Das vergessene Wissen unserer Seele
Über die Verbindung unseres Innenlebens mit der Natur — um uns und in uns selbst. Ein Toteninterview mit C. G. Jung.
«Warum kann man sich nicht begnügen? Warum ist man nicht vernünftig? Warum tut man das Gute nicht ausschließlich und muss dem Bösen immer noch eine Ecke lassen? Warum sagt man bald zu viel, bald zu wenig? Warum macht man Dummheiten, die man bei einiger Besonnenheit leicht vermeiden könnte? Ja, wodurch werden wir immer wieder durchkreuzt und in unseren besten Intentionen gehemmt? Warum gibt es Menschen, die solches nicht merken oder es nicht einmal zugeben können, dass dem wirklich so sei?»1
Die Welt steht am Scheideweg. Doch damit dieser nicht in den Abgrund, sondern in einen Wandel führt, müsse das für diesen erforderliche Umdenken, so Carl Gustav Jung, beim Einzelnen beginnen. Erst indem dieser wieder lerne, auf die leise Stimme der Natur in seinem Innern zu hören und sie ernstzunehmen, könne der Mensch seine Abspaltung überwinden und seine Neurosen dadurch auflösen, dass er zurückfindet zu seinen Instinkten. Die Individuation, schreibt Jung, werde durch einen Trieb gelenkt. Wollten wir sie erreichen, dürften wir die Natur, das Wilde, das Archaische in uns nicht weiter verleugnen. Es sei an uns, uns rückzuverbinden mit der Ganzheit alles Seiendem. Ihre Erkenntnis sei der Schlüssel zu unserer eigensten innern Integration.
Sehr geehrter C. G. Jung, was bedeutet es, mit der Natur wahrhaft in Kontakt zu treten?
«Wann immer wir mit der Natur in Berührung kommen, werden wir sauber. Die Wilden sind nicht schmutzig, nur wir sind schmutzig. Domestizierte Tiere sind schmutzig, aber niemals wilde Tiere. Materie am falschen Ort ist Schmutz. Menschen, die durch zu viel Zivilisation schmutzig geworden sind, machen einen Waldspaziergang oder baden im Meer. Sie mögen das auf diese oder jene Weise rationalisieren, aber faktisch werfen sie die Fesseln ab und gestatten der Natur, sie zu berühren. Das kann innerlich oder äußerlich geschehen. Wenn man im Wald spazieren geht, sich ins Gras legt oder ein Bad im Meer nimmt, dann kommt es von außen; wenn man sich in das Unbewusste versenkt oder durch Träume mit sich selbst in Kontakt kommt, dann berührt man die Natur von innen, und das ist dasselbe, die Dinge kommen wieder in Ordnung. All dies ist in früheren Zeiten in Initiationsriten benutzt worden. Es ist alles in den alten Mysterien enthalten, die Einsamkeit der Natur, die Betrachtung der Sterne, der Inkubationsschlaf im Tempel.»2
Worin besteht dieses «Wilde» in uns?
«Der Stier ist eine Naturkraft, das unbeherrschte Tier, die nicht unbedingt destruktiv ist. Wir kennen das christliche Vorurteil gegen das Tier im Menschen, aber ein Tier ist nicht böse, ebenso wenig ist es gut. Wir sind böse, der Mensch ist zwangsläufig böse, weil er so gut ist. Nur domestizierte Tiere benehmen sich schlecht; ein wildes Tier fällt nie aus der Rolle, es folgt seinem eigenen Naturgesetz; so etwas wie einen guten Tiger, der nur Äpfel und Karotten frisst, gibt es nicht; ein wildes Tier ist ein frommes, gehorsames Geschöpf, das den Willen Gottes in der vollkommensten Weise erfüllt. Der Stier ist ein ziemlich wildes Tier, und wenn wir das Tier in uns selbst töten, dann töten wir auch die wirklich guten Dinge in uns selbst, nicht die scheinbar guten Dinge. Deshalb wäre es eine Blasphemie für uns, den Stier zu töten, eine Sünde, es würde bedeuten, die Natur in uns zu töten, dasjenige, was ganz natürlich Gott dient. Das ist unsere einzige Hoffnung, in einen Zustand zurückzukehren, in dem wir in Einklang mit der Natur stehen. Wir müssen unser Schicksal in Einklang mit den Naturgesetzen erfüllen, oder wir können nicht wahre Diener Gottes werden.»3
Was können wir jetzt, da dies ein individuelles und kein kollektives Problem mehr ist, tun, um den Stier wieder zum Leben zu erwecken?
«Wir sollten danach trachten, die Verbindung mit ihm wiederherzustellen, oder er könnte in einem Teil unserer Psyche wieder lebendig werden, wo unser Bewusstsein nicht hingelangt.»4
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Wozu würde diese Wildnis in unserem Bewusstsein führen?
«Wenn jeder Einzelne ein besseres Verhältnis zu seinem ‹Tiere› hätte, so hätte er eine andere Wertschätzung des Lebens. Dann wäre ihm ‹Leben› ein unbedingtes, moralisches Prinzip, und er würde sich schon aus Instinkt gegen jede Institution o. Organisation sträuben, welche die Macht hat, das Leben in großem Umfange zu vernichten.»5
Wodurch aber konnte diese lebensverneinende Abspaltung erst entstehen?
«Seit unvordenklichen Zeiten war die Natur immer beseelt gewesen. Jetzt leben wir zum ersten Mal in einer entseelten und entgötterten Natur… Mit einem bloßen Aufklärungsakt sind zwar die Naturgeister ungültig geworden, nicht aber die entsprechenden psychischen Faktoren, wie zum Beispiel die Suggestibilität, die Kritiklosigkeit, die Ängstlichkeit, die Neigung zu Aberglauben und Vorurteil, kurz alle jene bekannten Eigenschaften, welche die Besessenheit ermöglichen. Wenn schon die Natur entseelt ist, so sind die psychischen Bedingungen, welche Dämonen erzeugen, so aktiv wie nur je am Werke. Die Dämonen sind eben nicht wirklich verschwunden, sondern haben nur die Gestalt geändert. Sie sind jetzt unbewusste psychische Potenzen geworden. Mit diesem Resorptionsprozess ging eine zunehmende Inflation des Ichs einher, was sich etwa seit dem 16. Jahrhundert deutlich genug bemerkbar macht.»6
Welchen Anteil hat unser Verstand an dieser Entseeltheit?
«Unser Verstand hat eine neue Welt geschaffen, die die Natur beherrscht; er hat diese Welt mit monströsen Maschinen bevölkert, die sich als so nützlich erweisen, dass wir keine Möglichkeit sehen, sie je wieder loszuwerden… Es gibt keine Götter mehr, die wir um Hilfe anrufen könnten… Mit Hilfe der Vernunft, so reden wir uns ein, haben wir ‹die Natur besiegt›… Dieses entwurzelte Bewusstsein, das sich nirgends mehr auf die Autorität der Urbilder berufen kann, ist zwar von promethischer Freiheit, aber auch von gottloser Hybris.»7
Wollen wir nicht, wie wir können, oder können wir nicht, wie wir wollen?
«Der westliche Mensch bedarf der Überlegenheit über die Natur außen und innen nicht. Er hat beides in beinahe teuflischer Vollendung. Was er aber nicht hat, ist die bewusste Anerkennung seiner Unterlegenheit unter die Natur um ihn und in ihm. Was er lernen sollte, ist, dass er nicht kann, wie er will. Lernt er das nicht, so wird seine eigene Natur ihn zerstören. Er kennt seine Seele nicht, die sich selbstmörderisch gegen ihn empört.»8
Was bedeutet das – in einem größeren Zusammenhang?
«Anthropologen haben oft beschrieben, was passiert, wenn in einer primitiven Gesellschaftsordnung die geistigen Werte dem Ansturm der modernen Zivilisation ausgesetzt werden. Die Menschen verlieren den Glauben an den Sinn ihres Lebens, ihre soziale Ordnung zerfällt, und sie selber gehen moralisch zugrunde. Wir sind heute in der gleichen Lage. Aber wir haben nie richtig verstanden, was wir verloren haben, denn unsere geistigen Führer waren unglücklicherweise mehr daran interessiert, ihre Institutionen zu schützen, als daran, das Geheimnis zu verstehen, welches die Symbole darstellen. Meiner Meinung nach schließt der Glaube nicht das Denken aus (das die stärkste Waffe des Menschen ist); aber leider scheinen manche Gläubige sich so sehr vor der Naturwissenschaft (und vor der Psychologie) zu fürchten, dass sie blind sind gegenüber den numinosen psychischen Mächten, die ewig das Schicksal des Menschen beherrschen. Wir haben alle Dinge ihres Geheimnisses und ihrer Numinosität beraubt; uns ist nichts mehr heilig.»9
Wie können wir dieser fortlaufenden Entzauberung etwas entgegensetzen?
«So, wie wir äußerlich in einer Welt leben, wo jederzeit sich ein Kontinent senken, die Pole sich verschieben, eine neue Pestilenz ausbrechen kann, so leben wir innerlich in einer Welt, wo jederzeit etwas Ähnliches entstehen kann, allerdings nur in der Form der Idee, aber nicht minder gefährlich und unzuverlässig. Nichtanpassung an diese innere Welt ist eine ebenso folgenschwere Unterlassung wie Ignoranz und Unfähigkeit in der äußeren Welt.»10
Inwieweit ist der Mensch überhaupt noch fähig, diese Abspaltung von sich selbst wahrzunehmen?
«Der Mensch besitzt im Unbewussten eine feine Witterung für den Geist seiner Zeit, er ahnt seine Möglichkeiten und fühlt in seinem Inneren die Unsicherheit der Fundamente gegenwärtiger Moral, die nicht mehr von lebendiger religiöser Überzeugung gestützt ist. Von da stammt der größte Teil der ethischen Konflikte unserer Zeit. Der freiheitsdurstige Trieb stößt gegen die nachgebende Schranke der Moralität: Die Menschen sind in Versuchung, sie wollen und wollen nicht. Und weil sie nicht ausdenken wollen und können, was sie eigentlich wollen, ist ihr Konflikt größtenteils unbewusst, und daher stammt die Neurose. Die Neurose ist somit, wie wir sehen, innigst mit dem Problem unserer Zeit verknüpft und stellt eigentlich einen missglückten Versuch des Individuums dar, in sich selbst das allgemeine Problem zu lösen, Neurose ist Entzweiung mit sich selbst.»11
Worin wurzelt diese Neurose im Kern?
«Es handelt sich um Menschen, die den Verlust des Mythus nicht ertragen und weder den Weg zu einer nur äußeren Welt, das heißt zum Weltbild der Naturwissenschaft, finden, noch sich am intellektuellen Fantasiespiel mit Wörtern, das mit Weisheit nicht das Geringste zu tun hat, sättigen können.»12
Wenn der Tod in der Seele hockt… Wie gehen Sie mit einem Menschen um, der zu sterben droht, ehe der Tod seines Körpers eintritt?
«Natürlich tue ich mein Möglichstes für die Patienten; aber es ist sehr wichtig in der Psychologie, dass der Arzt nicht eine Heilung um jeden Preis anstrebt. Wir müssen außerordentlich vorsichtig sein, um dem Patienten nicht unseren eigenen Willen und unsere Überzeugungen aufzuzwingen. Wir müssen ihm ein gewisses Maß an Freiheit zugestehen. Man kann Menschen nicht ihrem Schicksal entwinden, so wie man in der Medizin einen Patienten nicht heilen kann, wenn die Natur ihn zum Sterben bestimmt hat. Manchmal steht man wirklich vor der Frage, ob es einem erlaubt sei, jemanden vor einem Schicksal zu retten, das er im Interesse seiner späteren Entwicklung auf sich nehmen muss. Man kann gewisse Leute nicht zurückhalten, furchtbar törichte Dinge zu tun, weil das einfach zu ihrem Wesen gehört. Wenn ich sie ihnen wegnehme, haben sie gar nichts davon. Wir kommen zu einer psychologischen Entwicklung nur dadurch, dass wir uns selbst so annehmen, wie wir sind, und das Leben, das uns anvertraut ist, ernsthaft zu leben versuchen. Unsere Sünden und Irrtümer und Fehler sind für uns notwendig, da wir sonst der wertvollsten Entwicklungsanreize beraubt würden. Wenn jemand, nachdem er etwas gehört hat, was seine innere Verfassung ändern könnte, weggeht, ohne darauf zu achten, dann rufe ich ihn nicht zurück. Sie können mich unchristlich nennen, aber das berührt mich nicht. Ich stehe auf der Seite der Natur.»13
Inwieweit unterscheidet sich ihr Ansatz an dieser Stelle von dem Sigmund Freuds?
«Die Freudsche Psychoanalyse beschränkt sich, wie Sie wissen, darauf, die Schattenwelt und das Böse bewusstzumachen. Sie eröffnet einfach den vorher latenten Bürgerkrieg. Und damit hat es dann sein Bewenden. Der Patient muss sehen, wie er selber damit fertig wird. Freud hat leider ganz übersehen, dass der Mensch noch zu keiner Zeit imstande war, allein mit den Mächten der Unterwelt, das heißt des Unbewussten, fertig zu werden. Er bedurfte dazu stets der geistigen Hilfe, welche ihm seine jeweilige Religion gewährte. Die Eröffnung des Unbewussten bedeutet den Ausbruch eines großen seelischen Leidens, denn es ist gerade so, wie wenn eine blühende Zivilisation dem Einbruch von Barbarenhorden preisgegeben oder wie wenn fruchtbares Ackerland durch Zerstörung der Schutzdämme dem Wüten eines Wildbaches ausgeliefert würde. Ein solcher Durchbruch war auch der Weltkrieg, der wie nichts anderes beweist, wie dünn die Scheidewand ist, die eine geordnete Welt vom ewig lauernden Chaos trennt. Aber so ist es in jedem einzelnen: Hinter seiner vernünftig geordneten Welt wartet rachsüchtig eine durch Vernunft vergewaltigte Natur auf den Augenblick, wo die trennende Wand fällt, um sich verheerend ins bewusste Dasein zu ergießen. Seit urältesten und primitivsten Zeiten ist sich der Mensch dieser Gefahr bewusst, der Gefahr der Seele, und er hatte darum religiöse und magische Bräuche, um sich vor der Bedrohung zu schützen oder um entstandenen seelischen Schaden zu heilen. Darum ist der Medizinmann auch immer zugleich der Priester, der Heiland des Körpers sowohl als auch der Seele, und die Religionen sind Heilsysteme für die Leiden der Seele. Das gilt in ganz besonderem Maße von den beiden größten Religionen der Menschheit, dem Christentum und dem Buddhismus. Dem leidenden Menschen hilft nie, was er selbst ersinnt, sondern nur übermenschliche, geoffenbarte Wahrheit, die ihn dem leidenden Zustand enthebt.»14
Was aber hilft dem Leidenden?
«Man sollte nicht suchen, wie man die Neurose erledigen kann, sondern man sollte in Erfahrung bringen, was sie meint, was sie lehrt und was ihr Sinn und Zweck ist. Man sollte lernen, ihr dankbar zu werden, sonst hat man sie verpasst und die Möglichkeit verloren, mit dem, was man wirklich ist, bekannt zu werden. Eine Neurose ist dann wirklich ‹erledigt›, wenn sie das falsch eingestellte Ich erledigt hat. Nicht sie wird geheilt, sondern sie heilt uns. Der Mensch ist krank, die Krankheit aber ist der Versuch der Natur, ihn zu heilen. Wir können also aus der Krankheit selber sehr viel für unsere Gesundung lernen, und was dem Neurotiker als absolut verwerflich erscheint, darin liegt das wahre Gold, das wir sonst nirgends gefunden haben.»15
Was kommt nach der Neurose?
«Das Problem führt uns in eine vater- und mutterlose Einsamkeit, ja in eine naturlose Verlassenheit, wo wir zu Bewusstheit und zu nichts als Bewusstheit gezwungen sind.»
Von welchem Bewusstsein sprechen Sie?
«Insofern die Natur unbewusst ist, folgt sie ausschließlich dem Gesetz. In dem Maße aber, als Bewusstsein vorhanden ist, besteht die Möglichkeit der Freiheit. Durch die Entwicklung des Bewusstseins aus der Dunkelheit des Unbewussten entsteht also Befreiung vom Gesetz, beziehungsweise eine relative Unabhängigkeit von und ein relatives Anderssein als die ursprüngliche Natur. Das Bewusstsein tritt aus der Kreatur hervor und wird Kreator. Auf diese Weise entsteht vermöge des Bewusstseins die ‹Gottesverwandtschaft›, das heißt die Verwandtschaft mit dem Selbst, das als übergeordnete Ganzheit der Schöpfer und Führer unseres Lebens ist. Der Kreator ist der Herr und Geber der Gesetze. So ruht in Gott alle Freiheit und im Menschen nur soviel, als er Bewusstsein hat, das heißt, insoweit als er sein Licht von der Dunkelheit der Natur lösen konnte. Das Bewusstsein ist gottverwandt, denn es hat die Möglichkeit der Freiheit. Es kann auch ungehorsam sein. Die Natur kann es nicht. Der einzige aber, der Gott gänzlich und vollkommen ungehorsam sein kann, ist nur Gott selber. Gott beweist seine Freiheit absolut nur dadurch, dass er sich total in Gegensatz zu sich selber stellen kann. Solches kann der Mensch nur in sehr unvollkommener Weise; dazu ist er zu sehr Tier und als solches gehorsam und fromm, das heißt den Gotteswillen blind erfüllend.»16
Wenn wir nun schon bei Gott sind: Inwieweit spielt Liebe hier eine Rolle?
«Die Liebe allein nützt nichts, wenn sie nicht auch Verstand hat. Zum richtigen Gebrauch des letzteren braucht es ein erweitertes Bewusstsein und einen höheren Standpunkt, der den Umfang des Horizontes vergrößert. Deshalb hat sich das Christentum in seiner historischen Wirklichkeit nicht damit begnügt, die Menschen zur Nächstenliebe zu ermahnen, sondern hat auch ein geistiges Kulturpensum erfüllt, das man gar nicht überschätzen kann. Es hat damit den Menschen zu höherer Bewußtwerdung und Verantwortung erzogen. Gewiss braucht es dazu Liebe, aber eine Liebe, die mit Einsicht und Verstand gepaart ist. Die Funktion des letzteren ist, Bezirke, die noch dunkel sind, zu erhellen und dem Bewusstsein durch ‹Begreifen› zuzuführen, und zwar außen, in der Umwelt, sowohl wie auch innen, in der Innenwelt der Seele. Je blinder die Liebe, desto triebhafter ist sie und droht mit destruktiven Folgen, denn sie ist eine Dynamis, welche der Form und der Richtung bedarf. Deshalb ist ihr ein kompensatorischer Logos zugesellt, als ein Licht, das in der Finsternis leuchtet. Ein Mensch, der seiner selbst unbewusst ist, handelt triebhaft und wird überdies genarrt von all den Illusionen, die daraus entstehen, dass ihm das, was ihm selber unbewusst ist, scheinbar von außen, nämlich als Projektion auf den Nebenmenschen, entgegentritt.»17
Hinsichtlich dieses «Dunklen» sprechen Sie auch viel vom «Schatten» eines jeden Menschen. Inwieweit steht dieser in Verbindung mit unserer Erde?
«Wir bezeichnen psychologisch als Schatten die minderwertige Figur, die der Erde verhaftet ist. Es ist wie beim Schatten, der ja auch immer auf der Erde liegt. Der Ausdruck ‹Schatten› ist sozusagen wörtlich zu verstehen. Die Vorstellung vom Schatten ist unmittelbar aus der Psychologie der Primitiven entnommen. Erde und Schatten sind für den Primitiven identisch. Er ist das Erdverhaftete par excellence, das, was nie loskommt vom Boden. Der Schatten ist eine der primitivsten Seelendefinitionen. Wenn man den Schatten verletzt, verletzt man den Menschen; wenn man beispielsweise auf den Schatten tritt, so ist es, wie wenn man dem betreffenden Menschen einen Tritt gäbe. Der Häuptling verliert sein Mana, wenn jemand über seinen Schatten schreitet. Es ist, als ob ein anderer sich auf ihn geworfen und ihn überwunden hätte. Es gibt noch eine weitere merkwürdige Vorstellung vom Schatten bei den Primitiven: In den südlichen Ländern ist mittags Geisterstunde. Der Schatten ist da am kleinsten, und deshalb entsteht die Furcht, er könnte überhaupt verschwinden. Dann ist es unheimlich, denn dann hat man den Schatten verloren, die Beziehung zur Erde verloren, man hat einen Seelenverlust erlitten.
Der Schatten ist die zweite Person. Er ist eine Personifikation dessen, was hinter einem folgt, was im Schatten des Bewusstseins liegt, und hat in der Regel – pathologische Fälle ausgenommen – auch die Bedeutung des Erdhaften zugleich.»18
In welchem Zusammenhang steht dieses Primitive mit unseren Instinkten und dem, was Sie «Archetyp» nennen?
«Der Archetyp ist vielmehr eine angeborene Tendenz, solche bewussten Motivbilder zu formen – Darstellungen, die im Detail sehr voneinander abweichen können, ohne jedoch ihre Grundstruktur aufzugeben… Was wir Instinkte nennen, sind physiologische Impulse, die mit den Sinnen ‹außen› wahrgenommen werden. Gleichzeitig aber erscheinen sie auch ‹innen› in Fantasien und verraten ihre Gegenwart oft durch symbolische Bilder. Diese ‹inneren› Erscheinungen sind es, die ich als Archetypen bezeichne. Ihren Ursprung kennt man nicht; sie tauchen jederzeit auf, überall in der Welt.»19
«Das Allerälteste ist die Instinktgrundlage. Wer die Instinkte übersieht, der wird von ihnen aus dem Hinterhalt überwältigt, und wer sich nicht selbst erniedrigen kann, der wird erniedrigt, wobei er auch die Freiheit, sein kostbarstes Gut, mit einbüßt.»20
Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang unser Körper?
«Der Körper erhebt seinen Anspruch auf Gleichberechtigung, ja er übt eine Faszination aus wie die Seele. Ist man noch gefangen von der alten Idee des Gegensatzes von Geist und Materie, so bedeutet dieser Zustand eine Zerspaltung, ja einen unerträglichen Widerspruch. Kann man sich dagegen mit dem Mysterium aussöhnen, dass die Seele das innerlich angeschaute Leben des Körpers und der Körper das äußerlich geoffenbarte Leben der Seele ist, dass die beiden nicht zwei, sondern eins sind, so versteht man auch, wie das Streben nach Überwindung der heutigen Bewusstseinsstufe durch das Unbewusste zum Körper führt, und umgekehrt, wie der Glaube an den Körper nur eine Philosophie zulässt, die den Körper nicht zugunsten eines reinen Geistes negiert.»21
Wie bringen wir Körper und Seele, Instinkt und Wahrnehmung wieder in Einklang?
«Seele und Körper sind wohl ein Gegensatzpaar und als solches der Ausdruck eines Wesens, dessen Natur weder aus der stofflichen Erscheinung noch aus der inneren unmittelbaren Wahrnehmung erkennbar ist. Man weiß, dass eine altertümliche Anschauung aus dem Zusammenkommen einer Seele mit einem Körper den Menschen entstehen lässt. Es ist aber wohl richtiger, zu sagen, dass ein unerkennbares lebendiges Wesen über dessen Natur schlechthin nichts auszusagen ist, als dass wir damit undeutlich einen Inbegriff von Leben bezeichnen äußerlich als stofflicher Körper erscheint, innerlich angeschaut aber als Folge von Bildern der im Körper stattfindenden Lebenstätigkeit. Das eine ist das andere, und der Zweifel befällt uns, ob nicht am Ende diese ganze Trennung von Seele und Körper nichts sei als eine zum Zwecke der Bewusstmachung getroffene Verstandesmaßnahme, eine für die Erkenntnis unerlässliche Unterscheidung eines und desselben Tatbestandes in zwei Ansichten, denen wir sogar selbstständige Wesenheit zugedacht haben.»22
Wie also findet der Mensch zurück zu sich selbst?
«Zur Persönlichkeit kann niemand erziehen, der sie nicht selber hat. Und nicht das Kind, sondern nur der Erwachsene kann Persönlichkeit erreichen als reife Frucht einer auf dieses Ziel eingestellten Lebensleistung. Denn in der Erreichung der Persönlichkeit liegt nichts Geringeres als die bestmögliche Entfaltung des Ganzen eines besonderen Einzelwesens. Es ist gar nicht abzusehen, was für eine unendliche Zahl von Bedingungen hier zu erfüllen sind. Es ist ein ganzes Menschenleben mit allen seinen biologischen, sozialen und seelischen Aspekten hierzu nötig. Persönlichkeit ist höchste Verwirklichung der eingeborenen Eigenart des besonderen lebenden Wesens. Persönlichkeit ist die Tat des höchsten Lebensmutes, der absoluten Bejahung des individuell Seienden und der erfolgreichsten Anpassung an das universal Gegebene bei größtmöglicher Freiheit der eigenen Entscheidung…
Die Persönlichkeit entwickelt sich im Laufe des Lebens aus schwer oder gar undeutbaren Keimanlagen, und erst durch unsere Tat wird es offenbar, wer wir sind. Wir sind wie die Sonne, welche das Leben der Erde nährt und allerhand Schönes, Seltsames und Übles hervorbringt; wir sind wie die Mütter, die unbekanntes Glück und Leiden im Schoße tragen. Wir wissen zunächst nicht, welche Taten oder Untaten, welches Schicksal, welches Gute und welches Böse wir enthalten; und erst der Herbst wird zeigen, was der Frühling gezeugt hat, und erst am Abend wird deutlich sein, was der Morgen begann.
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Die Persönlichkeit als eine völlige Verwirklichung der Ganzheit ist ein unerreichbares Ideal. Die Unerreichbarkeit ist aber nie ein Gegengrund gegen ein Ideal, denn Ideale sind nichts als Wegweiser und niemals Ziele.
Das Wort: ‹Viele sind berufen, und wenige sind auserwählt›, gilt hier wie nirgends; denn die Entwicklung der Persönlichkeit aus ihren Keimanlagen zur völligen Bewusstheit ist ein Charisma und zugleich ein Fluch: ihre erste Folge ist die bewusste und unvermeidliche Absonderung des Einzelwesens von der Ununterschiedenheit und Unbewusstheit der Herde. Das ist Vereinsamung, und dafür gibt es kein tröstlicheres Wort. Davon befreit auch keine noch so erfolgreiche Anpassung oder noch so reibungslose Einpassung in die bestehende Umgebung, keine Familie, keine Gesellschaft und keine Position. Die Entwicklung der Persönlichkeit ist ein solches Glück, dass man es nur teuer bezahlen kann. Wer am meisten von der Entfaltung der Persönlichkeit spricht, denkt am wenigsten an die Folgen, die an sich schon schwächere Geister aufs gründlichste abschrecken… Entwicklung der Persönlichkeit aber heißt noch mehr als bloße Befürchtung abnormer Ausgeburten oder der Vereinsamung, sie heißt auch: Treue zum eigenen Gesetz.»23
Der erste Text, den ich damals für «Die Freien» verfasste, war ein Toteninterview mit Karlfried Graf Dürckheim. Gerade bei Geistern, deren Magie bereits stark in ihrem Wortklang liegt, halte ich dieses Format als sehr geeignet, Botschaften zu transportieren, die, würde ich sie mit meinen eigenen Gedanken durchmischen, nur aufgeweicht, wenn nicht sogar verfälscht würden. Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende. Auf die Treue zum eigenen Gesetz und das Archaische in uns!
C. G. Jung: Gesammelte Werke, 20 Bände, herausgegeben von Lilly Jung-Merker, Elisabeth Rüf und Leonie Zander. Olten/Freiburg i. Br. 1971 ff, 16, §§ 387-389.
Traumanalyse. Nach Aufzeichnungen der Seminare 1928-1930. Herausgegeben von Wlliam McGuire. Olten/Freiburg i. Br. 1991, Seite 172.
Traumanalyse, Seite 63f.
Ebenda.
Gesammelte Werke 10, § 32
Gesammelte Werke 10 §431
Gesammelte Werke 11 §870 / GW 13 § 13
Gesammelte Werke 11, §870
Gesammelte Werke, 94f.
Gesammelte Werke 7, § 326
Gesammelte Werke 7, 55 428-430
Erinnerungen, Träume, Gedanken von C. G. Jung, aufgezeichnet von Aniela Jaffé, Olten/Freiburg i. Br. 1971, Seite 149.
Gesammelte Werke 18/I § 291
Gesammelte Werke 11, § 531
Gesammelte Werke 10, 361
Kinderträume. Herausgegeben von Lorenz Jung und Maria Meyer-Grass. Walter: Olten/Freiburg i. Br. 1987, Seite 390 f.
Gesammelte Werke 13, 5 391.
Kinderträume, Seite 141.
C. G. Jung u. a.: Der Mensch und seine Symbole. Olten/Freiburg i. Br. 1968, Seite 67 ff.
Gesammelte Werke 9/I § 620
Gesammelte Werke 10, $ 195
Gesammelte Werke 8, § 619
Gesammelte Werke 17, SS 289-295
Die Form mit dem Interview, einfach genial, liebe Lilly. Und es ist verrückt... Ich hatte gestern erst ein persönliches Thema schriftlich reflektiert und finde hier nun Fragen und Antworten (durch C. G. Jung), die mir noch mehr Klarheit bringen in meine gestrige Reflektion. Magisch ✨✨✨ Danke 🙏❤️
Liebe Lilly, die Fragen sind sehr gut gewählt und schaffen den Rapport zu den Bewußtseinsprozessen, die du uns dieser Tage beanspruchen, bzw. ihre Angebote der Heilung bereitstellen.
Ich habe mich in den letzten Jahren immer wieder, im Sinne Adornos, gefragt, ob es das Richtige im Falschen geben kann?
Mit Jung beantwortete es sich also so, dass in der sich immer stärker manifestierenden Neurose unserer Zeit, die in mindestens gleichem Maße an Macht und Manifestation zunehmenden Heilungskräfte wirksam werden.
Ist die Natur des Menschenwesens nicht einem Pendel gleich, dass den gesamten Kreis an Ferne und Nähe zur Mitte, aber eben nur diesen Kreis ( das Gesetz, die göttlich Ordnung für diese Matrix), abzuschwingen eingeladen ist? Und damit ein Wechsel der Dynamik, Richtung und Intensität der Bewegung geradezu notwendig für den Erhalt der Bewegung selbst ist?
Vielen Dank für den klugen Beitrag, der mich inspiriert und in Bewegung gebracht hat. 🙏