Zwischen Realitätsverneinung und Selbstbejahung
Wie sich Weltschmerz aushalten lässt und wie man in gesellschaftlichen Umbruchsphasen nicht den Kopf verliert.
Was passiert, wenn sich ganze Gesellschaften nur noch im Außen orientieren, anstatt sich an sich selbst zu bemessen, sehen wir derzeit: Sie verlieren ihre Identität, ihren Sinn und ihre Orientierung. In dieser Unfähigkeit, sich selbst eine Bedeutung und somit auch eine Richtung vorzuweisen, bleibt ihnen nur die Fremdbestimmung. Sie hören auf, sich ihrer eigenen Gesetzesgebung zu unterziehen und unterwerfen sich heteronomen Zielen und Befehlen. Sie degradieren sich damit selbst zum Mittel und verlieren ihre Würde. Sie töten sich selbst durch ihre eigene Gedankenlosigkeit.
„Es ist gleich willkürlich, ob man den Leuten sagt: Ihr sollt nicht frei sein, oder: Ihr sollt und müßt gerade auf diese und keine andere Weise frei sein.“
— Joseph von Eichendorff“Alle Fesseln der Welt bilden eine Kette.”
- Stanislaw Jerzy Lec
Was es bedeutet, wahrhaft selbstbestimmt zu sein und wie man sich darüber bewusst wird, wer man ist, versuche ich in diesem kurzen Abriss über Identität und Weltschmerz zusammenzufassen. Es folgt ein Wegweiser zur mentalen Autonomie.
Aus Verzweiflung an verzweifelten Verzweiflern verzweifeln
Historisch gesehen kommt es immer dann zum Umwerfen von Verhältnissen, wenn hierarchische Ordnungsstrukturen der Gesellschaft keine Orientierung und Stabilität mehr boten. Ruanda, Chile, Deutschland nach 45: Auf einen Systemwechsel folgt für gewöhnlich die Glaubenskrise. Die “Inkubationsphase”. Es kommt zum Verlust der sogenannten Salutogenetischen Prinzipien: Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit. Die verloren gegangene Einheit erzeugt ein Gefühl von Inkohärenz. Die Welt scheint nicht mehr im Gleichgewicht. Was bleibt, ist eine gesamtgesellschaftlich gesteigerte Verunsicherung und Richtungslosigkeit. Nicht selten enden diese – auf individueller wie kollektiver Ebene – in Komplexitätsreduktion und Eskapismus. Die Masse sucht nach Halt. Das Sammelbecken hierfür bieten meist populistische bis dogmatische Theorien oder Ideologien. Sie müssen die geforderte Haltung vorgeben, weil das Individuum sich selbst nicht mehr selbst zu halten vermag.
Diese Hoffnung auf einen Heilsbringer mag so gut wie jedem von uns innewohnen. Einzig der Ort des Suchens mag von Mensch zu Mensch unterschiedlich sein. Dies haben schon Horkheimer und Camus erkannt, indem sie versuchten, diese Flucht vor der Verzweiflung an der Welt oder dem „Absurden“ mit der Suche nach Sinn in Religion oder einer übergeordneten Macht zu beantworten: So sei Theologie die Hoffnung, “daß es bei diesem Unrecht, durch das diese Welt gekennzeichnet ist, nicht bleibe, daß das Unrecht nicht das letzte Wort sein möge”1. Der Mensch habe, so Camus2 “Gott nur erfunden, um sich nicht umzubringen.”
Überspitzt, aber wahr: Aus Verzweiflung entsteht Vereinzelung. Und die in dieser Vereinzelung empfundene Einsamkeit gibt wiederum einen ausgezeichneten Nährboden für Krankheit ab. Sie kann wie eine “Säure, die langsam aus einer Flasche tropft, das Herz verätzen, ohne dass der Betroffene es merkt. Sie ist wie ein scharfes zweischneidiges Schwert. Sie bietet Schutz, kann jemanden jedoch gleichzeitig von innen durchbohren”3. Einsamkeit ist eine mentale wie physische Verfassung, die kein Mensch auf Dauer erträgt. In ihrer immanenten Reibung vermindert sie schließlich nicht Spannung, sondern erzeugt sie, ist selbst Spannung. Um dieser zu entkommen, sehnt der Mensch sich nach einem Heilsbringer. Etwas oder jemandem, der Rede, Trost und Antwort für das bietet, was einem selbst so unerklärbar scheint. Einfach, weil man andernfalls seinen Verstand verlieren, ja gar verrückt werden, würde.
„Das ganze Leben ist der Versuch, es zu behalten.“
- Ingeborg Bachmann

Wo die Reibung fehlt, findet auch keine Entwicklung statt
Alles Leben ist Leiden. Das wussten schon Buddha und Schopenhauer. Beide wussten allerdings auch, dass sich ohne Leid auch kein Charakter formt. Wird das Leben zur Vermeidungstaktik von allem Unangenehmen, findet sich auch kein Momentum mehr, an dem sich wachsen ließe. Sich einer Sekte anzuschließen oder zu versuchen, sich die Welt durch Götter und Mythen zu deuten, zeugt folglich von keiner geistigen Größe. Es ist das Suchen nach einfachen Antworten auf schwierige Fragen. Der Wunsch nach Sinn und Bedeutung in einer Welt, die immer komplexer und hermetischer zu werden scheint. Dies allerdings nur im Außen, in der Projektion. Nicht aber im eigenen Inneren. Das eigene Selbst wird auf diese Art nicht wirksam.
In jener Projektion lebt der Mensch extrospektiv. Er orientiert und begreift sich selbst nur noch durch das Außen, bestimmt durch fremde Normen, Gebote und Dogmen. Dabei widerstrebt er nicht nur sich selbst, das immerwährende Vermeiden von Leid in Form von fehlender Reibung oder Differenzerfahrung sorgt dafür, dass sich gar nicht erst ein Selbst ausbilden kann. In der fehlenden Selbstauseinandersetzung entwickelt sich ein Konflikt mit der Wirklichkeit, welcher auch als kognitive Dissonanz bezeichnet werden kann. Eine Seelenlage, in der unablässig gegen die eigenen Werte, Haltungen und Gefühle entschieden und gehandelt wird.
“Die meisten Menschen sind Mörder: Sie töten einen Menschen. In sich selbst.”
- Stanisław Jerzy Lec, Neue unfrisierte Gedanken, S. 22
Es ist ein Zerwürfnis mit der Realität. Das Leiden an der Welt wird vielleicht nicht geleugnet, aber von sich gewiesen. Es wird überall gesucht, nur nicht bei sich selbst. Das eigene Gewissen wird externalisiert, in fremde, aber für “gescheiter” gehaltene Hände gelegt. Eigenverantwortung existiert quasi nicht. Man selbst besitzt keinerlei Antworten auf die, einen quälenden, Fragen (man hätte sie ja sonst auch nicht). Aus diesem Grund wird die eigene Handlungsfähigkeit negiert. Zu groß ist die eigene Ohnmachtserfahrung und zu klein das eigene Selbst, um diesem vertrauen zu können.
„Tatsachen schafft man nicht dadurch aus der Welt, dass man sie ignoriert.“
- Aldous Huxley, Bemerkung zum Dogmatismus, 1927„Die fast unlösbare Aufgabe besteht darin, weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen.“
―Theodor W. Adorno. Minima Moralia 1994, S. 67

In der eigenen Würde liegt die Antwort
Lebt der Mensch nicht introspektiv, sondern derart passiv und unbewusst, wird er früher oder später von seiner Selbstdementierung eingeholt und zerspalten werden. Der zeitgenössische Philosoph Peter Bieri4 geht hier sogar so weit, diesen Verlust an Selbsterkenntnis mit dem Verlust der eigenen Würde gleichzusetzen. Gesetzt man verwende den Begriff der Würde synonym zu denen der Selbstachtung und Selbstbestimmung, bewirke ein Durchdringen und Verinnerlichen dieser eine sowohl innere als auch äußere “Bewegungsfreiheit”5. Hierzu müsse man sich seiner “blinden Prägungen” bewusst werden. Die daraus folgende Abwesenheit von Zwang und Zerrissenheit ermögliche jene kohärente Selbstwahrnehmung, die zu neuen Arten des Erlebens und des Handelns führe. Für Bieri „die Quelle von Freiheit und damit von Glück“6.
Was daraus folgt ist, dass erst wenn wir unser Selbst erkannt und akzeptiert haben, auch selbst-wirksam handeln können. Wir beginnen zu verstehen, was unsere Welt im Innersten zusammenhält: Individualität. Erst wenn wir uns selbst verstehen, wissen, wer wir sind, ist ein selbstbestimmtes und glückliches Leben möglich. Und eben darauf zielt Selbstwirksamkeit ab: Ein Verhalten zu fördern, das kongruent mit unseren eigenen Werten, Idealen und Vorstellungen einhergeht. Handlungen, die direkt und fruchtbar auf unsere Umwelt wirken. So erweitern wir unser Integral an Erfahrungen mit positivem Ausgang und bekräftigen uns in unserer, diesen Handlungen zugrunde liegenden, Haltung. Das Endziel ist Glück, die Eudaimonie.
So ergibt sich ein Kreislauf: Aus der Erfahrung, positiv oder negativ, erwächst Selbsterfahrung. Wir konfrontieren uns mit unseren Stärken und Schwächen und kommen uns selbst somit näher. Wir sammeln Erkenntnisse, die auch immer Selbst-erkenntnisse sind. Wir lernen, uns zu akzeptieren. Zugleich bildet sich das ab, was wir dann unser Selbst nennen. Wir fangen an, uns mit unserer Identität zu identifizieren.

Würde als innerer “Kompass”
Folgt man Gerald Hüther, so verleihen uns gerade jene Erfahrungen Identität, die wir gemeinsam mit anderen Menschen machen7. Hierbei gehe es nicht darum, „einen anderen zu verändern, sondern in dem anderen etwas auszulösen, und das heißt Berührung. Der müsste nicht durch euch berührt werden, sondern mit sich selbst wieder in Berührung kommen.” Dem Ziel der “Basis einer geteilten Wertewahrnehmung” läge folglich das Wiedererlangen von Verbundenheit zu sich selbst zugrunde: Dieses Erleben empathischer Bindungserfahrungen verändere nicht nur unsere Wertehaltung, es brächte vielmehr uns als Menschen wieder näher zusammen.
„Alle Handlungen, die uns einander näherbringen, wirken gegen Einsamkeit”
- Manfred Spitzer“In dir muß brennen, was du in anderen entzünden willst.”
– Augustinus Aurelius
Durch die wahrhaft menschliche Berührung würden wir uns unseres Menschseins, unserer Würde, wieder bewusst. Wir nehmen uns selbst und anderen gegenüber eine würdige Haltung ein. Unser Gefühl von Würde diene hierbei als “innerer Kompass”. Ihm wohne der haltungs- und sinnstiftende Wert der Selbstwirksamkeit und Kohärenz inne. Daraus folgt, dass eine Gesellschaft, die sich ihrer eigenen Würde bewusst geworden ist, auch wieder würdevoll miteinander umgeht. Sie steuert unweigerlich auf eine Transformation zu. Keine des technokratischen Diktats von oben. Nein. Was folgen würde, wäre eine Revolution von unten, direkt aus den Herzen der Menschen heraus. Ihre Botschaften wären Freiheit, Liebe, Verbundenheit.
Sich ihres eigenen Selbst, ihrer eigenen Würde, bewusst, sind Menschen nicht mehr verführbar8. Sie hätten verstanden, was ihnen in ihrem Leben wirklich wichtig ist und könnten nicht mehr so weiterleben wie bisher. Sie betrachten sich stets als Zweck und nie als Mittel. Sie sehen ihre Aufgabe darin, so zu leben, dass der Zweck und das Ziel ihres Lebens die volle Entfaltung all ihrer Kräfte ist als ein Selbstzweck und nicht als ein Mittel zur Erreichung anderer Zwecke (Karl Marx).
Bis wir als Gesellschaft erkannt haben, dass “Wachstum als Mittel, nicht als absoluter Zweck“9 fungieren sollte, wir aber Mittel und Zweck verdreht haben10, lässt sich vielleicht auf Otto Gross verweisen: Ihm zufolge sei das Subjekt nur zu heilen, wenn auch die Gesellschaft geheilt werde11. Mit dieser Erkenntnis auf kollektiver Ebene sowie dem Erlangen unserer jeweils eigenen Würde auf individueller, ließe sich eine Zukunft anstreben, in der jeder durch sein Gefühl der Verbundenheit, einen Wert aus dem wellbeing der Welt ziehen könnte. Vielleicht ein Weg, wie wir auch als Menschheit unsere Würde wiedererlangen.
Alle Bilder dieses Beitrags sind von mir eingefangen.
Literatur(-empfehlungen):
Antonovsky, Aaron; Franke, Alexa (1997): Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit (Forum für Verhaltenstherapie und psychosoziale Praxis).
Bieri, Peter (2013): Wie wollen wir leben? Ungekürzte Ausg. München: Dt. Taschenbuch-Verl. (dtv,34801).
Ferst, M. (Hg.) (2002): Erich Fromm als Vordenker. "Haben oder Sein" im Zeitalter der
ökologischen Krise. Unter Mitarbeit von Rainer Funk. Berlin: Ed. Zeitsprung.
Göpel, Maja (2020): Unsere Welt neu denken. Eine Einladung. Berlin: Ullstein.
Hüther, Gerald (2018): Würde. Was uns stark macht - als Einzelne und als Gesellschaft. 1. Auflage. München: Knaus.
Murakami, Haruki (2011): Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede. (Dumont Buchverlag).
Schlaffer, Hannelore (2011): Die intellektuelle Ehe. Der Plan vom Leben als Paar. München: Hanser.
Und wenn du mir etwas spenden möchtest, damit ich weiterhin bei Tee und guter Laune lesen und schreiben kann, nutze gerne Paypal oder schreib mir.
Horkheimer 1970
Camus 1990, S. 136
Murakami 2011
Bieri 2013, S. 73
ebd., S. 57
ebd., S. 58
Hüther 2018, S. 102
ebd. S. 135
Göpel 2020, S. 134
ebd., S. 81
Schlaffer 2011, S. 44
Lilly, mir haben alle Deine Artikel sehr gefallen, einer hat mich zu Tränen berührt, andere trösten und inspirieren, herzlichen Dank