Was bleibt, wenn nichts mehr bleibt?
Darf ich vorstellen? Das Böse. Wege aus der Ichlosigkeit – Teil 2 von 7.
Zu gut erinnere ich mich an die Zeit vor genau einem Jahr. Alles begann damit, dass ich anfing, mich mit «dem Bösen» auseinanderzusetzen. Ich las Steiner und andere Bücher, in denen Luzifer, Ahriman, Sorat und die Asuras als Kräfte behandelt wurden. Doch mit den ersten Texten entstanden die ersten Träume. Angekommen im «Urlaub» auf den Kanaren, träumte ich eigentlich jede Nacht vom Teufel. Doch nicht in der Form, wie wir ihn aus Filmen und Märchen kennen. Das wahrhaft «Erschreckende» an diesen Träumen war, dass mir der Teufel nie als leiblich-physische Gestalt erschien. Er blieb diffus, ungreifbar – und doch stets präsent. Zu präsent.
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So präsent, dass seine nächtliche Allgegenwärtigkeit mich bis in den Tag verfolgte. Was war dieses «Böse», das als solches nie in Erscheinung tritt, und doch in allem wirkt und sichtbar ist? Was sind die Momente, in denen es zuschlägt? Und welche die, in denen nicht? Wie lässt sich das Böse greifen? Und wodurch aufhalten? Oder gilt es, in dem Sinne, wie uns das Böse in Wirklichkeit auch nicht so gegenübertritt, wie wir es aus Märchen und Filmen kennen, auch unser Bild dessen, wie wir dem Bösen gegenüberzutreten hätten, zu überdenken?
An dieser Stelle bin ich nach wie vor hin und hergerissen. Ist das Böse, gleich dem «Guten», Teil dieser Welt und unsere Aufgabe bestünde darin, beide wieder in ein Gleichgewicht zu bringen? Oder ist das Böse nie als Teil dieser Welt gedacht gewesen und hat sich lediglich über andere, nicht vorhergesehene Wege seinen Zutritt zu dieser Welt verschafft, den es unsererseits zu erkennen und zu verschließen gilt und auf dessen Wegen wir das Böse dorthin zurückzuschicken hätten, woher es hergekommen ist? Oder Option drei: So etwas wie «Gut» und «Böse» gibt es überhaupt nicht und ihre Dualität entspringt einzig und allein der Spaltung, die wir selbst in uns tragen und die es entsprechend auch als einzige zu überwinden gilt?
«Das Böse ist immer nur extrem, aber niemals radikal, es hat keine Tiefe, auch keine Dämonie. Es kann die ganze Welt verwüsten, gerade weil es wie ein Pilz an der Oberfläche weiterwuchert. Tief aber und radikal ist immer nur das Gute.» — Hannah Arendt
ㅤSchattenbewusstsein
Angenommen, letzteres ist der Fall. Und das «Böse» existiert nur deshalb in der Welt, weil ich es in mir trage und aus mir heraus in sie projiziere und es auf diese Weise in ihr wirken lasse. Ist es dann nicht vorrangig an mir, diese Anteile, über die es «dem Bösen» gelingt, über mich in dieser Welt Fuß zu fassen, zu bereinigen? Sie auf eine Weise zu integrieren, in der ich mich nicht länger insofern in einer Form von Spaltung zu mir selbst befinde, als dass ich nie sicher sein kann, wer oder was da gerade versucht, über mich auf mich und meine Umwelt Einfluss zu nehmen?
Ein Gedankengang, der für mich insofern Sinn ergibt, als dass ich im Tier- und Pflanzenreich nichts «Böses» erkennen kann. Vielleicht gibt es hier und da Ungerechtigkeiten, doch auch diese existieren nur insoweit, wie wir sie allein für den Moment, in dem sie geschehen, bewerten, anstatt sie für einen längeren Zeitraum zu beobachten und ihrem Kontext entsprechend in einem großen Kreislauf verstehen. Auch hier sind es immer nur wir, die meinen, in den Dingen etwas «Böses» erkennen zu wollen, anstatt sie primär als das zu sehen, was sie sind. Frei von Wertung, Urteil oder Schlüssen, die in uns schlussendlich nur wieder das auslösen, was wir meinen, in der Welt zu sehen: Böses. Oder anders gesagt: Würden wir aufhören, die Welt in «gut» und «schlecht» einzuteilen, würde in uns auch nicht mehr das Bedürfnis entstehen, entsprechend auf die Dinge zu reagieren. Wenn etwas einfach nur ist, kann auch ich einfach nur sein. Nur wenn ich es als «böse», «schlecht» oder gar «gefährlich» einstufe, erzeuge ich den Widerstand, der eben dieses erst in der Welt entstehen lässt.
Klingt logisch und ist doch begrifflich unscharf. Die Anteile bereinigen, «über die es dem Bösen gelingt, über mich in dieser Welt Fuß zu fassen»? Klingt das nicht insofern mehr nach Variante zwei, als dass das Böse als dieser Welt an sich Fremdes (siehe Tiere und Pflanzen) sich einzig über uns Menschen Zugang zu dieser Welt verschafft und es entsprechend nicht direkt das «Böse» in uns ist, das es zu beseitigen, integrieren oder aufzulösen gilt, sondern vielmehr die Wege, Kanäle und Zugänge, über die das Böse durch uns wirken kann? Wobei selbst in diesem Fall die Frage offenbleibt: Sind wir Zweck – oder doch nur Mittel? Und wenn letzteres: Was will das Böse dann, wenn nicht uns?


Vom Wesen des Bösen
Wenn ich mich so in «das Böse» hineinfühle, worum ich beim Schreiben solcher Texte teilweise wie nicht drum herumkomme, ist da keine Wut und an sich auch kein Widerstand. Zumindest nicht aufseiten dessen, dem ich mich hier versuche anzunähern. Der Widerstand, der aufkommt, ist allein mir zuzuschreiben. Ich bin es, die nicht zulässt, zu fühlen, was scheinbar gefühlt werden will.
Denn was mir kommt, wenn ich versuche, mich in «das Böse» hineinzuversetzen, sind Tränen. Da ist so viel Trauer, so unendlich viel Traurigkeit. Und ich weiß nicht, wieso.
Bin auch das wieder nur Ich? Bin ich «böse» und reagiere aufgrund dessen mit einer solch körperlichen Reaktion, versuche ich mit dem in Kontakt zu treten, das scheinbar nicht nur als Idee in der Welt und in meinem Kopf, sondern zugleich auch in meinem Körper zu ruhen scheint? Und falls ja, ist dieses «Böse» in mir dann tatsächlich Teil von mir – bin das Ich? – oder gewähre ich ihm bloß Zutritt zu meinem Innern, ohne dieses mit ihm verschmelzen zu lassen?
Ich persönlich finde es unglaublich schwer, an dieser Stelle herauszufinden, was wirklich ist – und was nicht. Reagiere ich mit einer solchen Trauer, weil ich über die Gedanken an das Böse in der Welt mir gleichsam – wenn auch ungewollt – einen Zugang zu den Anteilen in mir geschaffen habe, an die ich ohne dieses äußere Geländer nicht herankäme? Hat das Ganze an sich nichts mit mir zu tun? Gehe ich tatsächlich ausschließlich in Resonanz mit jener Kraft, die wir irrtümlicherweise für das Böse halten, die in Wirklichkeit aber auch nichts anderes möchte, als durch Liebe erlöst zu werden? Oder ist es eine Kombination aus beidem, und ich fange deswegen jedes Mal an zu weinen, wenn ich an das Böse denke, weil ich mit diesem aus dem Grund so gut mitzuleiden vermag, weil auch ich diese unerlösten, sich nichts weiter als Liebe wünschenden Anteile in mir trage?
Und falls ja: Ist das nicht die Antwort auf all’ die Entweder-oder-Fragen, die ich in diesem Text als teilweise diametral und nicht miteinander vereinbar dargestellt habe? Ließe sich all die Zerrissenheit, die Dualität in Kopf, Körper und Herz nicht durch eine Sache – ein Bekenntnis – auflösen?


Was das Böse will
Ich glaube, hierin besteht die eigentliche Meisterleistung: Das «Böse» nicht zu verurteilen und sich trotz allem zum «Guten» zu bekennen. Denn worum es letztlich geht, ist das Erkennen der Muster, durch die beide wirken. Und das Ablegen der Illusionen, die wir uns durch Erzählungen anderer über beide gemacht haben. Wirkt das Böse doch ebenso wenig durch laute Zerstörung, wie das Gute mit einem goldenen Licht vom Himmel herabschwebt. Das Böse raubt auch nicht mit Gewalt. Was es will, ist nicht unseren physischen Tod, sondern unseren inneren. Entsprechend entzieht es uns schleichend, ganz leise und beinahe unbemerkt, was uns ausmacht.
Der Verlust unseres Ichs beginnt hierbei mit der Illusion von Kontrolle – mit der Täuschung, alles, was wir tun, geschähe aus freien Stücken. Dabei wurde unser Denken längst durchdrungen von etwas Kaltem, von einer Logik, die uns entfremdet, entleert, entseelt. Wir mögen funktionieren, noch. Wir sprechen, wir handeln, wir bewegen uns durch die Welt – aber nicht mehr aus uns selbst heraus. Da ist diese Kraft, die als solche zwar keinen Widerstand erzeugt, die uns zwar nicht drängt oder zwingt, die uns aber lenkt und suggeriert, Dinge zu wollen, die mit unserem eigenen Willen nichts gemein haben. Ihr Netz aus unsichtbaren Fäden, gesponnen aus Konventionen, Erwartungen und subtilen Zwängen, mag uns in Bewegung halten. Innerlich jedoch sind wir längst erstarrt.
Diese Verschiebung innerer Grenzen gilt es zu erkennen, bestenfalls frühzeitig. Es gilt hinzuhorchen, wenn etwas, das gestern noch undenkbar war, heute als normal erscheint. Es gilt, genauer hinzuschauen, wenn etwas, das uns einst doch so fremd war, heute mit uns vom selben Tellerchen speist. Das Böse, um an dieser Stelle doch ein Bild aus dem Märchen zu verwenden, ist nicht die böse Stiefmutter aus Schneewittchen und die sieben Zwerge. Es ist der Apfel, den sie ihr überreicht.
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Das Böse tarnt sich als das Gute. Es macht sich mit ihm gemein, ohne mit ihm etwas gemeinsam zu haben. Und doch gewinnt es auf diese Weise unsere Sympathie und Aufmerksamkeit und damit unsere Anpassung. Sie ist der Moment, in dem wir uns verlieren. Nicht auf einmal, sondern Stück für Stück. Zuerst sind es unsere Zweifel, dann unsere Empörung, schließlich unser Bewusstsein für das, was uns da überhaupt verloren geht. Dieser stille Verlust umfasst schließlich nichts Geringeres als unser Ich. Die Gedanken, die dank ihm einst rebellierten, verstummen. Die Worte, die sich dank ihm einst wehrten, klingen plötzlich hohl und dumpf. Die Taten, die einst dank seiner Überzeugungen erwuchsen, werden zu Mechanismen, zu bloßen Abläufen, die nichts mehr bedeuten.
Schlicht und einfach, weil wir uns selbst nichts mehr bedeuten.
Dabei ist es genau das, was das Böse will: Das Böse will uns nicht zerstören – es will, dass wir uns selbst aufgeben. Es will uns nicht brechen, sondern entkernen. Und wenn nichts mehr bleibt, dann bleiben wir. Als Hüllen, als Schatten und bloße Kontur derer, die wir einst waren. Für diesen Akt der Selbstentkernung braucht das Böse keine Ketten, auch keine Mauern und offenen Wunden. Es genügt ihm, dass wir vergessen, wer wir sind. Dass wir uns selbst zu etwas Fremdem werden, das nur noch spricht, weil es erwartet wird, das nur noch handelt, weil es verlangt wird. Dass wir die Kälte aus dem Grund nicht mehr spüren, weil sie uns so weit durchdrungen hat, dass wir selbst erkaltet sind.


Vom Widerstand ohne Widerstand
Was wir dagegen tun können? Außer ein Feuer oder eine Kerze zu entzünden, um die dunklen Nächte ein wenig lichter erscheinen zu lassen? Wie gesagt: Alles beginnt damit, achtsamer zu sein. Genau hinzuschauen, wo und wann wir aus welchem Grund Kompromisse eingehen und wann wir Bequemlichkeit gegen Charakterstärke eintauschen. Wann schweigen wir, weil es «sicherer» ist? Wann werden wir zu Passagieren unseres eigenen Lebens, zu Statisten in einer Geschichte, die längst nicht mehr von uns geschrieben wird?
Was ist, wenn das Böse nicht dort beginnt, wo das Gute endet, sondern dort, wo Gleichgültigkeit einsetzt? Wo wir aufhören zu hinterfragen und wo wir beginnen, alles nur noch hinzunehmen. Wo das Leuchten hinter unseren Augen längst erloschen ist und dort, wo wir einst die Augenbrauen zusammengezogen hätten, heute nichts weiter erfolgt als ein leeres Lächeln, ein leiser Seufzer – Zeichen der Resignation, die wir uns einzugestehen zu feige sind.
Wie sich dieser Punkt der inneren Leere und Selbstaufgabe nicht nur vermeiden, sondern bestenfalls sogar umkehren lässt, darum soll es in dieser Reihe gehen (die ich, wie Sie vielleicht bemerkt haben, von fünf auf sieben Teile aufgestockt habe).
Hier gilt es anzusetzen. An dem Mut, wir selbst zu sein. Dass wir, wann immer wir merken, dass in uns etwas aufschreit, egal wie leise – wir diesem Ausdruck verleihen. Die Zeiten der Selbstverleugnung und des Duckmäusertums sind vorbei. Damit ist kein Menschsein zu gewinnen. Wo immer wir ein Unbehagen wahrnehmen, werden wir es fortan nicht mehr wegwischen, sondern ihm nachgehen. Das Böse mag subtil sein, doch es ist nicht unfehlbar. Es lebt von unserer Nachgiebigkeit, von unserem unter den Tisch kehren, von unserem Vergessen. Es nährt sich von der Trägheit unseres Geistes.
«Die traurige Wahrheit ist, dass das meiste Böse von Menschen gemacht wird, die sich zwischen Böse und Gute nicht entschieden haben.» — Hannah Arendt
Worum es mir an dieser Stelle also geht, wozu ich dich und euch an dieser Stelle auch ein Stück weit aufrufe, ist nichts weiter, als eurer inneren Stimme Raum zu verschaffen. Ihr Ausdruck ist die einzige Freiheit, die ihr habt. Nutzt sie. Bevor es wirklich einmal zu spät sein sollte.
Es geht nicht darum, Widerstand zu erzeugen, «gegen» etwas zu sein. Worum es geht, ist die Fähigkeit zu entwickeln, die Dinge nicht mehr ohne weiteres hinzunehmen. Die Möglichkeit, sich zu erinnern. An das, was das eigene Ich alles ist und kann. Die einzige «Waffe», die wir brauchen, um den «Kampf» gegen das Böse zu gewinnen, ist unser Mut, uns zu weigern. Dieser Mut schließlich ist kein reines «Dagegen». Vielmehr ist er Ausdruck eines «Dafür». Er ist das «Ja» zu uns selbst. Und wer weiß, vielleicht genügt dieses Ja zu uns selbst bereits, um dem Bösen seine Pforten zu unserem Inneren zu verschließen. Ein und für alle Mal.
Hallo, liebe Lilly,
genau. so ist es. Nur Mitleid braucht es nicht. Empathie, Verstehen ja, kein Mitleid.
Du bist ein Geschenk, Lilly. Ich freue mich jedes Mal sehr, von Dir zu hören. Genieß den Tag.
Grüße aus der alten Heimat. Ich komme bald mal wegen ein paar Menschen in die Schweiz. Vielleicht trinken wir eine Milch zusammen.
Moin liebe Lilly,
hab Dank für das Teilen deiner Gedanken, die wie immer sehr präzise von dir ins Feld gegeben wurden. Kurzum, ich betrachte das Böse als Teil meines Seins und daher auch als Mittel, um sich selbst zu betrachten und auch, um am "Bösen" zu wachsen. Aber, das sei gesagt, es ist eine Momentaufnahme meiner Perspektive.
Liebe Grüße,
Basti