Vive la France!
Von der Anziehungskraft französischen Plunderteigs. Und warum Krieg keine Helden und Gewinner, sondern nur Opfer kennt.
«L’amour de la France est une longue maladie dont on ne guérit jamais tout à fait.»
(«Die Liebe zu Frankreich ist eine lange Krankheit, von der man sich nie ganz erholt.»)
— Marcel Proust (vermutlich)



Kein anderes Land auf dieser Welt verfügt über eine solche Sogwirkung auf mich wie Frankreich. Vielleicht Indien. Und doch nicht so stark, als dass ich den von dort ausgehenden Reizen nicht durch Yoga, die Upanischaden oder wöchentliche Daals und Currys Abhilfe leisten könnte.
Frankreich ist da anders. Ganzheitlicher irgendwie. Weniger kompensierbar. Frankreich erleben geht nur in Frankreich. In keinem französischen Restaurant und auch nicht durch Chanel, Zaz oder Filme mit Sophie Marceau.
ㅤㅤFrankreich ist, wenn ich in Frankreich bin. Da ist dieses Lebensgefühl, das ich anderswo nicht nur nicht leben kann, sondern anderswo auch nicht leben will. Es gehört nach Frankreich. Dort kann es sein. Und dort darf es bleiben. Bestünde die Möglichkeit, würde ich es nicht exportieren wollen. Ist meine Liebe doch groß genug, als dass sie mich über die Alpen versetzt. Wie auch anerkennen, dass Frankreich nicht mehr Frankreich wäre, würde ich es kolonialisieren wollen.
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Doch was ist es, das ich an Frankreich so liebe? Und was mich, um ehrlich zu sein, kein halbes Jahr in seiner Abstinenz verweilen lässt.
Als ich Anfang dieses Jahres für ein paar Tage in Südfrankreich unterwegs war, setzte ich bei meinen endlosen Fahrten über seine Landstraßen mehrfach dazu an, das, was mich an ihm allzeit so begeistert, auf fünf Dinge runterbrechen zu wollen. Wie gesagt, dauerte es ein paar Anläufe, doch irgendwann, auf Höhe Carcassonne einigte ich mich auf: seine Weizenprodukte (Baguette, Croissant, Pain au chocolat), seinen Wein, seine Kathedralen, seine Küsten, und – allem voran – seinen Widerstandsgeist.
Ist jeder Baguettekauf außerhalb Frankreichs eine Enttäuschung und schmeckt kein Cornetto und kein Kipferl je so gut, wie ein original französisches Crossaint (mit Café), fühle ich mich nirgends so lebendig wie in den Wellen vor Moliets-et-Maa, und selten so inspiriert wie an der Côte d’Azur. Wobei ich, während ich behaupten würde, den symbolischen Ästhetizismus französischer Kathedralen mittlerweile etwas besser zu verstehen, noch immer nicht weiß, ob dies auch für den letzten Punkt auf meiner Liste gilt. Denn gleich es zwar «Egalité, Fraternité (Solidarité à la Macron), Liberté) heißt, habe ich derweilen nicht den Eindruck eines positiven Freiheitsbegriffs seitens der Franzosen. Selten ist es ein «dafür». Oft genug jedoch ein «dagegen», das sich erst mit der Zeit und je nach ideellem Gegenentwurf in ein «dafür» wandelt. Was ich, um dies vorwegzunehmen, als einen sehr angenehmen Charakterzug empfinde.
«La France a toujours fait preuve d’une qualité précieuse : le courage d’avoir une âme.» («Frankreich hat stets eine wertvolle Eigenschaft bewiesen: den Mut, eine Seele zu haben.»)
— André Maurois (vermutlich)



Denn auch wenn ich ganz grundsätzlich Viktor E. Frankls «JA» zum Leben teile, bin ich zusehends der Auffassung, dass es zuweilen ein stärkeres «NEIN» bedarf. Und damit meine ich nicht nur aufdringliche Bezirzungen und übergriffige Gesten von Menschen, zu denen wir keinerlei derartige Resonanz verspüren. Ich spreche von einem klaren «Nein» gegenüber allem, was wir als Unrecht empfinden; was in uns ein Unbehagen auslöst; wo wir uns selbst als korrumpiert ansehen; was andere zu Unrecht ausgrenzt; und was gegen die natürliche Ordnung allen Lebens verstößt.
Selbstverständlich kann ich an dieser Stelle nur von mir sprechen, aber ich bekomme mittlerweile regelrecht Anflüge von großer Genervtheit, habe ich das Gefühl, abermals Zeugin einer großen Einlullung werden zu sollen. Als ob es nicht gereicht hätte, Menschen ihrer Freiheitsrechte zu berauben, ihnen als Erlösungsversprechen etwas zu injizieren, das ohne viel Glück jene «Erlösung» von einem Kardiologen oder Onkologen vollziehen lässt, und dies – als krönende Erniedrigung – mit einer Bratwurst belohnt wird. Oder noch krasser: Nach rund 80 Jahren mantraartiger Wiederholung jener zusehends ihrer gelebten Bedeutung beraubten Floskel «Nie wieder Krieg!», glaubt die Mehrheit Europas das Märchen vom «Verteidigungs»-Bündnis NATO und ihrem «Killer» im Osten, gegen den wir zum Schutze unserer Demokratie, unserer Kinder, unserer Bienen und Wälder (und was sonst noch alles zu unserer eigenen Ideologie gehört) eine geeinte Front bilden müssten.
Mir, auch wenn ich selbst nicht «mitgemacht» habe und darüber hinaus auch hoffe, in Zukunft niemals «mitzumachen», bereitet all’ dies wahrhaft Schmerzen. Und damit meine ich nicht nur einen gewissen Grad an Dummheit, der in solchen Szenarien zur Schau gestellt wird. Es ist der immer wiederkehrende Mechanismus, dem Menschen zu versprechen, ihn aus Situationen zu befreien, in die er überhaupt nicht geraten wäre, hätte der Staat oder sonst eine undemokratisch an die Macht gelangte NGO ihn nicht zuerst in diese befördert. Und ihn auf diese Weise von seinem eigenen Willen zu entkoppeln und seine Fähigkeit, «Nein» zu sagen, zu untergraben.
Ich mein – mal ganz ehrlich: Welcher normale Mensch will Krieg? Welche Mutter will in einem Brief mitgeteilt bekommen, dass ihr Sohn als Schweizer Käse irgendwo im Schützengraben oder auf dem Acker irgendeines enteigneten Bauern liegt? Welche Frau will ihren Kindern erklären müssen, wofür Papa Tolles gekämpft hat und wofür er letzten Endes stolzen Hauptes sein Leben gelassen hat? Wenn Sie mich fragen, kennt Krieg keine Gewinner. Und auch keine Helden, nur Opfer. In Bezug auf Krieg gibt es für mich nur Menschen, die sich an ihm beteiligen und jene, die es nicht tun. Oder mit anderen Worten: Jene, die sich ihren Sinn für Recht und Gerechtigkeit durch Erzählungen nehmen und umkehren lassen – und jene, deren Gefühl für die unaufwiegbare Würde allen Lebens so tief in ihnen verankert ist, als dass es durch keine Propaganda auf der Welt korrumpiert werden kann.
An diesem Punkt jedoch, so schwer es mir auch fällt, dies ernsthaft begreifen zu wollen, scheinen wir derzeit abermals zu stehen. Wobei… huch: Egal wie es uns unsere hiesigen Medien auch verkaufen wollen – der Aggressor sitzt dieses Mal tatsächlich nicht in Übersee. Der dortige nämlich plaudert lieber mit dem Podcaster Joe Rogan über China und Wahlbetrug oder versucht dem, der von diesem Krieg in Wirklichkeit nicht genug zu bekommen scheint, den Finger aus der Steckdose zu ziehen. Dieses Feindbild hält dieses Mal leider nicht viel her. Stattdessen wird unser eigener Kaiser zusehends nackter und nackter, sodass die einzigen, die bis jetzt noch nicht verstanden haben, dass die eigentliche Kriegstreiberei von europäischem, wenn nicht sogar deutschem Boden ausgeht, es schlichtweg nicht sehen wollen.



Und hier sind wir wieder beim Nein. Was dieser Realitätsverweigerung nämlich zugrunde liegt, ist nichts weiter als eine verschleppte Täter-Opfer-Dynamik, die weniger einer Umkehr, sondern eher einer Macht-Verdrehung im Sinne des Münchhausen-Syndroms ähnelt: Wer es versäumt hat, von Anfang an auf sich selbst zu hören und einem gewissen Missbrauch rechtzeitig mit einem klaren «Nein» Einhalt zu gebieten, und darüber hinaus auch noch dazu übergegangen ist, die Taten seines Unterdrückers als bloße Unbeholfenheit, Gutmütigkeit oder gar als Hilfe und Erlösung zu interpretieren, dem wird es mit der Zeit umso schwerer fallen, dieses Vorgehen zu hinterfragen. Schlichtweg, weil er zu seiner Auflösung seine eigene Integrität und Unversehrtheit hinterfragen müsste.
Was zu Corona das Denunzieren der eigenen Freunde und Familienangehörigen war, ist auch in punto Krieg nichts weiter als die Angst vor einer gewissen Form der Übernahme und das folgliche Gutheißen von Mord und Totschlag im Namen von Frieden und Gerechtigkeit. Blöd nur, dass Putin kein Interesse daran hat, in Brandenburg einzumarschieren (Baerbocks Zukunftsszenario), und auch die damals Ungeimpften nicht den automatischen Tod für diejenigen bedeuteten, die durch ihre dritte Impfung ohnehin bestens geschützt gewesen sein müssten.
Der Feind sitzt in unserem Kopf… wurde uns dort eingepflanzt. Ein Punkt, den viele nur schwer einzugestehen vermögen. Gerade weil er den Missbrauchsaspekt in sich trägt und dadurch mit viel Scham und Schuldgefühlen verbunden ist. Was dem Repressor natürlich nützt, da er auf diese Weise einem gewissen Tarnmantel unterliegt. Sein Vorgehen besteht folglich darin, seine «Opfer», Anhänger oder Gläubigen emotional und körperlich möglichst früh an sich zu binden. Ähnlich wie beim Tathergang manch’ eines sexuellen Übergriffs, soll auch hier dem Betroffenen im Nachhinein nicht ganz klar sein, ob er diesen nun von sich aus gewollt hat – oder eben nicht. Würde sich beim Aufdröseln einer solchen Übergriffigkeit nämlich herausstellen, dass dieser gegen den eigenen Willen geschehen ist und der Täter in Wirklichkeit gar keine guten Absichten hatte, die er bloß nicht richtig zum Ausdruck bringen konnte, brächte sein Eingeständnis die Erkenntnis des Missbrauchs und des damit einhergehenden Aspekts der selbst zugelassenen Erniedrigung mit sich.
Auch Kriegstreiber machen sich diesen Mechanismus zu eigen. Sei es binnen der eigenen Grenzen oder zwischen zweier Länder. Durch das unablässige Wiederholen ihrer Parolen involvieren sie dich so lange, bis du, allein dadurch, dass du ihnen deine Aufmerksamkeit geschenkt hast, selbst zum Täter wirst. Zum Mörder deines eigenen Willens. Zum Missachter deines inneren Widerstands, der dich einst noch an die Unvereinbarkeit von Krieg mit der Würde allen Lebens hat erinnern wollen.
Ich sags an dieser Stelle nochmal: Mir persönlich tut es weh, diese Verstümmelung des Menschen an sich selbst mit anschauen zu sollen. Und vielleicht ist das mitunter auch der Grund, weswegen ich hier in meinem Tessiner Bergtal lebe, und nicht mehr in Deutschland oder auch nur in irgendeinem anderen Schweizer Ballungszentrum. Der Anblick und Austausch mit selbstbestimmten, naturverbundenen und eigenwilligen Menschen macht mich glücklich. Und irgendwo leben zu sollen, wo ich permanent mit dem anderen Extrem konfrontiert würde, würde in mir nur das Bedürfnis auslösen, meinen Kopf gegen die Wand zu schlagen und nicht mehr vor die Tür gehen zu wollen. Da lebe ich dann doch lieber etwas abgeschiedener und gehe dafür aus meiner Haustür und sehe Menschen, für die Krieg noch ein Verbrechen ist.
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Ich kann Menschen nicht ändern. Niemand kann das. Selbst dann nicht, wenn er Umerziehungslager errichtet und ihm Konvulsionstherapien aufzwängt. Der Mensch ändert sich, wenn er es von sich aus – bewusst oder unbewusst – als sinnvoll erachtet, nicht zwangsläufig, wenn er es will. Zu stark ist die innere Umbauleistung von Anreiz und Vorteil: Es hat Vorteile, sich öffentlich zum Judenhass zu bekennen? Wird befolgt. Es hat Vorteile, sich etwas injizieren zu lassen, von dem niemand weiß, wie es auf Dauer im menschlichen Körper wirkt? Nehmen wir. Es hat Vorteile, diejenigen auszugrenzen, die von ihrem Recht auf körperliche Unversehrtheit Gebrauch machen? Tun wir. Der Typ, der als Bürgermeister noch Millionen veruntreut hat, verspricht uns günstige Wohnungen? Wählen wir. Es hat Vorteile, um in einem System, das die Freiheit unterdrückt, selbst kein Bedürfnis nach dieser mehr zu haben? Setzen wir um. Und so weiter, und so fort.
Ich finde es erstaunlich, wie viel in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten allein durch diese Salamitaktik durchgesetzt wurde. Nur in wenigen Extremsituationen waren tatsächlich «Verbote» nötig. Und selbst diese befolgten die meisten Menschen mehr freiwillig – «der Einsicht ihrer Notwendigkeit wegen» – als dass sie sie als das wahrnahmen, was sie in Wirklichkeit waren: unrechtmäßige Freiheitseinschränkungen. Wie viele Gerichte im Nachhinein noch anerkannt haben.
Doch was nützt uns das, wenn es sogar für den erstmals ernsthaften Versuch, die Verbrechen aus dem zweiten Weltkrieg aufzuarbeiten, eine ganze Generation brauchte, die in der Zwischenzeit vorübergehen musste? Wie kann es sein, dass wir vor lauter kollektiver Mitmacherei Unrecht nie in dem Moment aufdecken können, in dem es passiert? Haben die Menschen wirklich nichts anderes als ihr Mitläufertum, an dem sie sich festhalten können? Wie kann es sein, dass ganze Gesellschaften auf dem gegenseitigen Einverständnis beruhen, überall hinzuzeigen, nur nicht auf den eigens platzierten Elefanten im Raum? Wie kann es sein, dass wir fortwährend lieber neue «Täter» und «Diskriminierende» ausfindig machen, anstatt Zeugnis unserer eigenen Komplizenschaft abzulegen? Oder wie Sylvie-Sophie Schindler es kürzlich auf einer Lesung in Seon formulierte: «Finde den Diktator in dir!»



Es braucht nicht viel. Nur ein bisschen Selbstreflexion, eine Prise Integrität und den Wunsch, mit sich selbst so zu leben, als dass der eigene Wille von keinem schlechten Gewissen und auch von keinen Schuldgefühlen mehr erpressbar ist.
Es braucht die Abgrenzung, das klare Nein, um etwas Neues entstehen zu lassen. Oder mit anderen Worten: Ohne zu wissen, was man nicht mehr möchte, ist schwer, Ja zu etwas zu sagen, was man wirklich will.
Für meinen Teil besteht dies darin, in Frankreich in Cafés zu sitzen und antiquarische Bücher zu lesen, oder an der Atlantikküste Baguette mit beurre salé zu essen…. Doch dieses «Ja» zum Leben muss jeder für sich selbst entdecken. Und das ist ja auch das Schöne – das einzige «Müssen», was niemand anderem dient, als uns selbst.
Ich teile deine Analyse. Gerne erinnere ich hier an die Rede des Pink Floyd-Gründers, Roger Waters vor dem UN-Sicherheitsrat am 8. Februar 2023 (!), immer noch tagesaktuell: https://www.pressenza.com/de/2023/02/roger-waters-vollstaendige-rede-vor-dem-un-sicherheitsrat/
Habe ich mich zu Beginn von Corona noch gewundert, dass ich offenbar in einer anderen Welt lebe und mich nach Kräften bemüht, andere Menschen in meine Welt einzuladen, was SIE abgelehnt haben und bis heute tun, so bin ich durch die Erfahrungen meines Lebens und insbesondere der letzten 5 Jahre mehr den je überzeugt, dass es (mindestens) zwei Realitäten nebeneinander gibt..
So lebe ich in meiner Bündner Bergwelt wie du in deiner Tessiner und betrachte staunend zumeist aber neutral diese andere Welt. Ja, die Spaltung ist real, aber ich etikettiere es längst nicht mehr als als Kampf zweier Welten (oder mehr) gegeneinander und habe auch kein Bedürfnis nach Brücken bauen, nach Überwindung von Gräben, nach Versöhnung.
Man mag mir Naivität oder dergleichen vorwerfen, weil ich doch ebenso wie alle von den Folgen der Situation betroffen sein würde (z.B. durch Teuerung, Flüchtlinge, weitere Verbote blablabla).
Mich ängstigt es überhaupt nicht - im Gegenteil: es war/ist für mich die Aufforderung mich noch viel mehr um mich selbst zu kümmern, meine eigene Kraft zu entdecken, zu befreien und auszudehnen.
Kurz: zum Ja zu MEINER Lebenskraft, zu mir selbst zu stehen. Ich merke nebenbei, dass ich so viel weniger an Materialismus brauche, dass die Entkoppelung von all den Ablenkungen und Versuchungen im Aussen (sprich: in der anderen Welt) mir Gelassenheit, Zuversicht und Heiterkeit bringen.
Starten wir die Welle des Friedens, in dem wir der Friede SIND und nicht (nur) haben wollen.
Liebe Lilly, habe gerade deinen Text beendet und bin wieder mal beeindruckt wie du all diese Dinge in so klaren Worten beschreibst und so wunderbar ausdrückst.
Ich bin glücklich das ich dadurch sehr positiv in den Tag starten kann.
Du berührst mich mit deinen Worten .
Liebe Grüße
Micha