Erscheinungen, «auf welche die Unwirklichkeit eifersüchtig ist. Denn die Welt ist der Gestaltwandel unserer Einsamkeit – nach außen hin.»
13. «Die Nähe zur Ewigkeit bestimmt die Verwundbarkeit als eine dem Menschen wesentliche Eigenheit und die Vergeblichkeit – als den Zauber seines Wesens». Als einziges Tier, das für Nichtseiendes zu leiden vermag, wirst du stets blind dafür sein, was es heißt, sich im Irrtum zu üben: «Über die gewissen Wahrheiten des Zu-Ende-Gehens lachen, dem Absoluten keine Beachtung schenken, den Tod verwandeln in Scherz und in Zufall das Unendliche. Atmen läßt sich nur in den Urtiefen des Wahns.» Erst das kosmische Seufzen, das Zeugnis tiefster Öffnung, lässt uns das trügerische Endlos unserer Nichterfüllung vergessen. Erst wenn die Welt vor unseren Augen erlischt, fängt das Unendliche an, sich auszudehnen. «Wie die Zeit ist die Ewigkeit nacheinander Sünde und Erlösung.»
«Die Ewigkeit kann nicht mit der Leidenschaftlichkeit geliebt werden, mit der man ein Weib oder sein Schicksal oder seine eigene Verzweiflung liebt. Die Hinneigung zur Ewigkeit gleicht einem Aufflug zum sommerlichen Himmel oder dem Aufschwingen zur Unscheinbarkeit eines Sternenschimmers. Himmelblau und Sternenlicht sind Sinnbilder der Ewigkeit, in der du nichts mehr bereust und nichts mehr begehrst.»7
14. «Je mehr der Mensch aus einem deutlich abgegrenzten Dasein besteht, um so verwundbarer wird er.» Schwingung hält unsere Welt zusammen. Wo sie verklingt, verglimmen auch wir. Seitdem du dich selbst in deiner Begrenzung zum Allein erhoben hast, zieren dich die Zeichen des Allseins mit all ihrer Schwere. «Kein Ende hast Du mehr in einer Welt, die kein Halt ist.»
15. «Bist du du selbst geworden, ohne Grenzen in deiner Entgrenzung?» Du willst der Welt gegenüber freigebig sein. Dich in ihr verausgaben, dich verschwenden. Doch du findest in ihrer Entgrenzung keinen Halt. Und so weißt du zwar, dass Miteinanderleben nur in einer gemeinsamen Entrückung zu ertragen ist; gleichsam nichts unter dieser Sonne seltener ist als die Entrückung, und doch «verrückt dich niemand aus der Ichsucht des Atems ohne Grenzen in dein Gehäuse». Verschlossen bleibst du für dich und die Welt wie ein unbewohnter Planet. Dabei hast du «immer von einem Zuhause geträumt, worein das Weltall dringt».
16. «Die Funktion der Langeweile besteht im Zerreißen jenes Schleiers. – Werden wir so viel Singkraft haben, um ihn weiterhin über einer Scheinwelt schwingen zu lassen, die nur im Lodern unserer Einbildungskraft west?» Oder kommt irgendwann der Moment, in dem uns allerorts das Unwirkliche ins Auge springt? Wird sich der Schleier je vollends lichten, oder ist unser Herz bereits derart abstrakt, dass es nicht einmal mehr merkt, dass es nicht das Leben, sondern die Langeweile bejaht? Haust in uns ein «Herz, durch das die Zeit geflossen ist und in dem nur noch Ideen hausen, vom Moder belauert, in ihrer unbefleckten Kälte angekränkelt»? Fragen wir Emile Cioran, ist das Wesen der Dauer Langeweile und das des Kampfes in der Dauer Verzweiflung. Lieber glaubst du an etwas, das nicht da ist, um zu vergessen, was da ist. Du zum Beispiel. Indem du dich unter Idealen verscharrst und in Idolen einnistest, entledigst du dich der Zeit anhand allerlei Glaubensgewissheiten. Du ahnst, welch’ Rückschlag es für dich bedeuten würde, im Angesicht des reinen Daseins zu erwachen.
17. «Sobald du erwachst, bereicherst du dich zu Lasten des Seins.» Warst du im Traum noch in allem gestorben, beweinst du im Wachen dein eigenes Selbstsein. Anders als im Traum spürst du im Wachsein den Schatten eines Überschusses an Dasein, eine Sehnsucht nach etwas, was sein könnte – dem Ich einem Seinsschatten in allgemeinem Seinsmangel. Du beginnst zu zweifeln. Wie erklärt sich die Sehnsucht nach dem Sein? Wenn wir nicht beides, sondern entweder nur sein oder Nicht-sein können, was sind wir dann, wenn wir einen Seinsmangel verspüren? Nicht? Halb? Interjektionell? Dazwischengeworfen? Flüssig und unendlich umkehrbar? Was soll das für ein Zustand sein? Ein lebensferner? Ein lebenswerter? Oder vielleicht doch einer, der dem Leben am ehesten entspricht?
«Wenn du in frühester Jugend den verstimmten Klavieren der Provinz mit verkrüppelten Tonleitern, über denen du in endlosen Nachmittagen schluchztest, nicht gelauscht; wenn du später nicht Nacht um Nacht gewacht, Augenblicke errechnend mit einer Arithmetik des Unheilbaren; wenn du deiner Verbannung keine Zuflucht in Gestirnen, in Tränen, in verlassenen Jungfrauenaugen gesucht hättest – und nicht aus allen Wiegen des Seins ausgebrochen wärst –, würdest du heute die Leere kennen, die der Welt und deine eigene?»8
Ich weiß, etwas Zeit ist vergangen, aber wie im letzten Text angekündigt, war ich die Woche über mit Milosz Matuschek auf Lesereise. So schön diese auch war, bot sie leider nicht viel Zeit zum Lesen, geschweige denn zum Schreiben. Daher freue ich mich jetzt umso mehr über meine Schreibruhe im schönen Tessin, ehe es Mitte März wieder los geht. Anbei die nächsten Termine (Auswahl derer, wo ich dabei bin):
13.03. Chur, 19 Uhr, Hohenbühlweg 4, 7000 Chur, Urig Vereinslokal, Eintritt frei/Spende, Anmeldung per: info@urig-chur.ch
15.03. Bad Kohlgrub/Hotel Seinz, 20 Uhr, Doppellesung mit Prof. Michael Meyen, (Übernachtung im Hotel möglich, frühzeitige Reservierung empfohlen).
17.03. Dresden 11 Uhr (Matinee) im Rahmen der Jazztage (mit Kilian Forster Moderation/Kontrabass), Tickets hier.
22.03. Uster 19 Uhr, Eintritt frei/Spende, Anmeldung hier.
Alle weiteren Termine (laufend aktualisiert) finden Sie hier.
Cioran, Emile M. (1989): Auf den Gipfeln der Verzweiflung. Erste Auflage. Frankfurt am Main, Berlin (Suhrkamp Verlag), Seite 70.
Cioran, Emile M. (1996): Leidenschaftlicher Leitfaden. Frankfurt am Main, Berlin (Suhrkamp Verlag), Seite 74.
Auf den Gipfeln der Verzweiflung, Seite 64.
Auf den Gipfeln der Verzweiflung, Seite 8.
Auf den Gipfeln der Verzweiflung, Seite 18.
Auf den Gipfeln der Verzweiflung, Seite 69.
Auf den Gipfeln der Verzweiflung, Seite 91.
Leidenschaftlicher Leitfaden, Seite 83.