Jenseits von Terror und Verlassenheit
Über eiserne Bänder und fehlende Geländer: Wenn wir den Totalitarismus bekämpfen wollen, müssen wir ihn zuerst verstehen.
Nachdem ich am Schluss meines Artikels über Honneths Kampf um Anerkennung den Kern unseres «Nicht-wir-selbst-sein-Könnens» in der Kluft zwischen Allein-Sein und Einsamsein zu begründen versucht habe, möchte ich in diesem Text auf die durch Hannah Arendt getroffene Unterscheidung von Abgeschiedenheit und Verlassenheit im Bezug auf totalitäre Herrschaft eingehen. Viel Vergnügen.
Am 23. Februar 1953 feierte der Philosoph Karl Jaspers seinen 70. Geburtstag. Der Wunsch, ihn aus diesem Anlass mit einem würdigen Geschenk zu erfreuen, veranlasste über 30 Zeitgeister zum Verfassen einer Festschrift. Unter ihnen Albert Camus, José Ortega y Gasset, Aldous Huxley, Golo Mann oder Helmuth Plessner. Während sich durchaus von allen der damals erschienenen Essays behaupten lässt, sie hätten über ihre Epoche hinaus an Gewissheit gewonnen, strahlt der Wahrheitsgehalt eines von ihnen ins Ewige: Die Rede ist von Hannah Arendts Ideologie und Terror1.
Tyrannei oder Terror? Das Wesen totalitärer Herrschaft
Denken wir an Tyrannis, denken wir an Kaiser Nero oder Caligula2, nicht aber an Hitler oder Stalin. Denn während Erstere ihre Herrschaft nicht auf Gesetzen, sondern auf den Regeln des Machthungers eines Einzelnen begründeten, fußte das Regime Letzterer auf dem Terror — dem «Gesetz», das nicht mehr übertreten werden kann.
Organisierte Verlassenheit oder unorganisierte Ohnmacht? Die Frage nach Tyrannei oder Terror ist folglich nicht allein eine Frage der Herrschaftsform. Für die Tyrannis besteht das Prinzip des Handelns in der Furcht vor der Willkür. Das Leben der Vielen beruht nicht mehr auf Logik oder Verstandeskraft, sondern ist abhängig von einem Despoten, der kein anderes Gesetz respektiert als das seiner wechselnden Launen.3 Totalitäre Herrschaft hingegen vermag es, das Abbild der Wirklichkeit so weit zu verdrehen, dass es der «Laune» jedes Einzelnen entspricht. Man tut nicht mehr das, was man liebt, sondern liebt das, was man tun muss.
Diese Angleichung des Individualwillens an den Herrschaftswillen galt für Hannah Arendt als notwendige Verdrehung vom Wesen des Menschen hinsichtlich jeder Befehlsstruktur, die sich dieses zu eigen machen möchte. Sobald «Realität» letztlich nicht mehr von unten, sondern von oben diktiert werde, verkehre sich auch die Frage nach Herrschaft in die Frage nach dem Zugang zur Wahrheit: Denn gleich sich die Wahrheitsferne und der Wille zum Leben in der Lüge in der Tyrannis auf Ohnmacht begründet; einem furchtbedingten Nichthinschauen-Wollens, begründet sie sich im Totalitarismus auf Ideologie und Terror; dem angstbedingten Nichthinschauen-Könnens.
So wie damit der Totalitarismus seine Herrschaft auf dem Etablieren neuer «Wahrheiten» begründe, an denen sich Ideale und Gesetze auszurichten haben, begnüge sich die Tyrannis mit der Gesetzlosigkeit und ihrer Furcht vor der Haltlosigkeit. Gleich die Entscheidung, sich, um selber zu überleben, selbst zu verraten, unter ihr, der Tyrannis, bewusst bis instinktiv verläuft, erfolgt jede Form der Selbstaufgabe unter der Regie der Ideologie und des Terrors rein emotionsgetrieben. Gleich beide Systeme ihr Verhältnis zum Bürger auf einer Loslösung des Rechts vom Rechten etablieren, ist der tyrannengetriebene Mensch noch fähig, für sich «das Gute» und «Wahre» zu erkennen – für den totalitären Menschen hingegen gibt es keine inhärenten Werte mehr: Gut ist das, was der Staat ihm als gut verkauft.
Allein durch diesen Verlust oder dieses Abtreten seines Bezuges zur genuinen Wahrheit (und damit auch Ordnung) ebnet der Mensch den Nährboden für jede Form einer ihn unterdrückenden Autorität – eben, weil er sich selbst keine ist: Denn während der Anspruch auf totale Welterklärung in der Tyrannis auf Willkür beruht, ist er im Totalitarismus systemisch. Insofern sich nämlich, so Hannah Arendt, jede Gewaltherrschaft der Schranken der Gesetze entledigen müsse, setze der totale Terror «an die Stelle der Zäune des Gesetzes und der gesetzmäßig etablierten und geregelten Kanäle menschlicher Kommunikation sein eisernes Band, das alle so eng aneinanderschließt, daß nicht nur der Raum der Freiheit, wie er in verfassungsmäßigen Staaten zwischen den Bürgern existiert, sondern auch die Wüste der Nachbarlosigkeit und des gegenseitigen Mißtrauens, die der Tyrannis eigentümlich ist, verschwindet, und es ist, als seien alle zusammengeschmolzen in ein einziges Wesen von gigantischen Ausmaßen.»4
Dieses eiserne Band der terroristischen Verhärtung, «das die Menschen so stabilisiert, daß jede freie, unvorhersehbare Handlung ausgeschlossen wird»5, verfolgt laut Arendt allein den Zweck, «Menschen so zu organisieren, als gäbe es sie gar nicht im Plural, sondern nur im Singular, als gäbe es nur einen gigantischen Menschen auf der Erde, dessen Bewegungen in den Marsch eines automatisch notwendigen Natur- oder Geschichtsprozesses mit absoluter Sicherheit und Berechenbarkeit einfallen.» Diese Konstitution eines totalitären politischen Körpers sei ausschließlich dazu da, «um ein Instrument zu gewinnen, mit dem die Bewegung des Natur- oder des Geschichtsprozesses beschleunigt werden kann.»6
Räume der Unfreiheit
Gerade in Bezug zur totalitären Stabilisierung von Menschen war es Arendt wichtig zu betonen, dass selbst in denen von der Willkür des Tyrannen zur Wüste verwandelten und von Gesetzen umhegten Räumen der Freiheit eine Kargheit existiere, in der «noch ein Minimum menschlichen Kontakts» möglich sei. Sie bewahre noch eine Spur jenes Raumes, «den menschliche Freiheit braucht, um wirklich zu werden.»7
Innerhalb der Tyrannis sei es den Menschen noch möglich, sich zu bewegen und zu begegnen, wenngleich auch ihre Prinzipien – die Furcht und das Misstrauen – ab dem Moment keine Ratgeber mehr sein können, «wenn unter totalitärer Herrschaft der Terror beginnt, seine Opfer nach objektiven Kriterien, ohne allen Bezug auf irgendwelche Gedanken oder Handlungen der Betroffenen, auszuwählen.» Unter diesen – totalitären – Umständen verliere die Furcht ihren praktischen Sinn. Zwar bleibe «sie noch die alles durchdringende Stimmung, die das Herz jedes einzelnen verwüstet, so wie Mißtrauen noch die Beziehungen aller Menschen zueinander vergiftet, aber einen Rat, wie zu handeln sei, können weder Furcht noch Mißtrauen geben, da vom eigenen Handeln das Schicksal gar nicht mehr abhängt.»8
Während die menschlich zerfressene Welt der Tyrannis somit den Menschen immer noch ein gewisses Maß an Bewegungsfreiheit zugestand, geht die totalitäre Herrschaft an dieser Stelle insofern weiter, als dass sie eben diese vernichtet. Ihr Wesen liegt «nicht darin, dass sie bestimmte Freiheiten beschneidet oder beseitigt, noch dann, dass sie die Liebe zur Freiheit aus dem menschlichen Herzen ausrottet; sondern einzig darin, daß sie Menschen, so wie sie sind, mit solcher Gewalt in das eiserne Band des Terrors schließt, daß der Raum des Handelns, und dies allein ist die Wirklichkeit der Freiheit, verschwindet.»9 Dabei beraubt sie die «Menschen nicht nur ihrer Fähigkeit zu handeln, sondern macht sie im Gegenteil, gleichsam als seien sie alle wirklich nur ein einziger Mensch, mit unerbittlicher Konsequenz zu Komplizen aller von dem totalitären Regime unternommenen Aktionen und begangenen Verbrechen.»
Wäre totalitäre Herrschaft somit «nichts anderes als eine moderne Form der Tyrannis, so würde sie sich gleich ihr damit begnügen, die politische Sphäre der Menschen zu zerstören, also Handeln zu verwehren und Ohnmacht zu erzeugen.» Indem sie jedoch das privat-gesellschaftliche Leben der ihr Unterworfenen in ihr eisernes Band des Terrors einschließt, «zerstört sie einerseits alle nach Fortfall der politisch-öffentlichen Sphäre noch verbleibenden Beziehungen zwischen Menschen und erzwingt andererseits, daß die also völlig Isolierten und voneinander Verlassenen zu politischen Aktionen (wiewohl natürlich nicht zu echtem politischem Handeln) wieder eingesetzt werden können.»10
Kurzum: Als folgsamer «Vollstrecker natürlicher oder geschichtlicher Prozesse» evoziert Terror das Einssein von Menschen durch Vereinzelung. Indem er den Lebensraum zwischen Menschen wie auch den Raum der Freiheit radikal vernichtet, schweißt er sie aneinander. An die Seite «der angeblichen Erbarmungslosigkeit von Natur oder Geschichte» tritt «die (wie Hitler zu sagen liebte) ‹Eiskälte› der menschlichen Logik». Eine Logik, die – anders als der ursprüngliche Gehalt von Ideologien – an die Stelle einer Orientierung in der Welt den Zwang treten lässt, «mit dem man sich selbst zwingt, von dem reißenden Strom übermenschlicher, natürlicher oder geschichtlicher Kräfte mitgerissen zu werden». Schlicht und einfach, weil die Unterdrückung des Menschen durch den Menschen oder «das Primat des Nationalen» diesen davon überzeugt hat, sich nicht mehr auf seine Erfahrungen verlassen zu wollen. Er weiß, sich mit ihnen in der Welt nicht mehr zurechtfinden zu können.11
Ideologie als sechster Sinn
«Das eigentliche Ziel totalitärer Ideologie ist nicht die Umformung der äußeren Bedingungen menschlicher Existenz und nicht die revolutionäre Neuordnung der gesellschaftlichen Ordnung, sondern die Transformation der menschlichen Natur selbst, die, so wie sie ist, sich dauernd dem totalitären Prozess entgegenstellt. [...] Was in der totalen Herrschaft auf dem Spiele steht, ist wirklich das Wesen des Menschen.»12
Die Anfälligkeit eines Menschen für eben jene Art von Ideologien bestand für Hannah Arendt in ihrem «sechsten Sinn» – dem Sinn für Wahrheit und Wirklichkeit. Der Gebrauch von Ideologien als politische Waffe beschränkte sich für sie in ihrem Anspruch auf totale Welterklärung ebenso wenig auf totalitäre Bewegungen, wie sich der Gebrauch von Terror zwecks Einschüchterung auf totalitäre Herrschaft begrenze. Ideologien versuchten in ihrer «eigentlicheren» Realität zu bestehen, – einer Realität, «die sich hinter diesem Gegebenen verberge» und «es aus dem Verborgenen beherrsche»13. Um sie, diese «eigentlichere» Realität, wahrnehmen zu können, predige die Ideologie eben jenen «sechsten Sinn», welcher sich alleinig durch ihre ideologische Schulung und der Konformität zu ihr vermitteln ließe.
Insofern nämlich, so Arendt, selbst «die Propaganda der totalitären Bewegungen, die immer darauf hinausläuft, jedem offenbar Geschehenden einen geheimen Sinn und jedem offenbaren politischen Handeln eine verschwörerische Absicht unterzulegen»14, nicht die Macht dazu hätte, die Wirklichkeit zu verändern, bliebe ihr nichts anderes übrig, als sich der «Emanzipation des Denkens von erfahrender und erfahrbarer Wirklichkeit» zu bedienen: Sie erhebt ein Monopol auf Wirklichkeit. Und indem sie ein Monopol auf Wirklichkeit erhebt, erhebt sie ein Monopol auf Wahrheit. Über die «Umformung der äußeren Bedingungen menschlicher Existenz» transformiert sie letztendlich die menschliche Natur selbst — solange, bis der Mensch nur noch unter einem Glaubenssatz funktioniert: «Du darfst dir nicht selbst widersprechen, weil dann dein ganzes Leben sinnlos würde.»15
Fehlendes Anfangenkönnen
«Worauf die totalitären Herrschaftssysteme sich verlassen für die begrenzte Mobilisierung sich verhaltender Menschen, deren selbst sie nicht, oder noch nicht, entraten können, ist dieser Zwang, durch den wir uns selbst zwingen, weil wir uns fürchten, uns sonst selbst in Widersprüchen zu verlieren. Die Tyrannei des zwangsläufigen Schlußfolgerns, die unser Verstand jederzeit über uns selbst loslassen kann, ist der innere Zwang, mit dem wir uns selbst in den äußeren Zwang des Terrors einschalten und uns an ihn gleidischalten. Das einzige Gegenprinzip gegen diesen Zwang und gegen die Angst, sich selbst im Widersprechen zu verlieren, liegt in der menschlichen Spontaneität, in unserer Fähigkeit, ‹eine Reihe von vorne anfangen› zu können. Alle Freiheit liegt in diesem Anfangenkönnen beschlossen.»16
Der Kern des Totalitarismus, so betont Hannah Arendt später auch in Elemente in Ursprünge totaler Herrschaft, sei folglich eine Ideologie, die die Geschichte zu ihren Gunsten umschreibt und deren Umdeutung historischer Fakten in Angleichung ihrer Machtansprüche nur dann gelingt, wenn die totalitäre Bewegung zuvor das logisch-kritische Denken des Einzelnen kurzgeschlossen hat. Nur in dieser geistigen Gleichschaltung der Masse und ihrer Suche nach Erlösung konnte es den Nationalsozialisten gelingen, die Erzählung, die «der Führer» vorgab, zur Wahrheit emporsteigen zu lassen. Nur so konnten sie die Evolutionsgeschichte neu erzählen und das Schicksal der auserwählten und überlegenen «Herrenrasse» auf einen Punkt zulaufen zu lassen: auf den Moment, in dem diese den jüdischen Erzfeind auslöschen und ihren angestammten Platz als Krone der Schöpfung einnehmen würde.
«Der Terror», so betont Arendt immer wieder, sei in diesem Zusammenhang – gleich auch die Rassentheorie mehr ein Werkzeug zur Machtergreifung als die eigentliche Überzeugung gewesen sei – «nicht ein Mittel zu einem Zweck, sondern die ständig benötigte Exekution der Gesetze natürlicher oder geschichtlicher Prozesse.» Terror mache «die Menschen unbeweglich, als stünden sie und ihre spontanen Bewegungen nur den Prozessen von Natur oder Geschichte im Wege, denen die Bahn frei gemacht werden soll.» Er scheide «die Individuen aus um der Gattung willen»; und opfere «Menschen um der Menschheit willen, und zwar nicht nur jene, die schließlich wirklich seine Opfer werden sondern grundsätzlich alle, insofern der Geschichts- oder Naturprozeß von dem neuen Beginnen und dem individuellen Ende, welches das Leben jedes Menschen ist, nur gehindert werden kann.»17
In diesem Herausfallen aus dem eigenen Werden und Vergehen, der Handlungsmächtigkeit über das eigene Schicksal liegt die eigentliche Ohnmacht des Totalitarismus: Denn wer seine eigene Wahrheit verloren hat, verliert nicht nur die Kontrolle über sein eigenes Leben, die Entscheidungsgewalt über seinen Willen, sondern am Ende auch sich selbst.
Einsamkeit und Verlassenheit
Organisierte Verlassenheit oder unorganisierte Ohnmacht? So lautete meine anfängliche Frage. Denn war es in der Tyrannis noch die Furcht als Prinzip öffentlich-politischen Handelns (oder besser gesagt: Nicht-Handelns), die als Grunderfahrung menschlichen Zusammenseins diese daran hinderte, ihre eigene Stärke zu verwirklichen und sie somit immer ohnmächtiger hat fühlen lassen18, rechnet das Wesen totalitärer Herrschaft gar nicht mehr mit handelnden Menschen. Das Prinzip der Furcht wird überflüssig. Dafür setzt sie an seine Stelle «etwas ganz und gar anders Geartetes, das mit dem menschlichen Willen zum Handeln nichts mehr zu tun hat, dafür aber seinem Bedürfnis nach Einsicht entgegenkommt und ihn lehrt, die Bewegungsgesetze zu verstehen die der Terror vollstreckt und die ja angeblich von Geschichte und Natur über eine ihnen ausgelieferte Menschheit ohnehin verhängt worden sind»2. Die Rede ist von dem Gefühl der Verlassenheit. — Alle späteren Auswüchse; die Wahrheitsferne, die Ideologien und die Angst, sie alle seien, so Arendt, auf sie, die Verlassenheit, zurückzuführen. Sie sei es, die den modernen Menschen in die Arme totalitärer Bewegungen treibe. Und in Elemente und Ursprünge erklärt sie uns auch warum:
«Verlassenheit entsteht wenn aus gleich welchen personalen Gründen ein Mensch aus dieser Welt hinausgestoßen wird, oder wenn aus gleich welchen geschichtlich-politischen Gründen diese gemeinsam bewohnte Welt auseinander bricht und die miteinander verbundenen Menschen plötzlich auf sich selbst zurückwirft…. In der Verlassenheit sind Menschen wirklich allein, nämlich verlassen nicht nur von anderen Menschen und der Welt, sondern auch von dem Selbst, das zugleich jedermann in der Einsamkeit sein kann. So sind sie unfähig, den Zwiespalt der Einsamkeit zu realisieren, und unfähig, die eigenen, von den anderen nicht mehr bestätigte Identität mit sich selbst aufrechtzuerhalten. In dieser Verlassenheit gehen Selbst und Welt, und das heißt echte Denkfähigkeit und echte Erfahrungsfähigkeit, zugleich zugrunde. An der Wirklichkeit, die keiner mehr verlässlich bestätigt, beginnt der Verlassene mit Recht zu Zweifeln; denn diese Welt bietet Sicherheit nur, insofern sie uns von anderen mit garantiert ist.»19
In der Erfahrung der Verlassenheit sei es, «als breche alles, was Menschen miteinander verbindet, in der Krise zusammen, so dass jeder von jedem verlassen und auf nichts mehr Verlass ist. Das eiserne Band, mit dem der totalitäre Herrschaftsapparat die von ihm organisierten Massen in eine entfesselte Bewegung reißt, erscheint so als ein letzter Halt und die ‹eiskalte Logik›, mit der totalitäre Gewalthaber ihre Anhänger auf das Ärgste vorbereiten, als das einzige, woraus wenigstens noch Verlass ist.»20 Die Zerstörung der Pluralität, die der Terror bewirke, hinterlasse in jedem einzelnen «das Gefühl, von allen andern ganz und gar verlassen zu sein.»21
Aber dennoch: Obgleich der Zwiespalt zwischen Einsamkeit und Verlassenheit für viele schwer zu benennen ist, meinen beide doch nicht dasselbe: Denn auch wenn es die Gefahr jeder Einsamkeit ist, in Verlassenheit umzuschlagen und die Chance jeder Verlassenheit darin besteht, zu Einsamkeit zu werden, sind wir in der Einsamkeit eigentlich niemals allein. Wir sind mit uns selbst zusammen. Und dieses Selbst, «das niemals zu einem leiblich unverwechselbar Bestimmten werden kann, ist zugleich auch jedermann». Damit ist gerade das einsame Denken dialogisches Denken, das in Gesellschaft mit jedermann geführt wird. Dies sei, so Arendt, «die Zwiespältigkeit der Einsamkeit, in der ich immer auf mich selbst zurückbezogen mich niemals als Einen, in seiner Identität Unverwechselbaren, wirklich Eindeutigen erfahren kann.»22 Die Frage besteht folglich nur darin, wie wir verlassenes Denken wieder in einsames Denken verwandeln können.
Sich gegenseitig Wiederfinden
Das Gefühl völliger Einsamkeit und Isolation, so beschrieb es bereits Erich Fromm in Die Furcht vor der Freiheit, führe genauso zur seelischen Desintegration, wie das Fehlen von Nahrung zum Tode. Dabei sei die Bezogenheit auf andere nicht dasselbe wie körperlicher Kontakt. «Ein Mensch», schrieb Fromm, «kann in physischer Beziehung viele Jahre lang für sich allein leben und trotzdem mit Ideen, Werten oder wenigstens mit gesellschaftlichen Verhaltensmustern verbunden sein, die ihm ein Gefühl der Gemeinsamkeit geben, das Gefühl ‹dazu zu gehören›. Andererseits kann man unter Menschen leben und trotzdem von einem Gefühl unbeschreiblicher Vereinsamung überwältigt werden, das – wenn es eine gewisse Grenze überschreitet – zu einer Geisteskrankheit mit schizophrener Symptomatik führt. Diese fehlende Beziehung zu Werten, Symbolen oder bestimmten Verhaltensmustern können wir als ‹seelische Vereinsamung› bezeichnen. Diese ist ebenso unerträglich wie die körperliche Vereinsamung.»23
Selbst nach Fromms Punktlandungen hinsichtlich unseres gesellschaftlichen wie innerpsychischen Auseinandertreibens hat sich nicht viel zum Besseren gewendet. Vielmehr stehen die Bedingungen, unter denen wir uns damals wie heute im politischen Feld bewegen, unter derselben «Bedrohung dieser verwüstenden Sandstürme». Doch anders als anfangs geglaubt, besteht ihre Gefahr nicht darin, dass sie etwas Bleibendes errichten könnten. Der eigentliche Abgrund, so Hannah Arendt, offenbare sich in etwas anderem. Sie schreibt:
«Totalitäre Herrschaft gleich der Tyrannis trägt den Kern ihres Verderbens in sich. So wie die Furcht und die Ohnmacht, aus der sie entspringt, ein antipolitisches Prinzip und eine dem politischen Handeln konträre Situation darstellen, so sind die Verlassenheit und das ihr entspringende logisch ideologische Deduzieren zum Ärgsten hin eine antisoziale Situation und ein alles menschliche Zusammensein ruinierendes Prinzip. Dennoch ist organisierte Verlassenheit erheblich bedrohlicher als die unorganisierte Ohnmacht aller, über die der tyrannisch-willkürliche Wille eines einzelnen herrscht. Ihre Gefahr ist, daß sie die uns bekannte Welt, die überall an ein Ende geraten scheint, zu verwüsten droht, bevor wir die Zeit gehabt haben, aus diesem Ende einen neuen Anfang erstehen zu sehen, der an sich in jedem Ende liegt, ja der das eigentliche Versprechen des Endes an uns ist.»24
Wir verlieren uns, ehe wir uns überhaupt erst hätten finden können. Darin liegt der Kern dessen, wovor uns Hannah Arendt hat warnen wollen. Für sie war klar: «Menschlich müssen wir weitgehend Verantwortung auch für das übernehmen, was Menschen ohne unser Wissen und Zutun irgendwo in der Welt verbrochen haben; sonst gäbe es keine Einheit des Menschengeschlechts.»25 Um an diesen Punkt jedoch überhaupt erst zu kommen, gilt es das zu überdauern, was uns zu entzweien droht, bevor der Zeitpunkt gekommen ist, an dem wir uns einander wieder in die Augen blicken können. Und diese Zeit gilt es nur auf einem Wege zu überstehen: gemeinsam.
«Ideologie und Terror» ist das erste im Deutschen erschienene Kapitel aus Arendts Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft, welches erst 1955 aus dem Englischen übersetzt wurde.
Literaturempfehlung: Camus, Albert (2012): Caligula. Paris (Gallimard).
Zitat Voltaire: «Ein Tyrann ist ein Herrscher, der kein anderes Gesetz respektiert als das seiner wechselnden Launen.» In: Voltaire, Voltaire (1994): Schule der Toleranz. zeitgemässe Aphorismen und zeitlose Erkenntnisse des grossen Philosophen. (Im O.W. Barth-Programm bei Scherz), Seite 35.
Hannah Arendt (1953): Ideologie und Terror. In: Piper, Klaus (1953): Offener Horizont. Festschrift für Karl Jaspers [zum 70. Geburtstag 23. Februar 1953]. München (R. Piper), Seite 238f.
Ebenda, Seite 236.
Ebenda, Seite 239.
Ebenda, Seite 241.
Ebenda, Seite 241.
Ebenda, Seite 239.
Ebenda, Seite 251, eigene Hervorhebungen.
Ebenda, Seite 244.
Hannah Arendt (2006): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft: Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus. München. Piper.
Hannah Arendt (1953), Seite 242f.
Ebenda, Seite 243.
Ebenda, Seite 246.
Ebenda, Seite 246f.
Ebenda, Seite 237.
Ebenda, Seite 249f.
Hannah Arendt (2006), Seite 977.
Ebenda, Seite 978.
Arendt (1953), Seite 251.
Ebenda, Seite 252.
Erich Fromm (2000): Die Furcht vor der Freiheit. Dtv, Seite 24f.
Arendt (1953), Seite 254.
Ebenda, Seite 230.
Wie immer, liebe Lilly Gebert, gelingt es Ihnen, den Maßstab des Denkens & der Bereitschaft, sich einzulassen, jedem Mainstream zu entreißen & den Leser mit sich & seinen eigenen Gedanken & Emotionen zum Gesagten zu konfrontieren. Auch wenn in letzter Zeit einige Artikel zu dem Thema der psychologischen Massenlenkung erschienen sind, bleibt es ihr singulärer Verdienst, die zum Verständnis des Themas unabdingbare emotionale Verknüpfung sichtbar zu machen.
Dafür meinen besonderen Dank für ihre Arbeit an den entlegenen Randbezirken des relevanten Journalismus in diesem (?) Lande.
Chapeaux von einem „alten weißen Mann“
❤️liche Grüße
Klaus Scholz