«Bei vielen Menschen ist es bereits eine Unverschämtheit, wenn sie Ich sagen.»
— Theodor W. Adorno, Minima Moralia
Kein Mensch ist jemals «fertig». Weder mit der Welt, noch mit sich. Und dennoch überwiegt der Anteil derer, die meinen, es zu sein, gegenüber jenen, die sich Zeit ihres Lebens seiner Annäherung bemühen. Es ist jene, auf der falschen Annahme von Vollkommenheit basierende, Hybris, die den Menschen, anstatt ihn seiner näherzubringen, von sich und der Welt entfremdet. In der fehlenden Betrachtung seiner geistigen und emotionalen Entwicklung als grundsätzlich nicht nur unabgeschlossen, sondern als prinzipiell unabschließbar, bleibt der Mensch auf ewig unerfüllt – ein Getriebener ohne Antrieb, ein Suchender ohne Suche.
In dieser «Unfertigkeit» seiner Individualität wie auch spirituellen Anbindung, also seiner geistigen und emotionalen Entwicklung, seiner Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit und Gegenwärtigkeit, seiner Position in Gesellschaft, Welt und Kosmos ist der Mensch zeitweise so weit davon entfernt, eine Antwort auf die Frage nach seinem Wesen zu finden, dass «sich ihm nicht selten das Gefühl einer grundsätzlichen Gebrochenheit und Heimatlosigkeit zuspielt»1. Und weil der Mensch bis heute keinen Weg gefunden hat, mit sich und seiner Unfertigkeit in Frieden leben zu können, entarten auch die Institutionen, Angewiesenheiten und Abhängigkeiten – all die verlängerten Arme gesellschaftlicher Entlastungen – ins Unendliche. Ein «fertig» oder «genug» wird es schließlich nie geben.
Die menschlichen Unfertigkeiten
Nachdem ich vergangene Woche die, der Manipulation zugrunde liegende, Umpolung von Fremdgedanken hin zum «Eigenwillen» erläutertm habe, möchte ich in diesem Text näher darauf eingehen, welche persönlichen Prädispositionen oder «Defizite» eines Menschen überhaupt erst dazu führen, dass er sich manipulieren lässt. Ehe wir jedoch auf die für Manipulation anfälligen Charaktertypen (die desorientierte, nicht-zentrierte und nicht-integrierte Persönlichkeit) zu sprechen kommen, seien zuerst die sieben – ebenfalls von Rupert Lay in seinem 1977 erschienenen Buch «Manipulation durch die Sprache» thematisierten und von ihm als Weg der Verheißung angesehenen – menschlichen Mängel anzuführen2:
Die Unfertigkeit bei der Antwort nach seinem Wesen
Die Frage nach dem Was ist ein Weg in die Irre. Insofern sie zu nichts als wissenschaftlichen Teileinsichten führt, degradiert auch der Mensch an ihr vom Wer zum Was, vom Organismus zur Sache, vom Subjekt zum Objekt.
Die Unfertigkeit in seiner geistigen und emotionalen Entwicklung
Die Entwicklung des Menschen galt für Lay als konstitutiv unvollendbar. Also folgerte er aus der Annahme, dass jeder psychisch gesunde Mensch wisse, dass er weder alles wisse, noch alles wissen könne, geschweige denn jemals mit seinem Lieben, Hoffen, Sorgen und Ängstigen an ein Ende kommen könne, solange er immer mehr Liebe schenken (und auch empfangen) wolle, als es ihm die gegenwärtige Situation erlaube, eine Art «Trauma der Unvollständigkeit und Unvollkommenheit», das den meisten Menschen so sehr bewusst sei, dass sie an diesem zugrunde gingen.
Die Unfertigkeit des Menschen mit der Bewältigung seiner Gründe
Die menschlichen Beweggründe seien in erster Linie Individualität, Sozialität, Weltlichkeit, Geschichtlichkeit und Religiosität, wobei ihm gerade die Balance zwischen Individualität und Sozialität in ganz besonderer Weise misslinge. Seine «Gleichursprünglichkeit», sowohl Individuum als auch gesellschaftliches Wesen zu sein, erlaube es ihm nicht, sich bloß als Individuum zu verstehen. Dieses Legieren seiner Gründe treibe den Menschen in eine Wurzellosigkeit, die ihn daran hindere, seine humanisierenden Kraft zu entfalten, als auch dazu verleite, «sich von ‹falschen› Bedürfnissen treiben, ziehen oder jagen zu lassen.»
«Die Unfertigkeit im Umgang mit der Freiheit
Die vergangenen drei Jahre haben es abermals zu Genüge gezeigt: Die meisten Menschen können nicht einmal sagen, was sie meinen, wenn sie von Freiheit sprechen. «Freiheit» ist für sie ein leerer Begriff, der sich mit allem bespielen lässt, das sich in dem jeweiligen Moment als deckungsgleich mit der eigenen Komfortzone erweist. Für sie bedeutet «Freiheit» nicht, sich von inneren und äußeren Zwängen zu entledigen, sondern diese stattdessen unter dem Aspekt der Freiwilligkeit zu verbuchen, nur um sich nicht mit ihren Ursprüngen und Auswirkungen auseinandersetzen zu müssen. Freiheit ist für sie kein Lebensgefühl, sondern stets nur mit der anschließenden Klammer «von Verantwortung» zu verstehen.
Die Unfertigkeit mit der Bewältigung von Schuld
Die einfachste Form, mit Manipulation unbeschadet davonzukommen, ist, dem Gegenüber das Gefühl zu geben, er sei sowohl an der Situation, wie auch an beider Gefühlen selbst schuld. Auch bekannt als «Gaslighting», ist diese Art der Schuldumkehr meist dort besonders effektiv, wo sich der Beschuldigte bereits als Kind verantwortlich gefühlt hat für die Gefühle seiner Eltern und Mitmenschen. Dabei lassen sich Schuldgefühle nicht verdrängen. Schuld bewältigt man durch Anerkennung. Wer nicht dazu bereit ist, auch seinen inneren Schatten (Jung) als Teil seines Charakters zu akzeptieren, wird, – insofern Manipulation über das «Ichideal» immer dort am erfolgreichsten ist, wo auch die Differenz zwischen Ideal und Identität am erheblichsten ist, – «stets ein willfähriges Opfer aller derer sein, die ihm Selbstverwirklichung mit den eigentümlichsten Methoden und durch die merkwürdigsten Strategien versprechen.» Ein Mensch, «der sein Ichideal nicht weitgehend auf seine Ichwirklichkeit zurückgenommen hat, der also nicht einmal in den Anfängen zur Selbsterkenntnis gelangt ist, wird sich niemals selbst verwirklichen können, sondern allenfalls ein Phantom seiner selbst, an dem zudem auch noch so mancherlei gesellschaftliche und individuelle Kräfte, bewusst oder nicht, mit herumgebastelt haben.»
Die Unfertigkeit der Integrationsbemühen
Menschen mit fehlender Integrität scheinen nicht mit sich selbst identisch. Sie scheinen – und sind es meist auch – sich selbst fremd, sind mitunter nicht «bei sich», sondern anderswer und anderswo. Diese «Nichtidentität» mit der eigenen Persönlichkeit bedingt meist die Übernahme von Funktionen, die nicht nur nicht mit dem eigenen Ich vereinbar sind, sondern es obendrein auch immer schwieriger werden lassen, herauszufinden, wer man denn eigentlich sei. Es entsteht eine innere Uneinigkeit mit sich selbst, deren fehlendes Integritätsbemühen und Mangel an Charakter oft auch einhergehen mit der Unfähigkeit, Nein zu sagen und für sich und sein fehlendes Selbst einzustehen. Das schmälert langfristig gesehen nicht nur den eigenen Selbstwert, es verstärkt gleichzeitig die Angriffsfläche für jegliche Form der Manipulation.
Die Unfertigkeit der Berherrschung partieller Sinnhaftigkeiten
Einem solchen Menschen fehlt der grundsätzliche Referenzrahmen, um darauf vertrauen zu können, dass sein Bauchgefühl und seine Wahrnehmung ihn nicht zu täuschen vermögen. Folglich bleibt er angewiesen auf Fremdeinschätzungen und fällt auf jeden ihm vorgegaukelten Referenzrahmen herein.
Persönlichkeitsstrukturen der Manipulierbarkeit
Galten diese menschlichen Unfertigkeiten für Lay als in jedem Menschen zeit seines Lebens vorhandene Strukturelemente, die in ihm sowohl als Antrieb wie auch als Last und Bremse wirken können, legte er ihren Hauptvertretern drei Charaktertypen zugrunde: die desorientierte Persönlichkeit, die nicht-zentrierte Persönlichkeit und die nicht-integrierte Persönlichkeit. Es sei ihr Übermaß an Unfertigkeit, das sie nicht nur anfällig macht für Manipulation, sondern zugleich auch erstarren lässt in einer fortwährenden Angewiesenheit bezüglich Antworten und Gründen für Sinnfragen oder Freiheitsdefinitionen als auch Ansätzen hinsichtlich der eigenen geistigen wie emotionalen Entwicklung oder der Bewältigung von Schuld und Integration.
Oder, um es mit Arnold Gehlen etwas anthropologischer auszudrücken: Der Mensch ist von Natur aus ein Mängelwesen. Im Vergleich zum Tier ist in ihm nicht nur das Bedürfnis nach Sinn und Sicherheit angelegt; seine «organic primitiveness» und sein «lack of natural means», also sein Mangel an organischer Spezialisierung als angeborene Anpassung an seine Umwelt, hindert ihn daran, diese Sicherheit in sich selbst zu finden. Wohlwissend, sich folglich nicht auf sein eigenes Gefühl, geschweige denn seine «Instinkte» verlassen zu können, wird der Mensch von dem Gefühl getrieben, in dieser Welt per se allein nicht überleben zu können. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als sein «defizitäres Dasein» dadurch zu kompensieren, Institutionen zu konstituieren, die ihm den Anschein vermitteln, ihm in ihrer Verflochtenheit eine verlässliche Existenzabsicherung zu gewähren.3 Und wohlbemerkt: Wer sitzt in solchen Institutionen, wer hält (sich) an ihnen fest und würde am liebsten jeden Bereich seines Lebens zuerst anhand eines Antrages absichern lassen? Hier wären wir wieder bei Rupert Lay und seinen drei, vom Mangel geprägten, Persönlichkeitstypen:
Die desorientierte (ichschwache) Persönlichkeit4
Im Menschen sind für gewöhnlich «Ich», «Es» und «Über-Ich» angelegt. Während sich unser «Über-Ich» als anonymer Befehlsgeber mit sogenannten «Man-Imperativen» («das macht man so und so» oder «das tut man nicht») bemerkbar macht, ist es unser «Es», das uns als Triebstruktur wie innere «Dressurinstanz» eben jene Über-Ich Handlungen als auch Vorstellungen, Sehnsüchte, Lüste und Aufforderungen entweder ver- oder gebietet. Bei einer «ich-schwachen» Persönlichkeit liegen diese beiden Instanzen, Es und Überich, im permanenten potenziellen Konflikt: Das Überich verbietet, was das Es erstrebt und es entwickeln sich destruktive Energien (Destrudo), die – einmal freigesetzt – zu vermehrter Aggressivität im Innen oder Außen führen. Das, was hier unter einer «Ich-Schwäche» zu verstehen ist, ist somit «die strukturierte Menge der tatsächlich handlungsleitenden Wertorientierungen einer Person, die es ihr erlauben, die Handlungsanforderungen, die aus dem eigen-psychischen und sozialen Bereich kommen, zu prüfen, zu koordinieren und zu harmonisieren, so dass es nicht zu erheblichen destruktiven Individual- oder Sozialkonflikten kommt.»
Folglich verhindert das Fehlen von «Ich-Stärke» eine sich selbst gerechtwerdende Kommunikation zwischen Es und Überich. Und «[v]erbieten die soziale Mitwelt oder das Überich oder das (schwache) Ich nicht die Abfuhr des aggressiven Potentials nach außen (in Aggressionshandlungen), mag vorübergehend der innerpsychische Haushalt in Ordnung bleiben, die sozialen Beziehungen werden jedoch meist dauerhaft gestört – im Grenzfall gar zerstört.» Der Mangel an Sozialkompetenz wie Realitätsabgleich führt damit früher oder später auch zu einer Störung des innerpsychischen Haushalts, welche noch viel früher einsetzen kann, sollte die innere oder äußere Dressurinstanz den Abfluss aggressiver Energien ins soziale Außen verhindern. In diesem Fall wird sich «die Destrudo-Aggressivität gegen das Individuum selbst richten und zu destruktiven Individualkonflikten führen.» Das Ich zerfällt, anstatt zu leiden.
Die Ursachen von Ichschwäche
Zu einer Desorientierung unseres Ichs als Struktur unserer handlungsleitenden Wertordnung könne es auf vielerlei Weise kommen. Hierzu gehören etwa:
Die Überich-Inhalte wurden so internalisiert, dass sie als Teil des eigenen Ichs angesehen werden und folglich nicht mehr dazu in der Lage sind, auf dieses Acht zu geben, indem sie konkretes Sozialverhalten steuern.
Die eigene Ich-Findung oder Ich-Entwicklung verlief nicht zugunsten seiner selbst. Stattdessen haben die Ansprüche der konkreten individuellen Es- und Überich Inhalte sowie die der individuellen, sozialen Mitwelt zwecks ihrer Kontrolle verzerrt.
Die Ich-Bildung war zu starr, um sich den wechselnden sozialen und intrapsychischen Situationen anpassen.
Und ja: Es gab eine Zeit, in der das Herausbilden solcher überangepassten Menschen, die möglichst konfliktfrei leben können, das Ziel der Psychoanalyse war. Sei die Tragik dieser an ihren eigenen Idealen gescheiterten Persönlichkeiten hier nicht weiter auszuführen, bleibt dennoch festzustellen, «dass solche Menschen ebenfalls außerordentlich leicht zu manipulieren sind, vorausgesetzt, ihr Realitätsbezug ist noch nicht grundsätzlich gestört.» Es reicht, ihre Ideale anzusprechen (mehr zu Manipulation durch Idealisierung im ersten Teil dieses Zweiteilers) «und deren Verwirklichung verheißen, und schon sind sie zu den größten Opfern bereit.»
Die nicht-zentrierte Persönlichkeit5
Als «nicht-zentriert» galt für Rupert Lay eine Persönlichkeit, der es nicht gelang, Bewusstes und Unbewusstes zu harmonisieren. Eine solch fehlende Harmonisierung berge die Möglichkeit eines Konflikts zwischen beiden, und das ohne, dass der betroffenen Persönlichkeit zureichende Strategien zur Verfügung ständen, diesen zu beheben. Das Fehlen einer «Mitte» führe abermals zu einem fehlenden Eins-Sein mit sich selbst und folglich zu einer Reihe von psychisch nicht gänzlich abgedeckten Verhaltensweisen. «Der sinnvolle Bezug zum Unbewussten» ist abgerissen oder unbedeutend geworden, also werden, – durch die gleichzeitig abhanden gekommene Orientierung, – Problemlösungen nicht mehr «aus der Mitte» heraus getroffen, sondern anhand der Peripherie (im Raum des Bewussten und sinnlich Erfahrbaren).
Dabei handeln nicht-zentrierte Menschen oftmals ausschließlich rational. Ihr «gebrochenes oder verwundetes Verhältnis zur eigenen Emotionalität» lässt sie meist nicht nur den Kern des Problems verkennen, – ihre fehlende Reaktivität auf die Ansprüche ihrer eigenen innerpsychischen Strukturelemente sowie die allgemeine Passivität ihres Handelns disponieren sie in ihrer Motivation für jede Form der Außensteuerung. Dementsprechend wird der nicht-zentrierte Mensch, eben weil er nie seine Mitte fand, «oder sie unter dem Anspruch der Mitwelt wieder verlor», in wesentlichen Anteilen von eben dieser beherrscht. Er erscheint «unbeständig, nur beschränkt berechenbar, zerfahren, ja unsicher.» Der nicht-zentrierte Mensch hat sich nicht selbst, er wird gehabt. Er lebt nach Außen, weil es in seinem Inneren nichts zu geben scheint, auf das er hinleben könnte.
Sein einziger Ausweg, um mit dieser inneren Leere leben zu können? Den sucht er in der Ideologie des Pragmatismus. Der Pragmatiker meint, er «könne eine menschlichere Welt schaffen, ohne davor zu wissen, was denn überhaupt ‹menschlich› bedeutet». Er schreitet voran ohne bestimmtes Ziel, es sei denn, in den Abgrund. Fest davon überzeugt, nur er wisse, wie eine für den Menschen lebenswerte Zukunft zu gestalten sei, denunziert er «alle anderen als weltfremde Idealisten, als abstrakte Utopiker, als passive Tagträumer, als asoziale Weltverbesserer, als intolerante Ideologen». Dieser «Verlust der Mitte» oder die «Verleugnung des Unbewussten» macht sich mitunter anhand folgender, die Manipulierbarkeit erheblich steigernder, Symptome deutlich:
Aktion als Flucht oder Kompensation
Diese Menschen können mit sich selbst nicht alleine sein. Wenn sie alleine sind, fühlen sie sich einsam. Weil sie um ihre eigene Hohlheit wissen, fliehen sie vor sich selbst, fliehen sie vor ihrem eigenen Nicht-Sein in die Aktion, wobei sie alle Orientierung und Beschäftigungsanregungen im Außen suchen – eben weil ihre Mitte leer ist. Allein um ihre innere Leere nicht spüren zu müssen; «nicht zugeben zu müssen, dass sie eigentlich nichts sind», sind sie bereit, sich für jedes Versprechen von Zuwendung, Anerkennung oder Liebe selbst zu opfern.
Verwundbarkeit
Jeder Mensch ist verwundbar. Während die einen es jedoch sind, weil sie empfindsam sind, sind es die anderen, weil sie empfindlich sind. Empfindlich gegenüber Kritik oder Misserfolg, die oder der als ungerecht oder unangemessen empfunden wird. Der Grund dafür ist meist ein von der Realität stark abweichendes Idealbild seiner selbst. Dabei sind Menschen, die mit sich selbst nicht identisch sind, nicht nur leicht zu manipulieren; «da sie sich selbst nicht akzeptiert haben, benötigen sie Feindbilder, um im Gegensatz zu ihnen so etwas wie eine Pseudoidentität zu finden.» Indem ihre fehlende Selbsterkenntnis jede Form von Selbstannahme verhindert, werden verwundbare Menschen nicht nur blind gegenüber ihren eigenen Fehlern und Schwächen, sie werden gleichzeitig auch intolerant gegenüber anderen. Intolerante jedoch sind leicht zu verführen: Da ihnen «die rationale Kontrolle als Folge einer trainierten Kritikfähigkeit fehlt», sind sie nicht dazu in der Lage, ihrem Überhang an falschen Vorurteilen (die sich diese Menschen zulegen, um weiterhin unbeschadet in ihrem Idealbild leben zu können) etwas entgegenzusetzen.
Emotionale Ausdrucksschwäche (Alexithymie)
Diese Menschen wirken emotional gebremst oder gehemmt. Ihre Emotionalität ist weitgehend reaktiv, was sie zu einem leichten Opfer manipulatorischer Techniken macht: Indem sie selbst kaum eigene Emotionen produzieren können, werden sie von den Gefühlen anderer gehabt, anstatt eigene zu haben.
Resignation
«Resignierende Menschen leugnen zumeist nicht einen Lebenssinn, sondern halten die Frage nach dem Sinn für sinnlos. Ihr Leben ist bedroht von der Absurdität des Lebens eines Sisyphos. Ein glücklicher Mensch? Nein. Aber auch kein unglücklicher. Denn Glück und Unglück sind keine Kategorien mehr, die ihm etwas bedeuten.»
Gehabtwerden
Ähnlich wie bei der emotionalen Ausdrucksschwäche geht es auch bei diesem Symptom ums Besessensein – um das Gehabtwerden von materiellem oder geistigem Besitz (von Vorurteilen, Überzeugungen, Meinungen), von Gefühlen (Freiheit, Hoffnung, Furcht, Angst, Neid, Hass, Trauer, Ärger…) oder von Strebungen (Ehrgeiz, Leistungswille…). Denn mögen all diese «Dinge» an sich zwar wertvoll sein, verkehren sie ihre Werthaftigkeit ins bare Gegenteil, sobald nicht der Mensch sie besitzt, sondern sie ihn.
Bindungs- und Trennungsängste
Trennungsängste führen zu den eigentümlichsten Reaktionen:
a. «Flucht in die finanzielle Sicherheit als Kompensation für die somatische Gefährdetheit
b. Flucht in die Aktion, um sich ständig selbst die Entfernung vom eigenen Sterben zu beweisen
c. Flucht in die Masse, da sie niemals sterben wird
d. Flucht in den Kult der Jugend, da ihr Sterben noch nicht sichtbar ist
e. Flucht in den Besitz, da er unvergänglich zu sein scheint und uns von seiner Unvergänglichkeit etwas abtreten könnte
f. Flucht in alle möglichen materiellen oder ideellen Versicherungen, als wenn sie Schutz böten vor Sterben»
Gewissensangst
Ein von seinem Gewissen geplagter Mensch versucht nicht selten aus stereotypen, bald zwanghaften Verhaltensmustern eine Art Sicherheit zu beziehen, die den Leidensdruck der Angst verringert. Diese Zwanghaftigkeit vermindert den Bereich der Verantwortlichkeit und damit die Möglichkeit des Versagens gegenüber dem Überich-Anspruch. Dabei sind viele angstgetriebenen Externalisierungen kein wahrer Halt, sondern nur ihre Illusion, wodurch das Bedürfnis, das eigene Gewissen reinzuwaschen, zur regelrechten Sucht werden kann – eben weil der Betroffene seine angebliche Schuld nie loszuwerden vermag. Ein Beispiel hierfür ist mitunter die religiöse Manipulierbarkeit eines unter Gewissensängsten Leidenden gegenüber manch einem «Seelsorger».
Bindungsangst
.. ist der beste Nährboden für Manipulation. Die durch Bindungsängste ausgelöste Desorientierung (siehe Punkt 2) vermindert nicht nur die eigene Kritikfähigkeit, sie auch zu vermehrt irrationalen Handlungen: Weil die Betroffenen in dem Glauben leben, jede Bindung bedeute direkt eine Einschränkung in ihrer persönlichen Entfaltung, kompensieren sie diese Angst oftmals durch einen übersteigerten Konsum, in dem sie sich die Freiheit zu finden erhoffen, den der menschliche Habitus für sie nicht bereit hält.
Die Soziale Angst
… beinhaltet die Angst vor dem Alleinsein, vor der sozialen Isolierung, der Selbstpreisgabe, der Überlegenheit anderer oder der Angst vor einem Informations- oder Kommunikationsdefizit. Sich sozial Ängstigende sind meist nicht schwer zu manipulieren: Sobald eine bestimmte Verhaltensweise an die Aufhebung ihrer Angst gebunden wird, ist die Verheißung größer als jedes Rückgrat. Am weitverbreitetsten ist somit, neben der Manipulation über den Ersatz einer individuellen Mitte, die Manipulation über die Angst vor oder mit der Einsamkeit: Seine, wie in meinem letzten Artikel bereits erklärte, «Gleichursprünglichkeit» macht den Menschen anfällig für das Versprechen einer möglichen Realisation seiner sozialen Valenzen.
Tragen von Masken
Ein Mensch, der sich selbst als auch der Öffentlichkeit stets nur eine Maske, also seine «Persona» (Jung) zeigt, ist hindurch unbewusste Schichten von sich selbst und seiner psychisch-sozialen Wirklichkeit entfremdet. Er ist ein verunsicherter Mensch, der alle Situationen meiden wird, die ihn nötigen könnten, seine Maske abzulegen. Gleichzeitig wird er genau solche Situationen suchen, in denen er für seine «Maske» anerkannt und geschätzt wird. Das macht manipulierbar.
Die nicht-integrierte Persönlichkeit6
Mit «desintegriert» ist eine Persönlichkeit gemeint, «die wichtige und wesentliche Anteile der Persönlichkeitsstruktur gleichsam verselbständigt oder abgespalten hat, so dass sie nicht mehr mit entsprechenden bleibenden Strukturanteilen harmonieren und korrespondieren». Ein solcher Mensch hat in und um sich eine fremde, in sich vielleicht stimmige, aber mit dem Weltganzen nicht mehr im Einklang stehende Realität aufgebaut. Während eine solche «Desintegration» von Selbst und Wirklichkeit in der Adoleszenz als «normal» gelten mag, lässt sie, sollte sie im Laufe dieser nicht überwunden werden, auf eine «Fehlentwicklung» innerhalb der eigenen psychischen Integrität schließen. Zu den häufig nicht integrierten, oder nicht integrierbaren, und damit als «abgespalten» zu betrachtenden Persönlichkeitsmerkmalen gelten mitunter:
Emotionalität
Die Nützlichkeit oder Verwertbarkeit des Menschen sieht weitestgehend von seinen Emotionen ab. Vielmehr selektiert das bestehende System die Menschen danach, ob sie es gelernt haben
keine Emotionen zu haben oder zu zeigen
ihre Emotionalität in den Dienst der geforderten Sache zu stellen
Triebstruktur
Sozialität (oder seltener: Individualität)
Arbeitswirklichkeit oder Privatwirklickeit
Die eigene Realität wird als uneigentlich empfunden
Religiosität
«Manche ersetzen die religiöse Gläubigkeit etwa durch Wissenschaftsgläubigkeit und akzeptieren so ziemlich alles, was ihnen unter der Verpackung Wissenschaft angeboten wird».
Zwischen Gefühl und Wirklichkeit
Für Rupert Lay ist «gesellschaftliche Zentrierung» die «Voraussetzung für Intoleranz und Barbarei. Sie kann dem Menschen ‹ein neues Herz› geben – ihres. Es ist aber nicht seines. Zwar können alle Handlungen, Entscheidungen, Problemlösungen eines solchen Menschen mit einer von einer zentrierten Gesellschaft delegierten Mitte durchaus orientiert wirken. Sie sind es aber nicht, denn dieser Mensch lebt an der gesellschaftlichen Peripherie seines Selbst, hat seine Individualität in einem ihrer wichtigsten Ansprüche an die Sozialität verloren.»7
Es ist das gleiche Phänomen wie die Unfertigkeit des Menschen im Umgang mit seiner Freiheit: Viele Menschen wissen nicht einmal, was Freiheit ist und was sie (für sie) bedeutet. Ja, sie wüssten selbst dann nichts mit ihr anzufangen, würde man sie ihnen gewähren. Die meisten von ihnen haben sich so sehr an ihre Fesseln gewöhnt, dass sie sie als «unangenehme Notwendigkeit einer bestimmten orientierungslosen Existenzphase» betrachten. Freiheit ist für sie damit weniger eine sinnbeladene Definition, sondern mehr ein Gefühl: «Wer es ihnen vermittelt, gilt als Befreier, wird leicht und sicher als Führer anerkannt.» Dementsprechend ist die Manipulation des Gefühls von Freiheit als solche primär nicht zu verurteilen. Auch sie erfüllt nur ein Bedürfnis: das menschliche Bedürfnis nach Sicherheit und Geborgenheit. Oder in diesem Fall das derjenigen, die Freiheit fühlen wollen, nicht haben.8
Wir haben es also mit der Frage zu tun, wie eine Gemeinschaft, geschweige denn «die Gesellschaft», (zurück) in ihre Mitte finden soll, scheitert bereits der Einzelne daran, in seiner anzukommen? Was entfernt uns von unseren Mitmenschen und lässt uns von uns selbst entrücken? Ist es unsere Veranlagung zum Mangel oder doch unser «Miteinander» als solches, das ein «Erfülltsein» unsererseits wiederum gemäß seines Wesens nicht zu ermöglichen vermag? Ist «Unfertigkeit» eine Bedingung von Individualität und Sozialität? Folgt man Rupert Lay, so setzt eine Gesellschaft freier (und sich nicht nur frei fühlender) Menschen «den Abschluss eines gewaltigen Emanzipationsprozesses voraus», für dessen Beginn es nirgendwo in der Welt auch nur erst ernstliche Anzeichen gäbe. Der Mensch müsse sich darüber gewahr werden, dass der Weg in die Selbstverwirklichung und Freiheit, nicht ohne Scheitern auskäme. Wer jedoch Angst davor habe, bei sich selbst anzufangen, werde immer scheitern.
Lay, Rupert (1990): Manipulation durch die Sprache. Rhetorik, Dialektik und Forensik in Industrie, Politik und Verwaltung. Frankfurt am Main, Berlin (Ullstein), Seite. 52.
Ebenda, Seite 52 bis 59.
Gehlen, Arnold (1988): Man, his nature and place in the world. New York, Seite 29.
Lay, Rupert (1990), Seite 67 bis 83.
Ebenda, Seite 83 bis 116.
Ebenda, Seite 116 bis 144.
Ebenda Seite 85.
Ebenda Seite 102f.
Sorry, aber ich frage mich nach mehrmaligem Durchlesen, wo du mit diesem Text überhaupt hin möchtest?