Der neue Mensch und sein Meister
Die einzige Schule, die wir zu durchlaufen haben, nennt sich Leben. Im Gespräch mit Roland Ropers.
Gleich sie die «re-ligio», die Rückbindung, von ihrer Wortbedeutung her bereits in sich tragen... Was die großen Religionen eigentlich hätten leisten sollen, liegt noch immer offen: des Menschen Erkenntnis seiner Selbst. Für den Philosophen Roland Ropers ist es an der Zeit, das Übel an seiner Wurzel zu packen und den Menschen zu seiner eigensten inneren Meisterschaft zu erheben.
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Lieber Roland, mit knapp 80 Jahren: Empfindest du dich mehr als Meister, oder noch immer als Schüler?
Roland Ropers: Ich würde sagen, dass beide Begriffe nicht auf mich zu treffen. Ich empfinde mich als spiritueller Wegbegleiter auf Augenhöhe. Ich bin zwar durch eine große spirituelle Meisterschule gegangen und kenne mich auch darin aus, würde mich selbst jedoch nicht als Meister bezeichnen wollen. Menschen, die ich auf dem Weg begleite, bringe ich nicht in eine Abhängigkeit, wo sie zu mir auf gucken müssen und ich verkünde den Leuten auch keine Hierarchie oder Stufenleiter der Erleuchtung.
Ich weiß, dass jemand, der zu mir kommt, möglicherweise die Erfahrung nicht hat, die ich seit Jahrzehnten habe, aber ich stülpe ihm nicht meine Erfahrung über als Überlegenheit. Deswegen ist für mich auf diesem spirituellen Weg das Meister-Schüler-Modell heute nicht mehr adäquat. Man geht zwar zu einem erfahrenen Meister, das gilt für alle Dinge, bleibt aber sowieso lebenslang Schüler des Lebens.
Deswegen finde ich das auch so spannend, dass man, je älter man wird und je weiter man zurückblickt, erkennt, welche Wegstrecken man möglicherweise bewältigt hat und womit man anderen Menschen helfen kann, die vielen, vielen Hürden, die man selbst überwunden hat, nicht unbedingt auch noch meistern zu müssen.
«Weisheit ist nicht mitteilbar. Weisheit, welche ein Weiser mitzuteilen versucht, klingt immer wie Narrheit. (…) Wissen kann man mitteilen, Weisheit aber nicht. Man kann sie finden, man kann sie leben, man kann von ihr getragen werden, man kann mit ihr Wunder tun, aber sagen und lehren kann man sie nicht.» — Hermann Hesse, Siddhartha
In welchen Lebensbereichen, würdest Du denn sagen, braucht der Mensch eine Form von Lehrmeister? Was kann der Meister den Schüler lehren, was der Schüler sich nicht selbst beibringen kann?
RR: Ich glaube, das fängt im Kindesalter an. Egal, was du mit einem hochbegabten Kind machst, ob du das zur Musik bringst, zum Sprechen oder zum Malen, zum Zeichnen, zum Schreiben – da sind die Eltern und die Umgebung die Meister für das Kind, die das Potenzial eines Geschöpfes ans Licht bringen. Nicht hinein-, sondern herausholen. Ich glaube, darin liegt heute überhaupt das wichtigste Kriterium in der neuen Menschheit: dass wir in jedem Menschen die Möglichkeit zu einer großen individuellen Entfaltung erkennen. Das bedeutet, ich muss etwas heraus ans Licht holen, was in dem Menschen drin ist.
Und das ist meine Erfahrung und meine Kenntnis, dass ich sage, dieses Kind oder dieser Mensch hat die Anlagen, aber ich tue nichts hinein, sondern ich hole nur etwas heraus. In diesem Zusammenhang benutze ich gerne das Bild des Steinmetzes: Der hat einen Block vor sich, einen Steinblock. Und durch das immer mehr Weg-nehmen geht das Wesentliche hervor. Also keine Addition, sondern Reduktion.
Besteht darin schlussendlich auch der Unterschied zwischen einem Meister und einem «Guru»? Ist der Guru eher darin bestrebt, seine eigenen Glaubenssätze an seinen Schüler weiterzugeben und dadurch besagte Abhängigkeiten zu schaffen, während der Meister seinen Schüler mehr als Gegenüber betrachtet, dessen individuelles Wachstum und freie Bewusstseinserweiterung er fördern möchte?
RR: Das Wort Guru wird hierzulande ja völlig falsch verstanden. Dieses kommt ja ursprünglich aus dem Sanskrit und heißt nichts anderes als «die Dunkelheit vertreiben». Das Wort macht Sinn, nur: keiner weiß, was es ist. Der wirklich erfahrene spirituelle Meister bedankt sich beim Schüler, wenn der Schüler zur Erleuchtung, zum Erwachen gekommen ist, nicht umgekehrt. Der schafft sich keine Abhängigkeiten.
Wenn du aber merkst, dass ein vermeintlicher, schön verkleideter Meister dich in die Abhängigkeit führt, kannst du sofort nach Hause fahren. Das ist ja oft immer noch das Problem, aber letztlich ist es wirklich so: Als Meister empfindest du in erster Linie Dankbarkeit. Das erlebe ich ja auch mit denen, die zu mir kommen. Wenn einer von ihnen die Wirklichkeit, das Schöpfungsprinzip oder den Rhythmus des Universums erkennt, dann freue ich mich mit ihm und bedanke mich bei ihm, dass er diesen Erkenntnisschritt gemacht hat. Ich fühle mich aber deswegen nicht überlegen und mache ihn niemals abhängig von meinem eigenen Erkenntnisweg.
Wie erklärst du dir aber das derzeitige Phänomen, dass immer mehr Menschen auf dieser Sinnsuche in Abhängigkeiten geraten und sich sogenannten «Coaches» anschließen?
RR: Das hängt damit zusammen, dass wir derart in einer äußerlichen Welt verstrickt sind. Die Sinneseindrücke haben überhandgenommen; wir leben in einer Bilderwelt, die wir nicht mehr bewältigen können. Dadurch ist der Zugang zu unserem Inneren versperrt. Jeder Mensch ist auf der Suche nach seinem inneren Eigenheim, aber er sucht immer andere Häuser auf; geht zu Seminaren und Workshops, bezahlt viel, anstatt endlich in sein inneres Eigenheim einzuziehen und das vernünftig zu möblieren. Aber dafür bekommt er keine Anleitung, sondern immer neue Seminarangebote, neue Versprechungen: «Erleuchtung in zwei Tagen» – und mit den billigen Zertifikaten kommst du nach Hause und eigentlich bist du völlig sinnleer, weil deine einzige Erkenntnis darin besteht, dass du keinen Schritt weiter gekommen bist. Die Verführung ist gewaltig und das Geschäft dieser Coaches ist wie Marketing und Supermarkt, es ist ein Geschäftsmodell, hat aber mit einem sinnhaften Unterrichtsprogramm überhaupt nichts zu tun.
Deine Freundschaft zu Bede Griffiths, dem Benediktinermönch und großem christlichen Mystiker, hielt bis zu seinem Tod. Du giltst als der einzige von ihm «offiziell autorisierte spirituelle Lehrer». Inwieweit hast Du in deinem Leben von dieser Auszeichnung Gebrauch gemacht?
RR: Überhaupt nicht. In gewissen Kreisen ist das bekannt. Aber ich mache damit keine Propaganda und setze es auch nicht auf meine Visitenkarte. Er hat sich das lange überlegt, weil er ja viele Menschen in seinem Umfeld hatte, die er auf dem Weg geführt hat. Auch die eigene Mönchsgemeinschaft. Er hat aber niemanden offiziell autorisiert, weil er genau wusste: Da gibt es irgendwo eine Grenze, wo du möglicherweise einen Schritt weiter gekommen bist als die meisten, die um ihn herum waren. Und das betrachte ich nicht als Prädikat. Aber ich war so eng mit ihm, dass er mir das einfach anvertraute. Er hat mir sein Innerstes auch anvertraut. Ich weiß genau, wie er gelacht hat, wie er gefühlt hat und wie er die Zukunft gesehen hat. Das kenne ich in- und auswendig und dadurch ist es irgendwie zustande gekommen. Aber ich bin insofern autorisiert als spiritueller Wegbegleiter, weil ich genau die Fallstricke des Weges kenne. Viele gehen ja den Weg gar nicht, sondern sie suchen den Weg. Sie kommen ja mit irgendwelchen Wegmarken nach Hause; mit Wegweisern, sammeln sich diese als Trophäe, – gehen selbst aber nie auf den Berg. Wenn du unten in Garmisch Partenkirchen ins Wirtshaus gehst und eine Postkarte von dem Wegweiser «Zugspitze – noch 1500 Meter zu bewältigen» nach Hause schickst, den Weg selber aber nie gegangen bist, betrügst du dich selbst, und andere auch.
«Viele kommen mit Wegweisern nach Hause, sind selber aber nie auf dem Weg gewesen».
Diese Erkenntnis arbeitete bereits Hermann Hesse in seinem «Siddhartha» aus. Während eine der zwei Hauptfiguren seiner zu Zeiten des jungen Buddha spielenden Erzählung, Govinda, sich diesem anschließt, versteht Siddhartha, dass das Bodhi, das Gotama (Buddha) erreicht hat, nur für Gotama selbst gültig ist. Zwar zweifelt er die Richtigkeit seiner Lehren nicht an; er hat jedoch erkannt, dass er deren Ziel der Erleuchtung nur durch eigene Erfahrungen erreichen können wird. Ist es schlussendlich nicht genau das? Die Erkenntnis, dass niemand unseren Weg gehen kann, außer wir selbst?
RR: Das Buch ist ja einer der größten deutschen Klassiker geworden. Obwohl Hermann Hesse, der arme Mensch, Indien physisch nie berührt hat. Sri Lanka hat er gerade noch geschafft, aber in Indien selbst ist er nie eingedrungen. Und er war ja auch psychisch etwas labil. Seine Eltern und Vorfahren waren ja in Indien Missionare, aber das nur am Rande.
Hesse hat in diesem Buch etwas Besonderes dargestellt, indem er dieses Schüler-Meister-Verhältnis auf eine Weise herausgearbeitet hat, nach dem er sich möglicherweise selbst gesehnt hat. Buddha hat keine Schüler von sich abhängig gemacht. Denn was auch hier immer falsch verstanden wird: Gautama Siddhartha, das ist eine Kategorie, das ist der Mensch, der Königssohn. Aus dem ist der Buddha, der Erwachte – nicht der Erleuchtete – geworden.
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Und heute wissen wir auch, wenn wir die Schriften genau studieren, das Buddha letztlich die Reinkarnation sogar abgelehnt hat. Er hat gesagt: «Wenn die Zeit zum Erwachen gekommen, dann brauche ich keine Reinkarnation mehr.» Und alle suchen immer die Reinkarnation, die Reinkarnation, die Reinkarnation, anstatt einfach mal hier zu bleiben. Und in dem Moment, wo du in deinem inneren zu Hause eingezogen bist, hören diese Gedanken und die Spekulationen nach diesen Dingen ziemlich schnell auf. Denn wir wissen ja gar nicht, was nach dem Tode passiert. Das Leben ist ein ständiger Prozess und der ist in dir. Der Prozess ist bestimmt von der Polarität Geburt und Tod – nicht Leben und Tod. Leben umfasst immer beides gleichzeitig: Geburt und Tod. Jeden Tag, wenn wir aufwachen, geschlafen haben, werden wir neu geboren und sterben wieder, wenn wir im Tiefschlaf sind.
«Wenn Sie versuchen, das gesamte Universum zu verstehen, werden Sie überhaupt nichts verstehen. Wenn Sie versuchen, sich selbst zu verstehen, werden Sie das gesamte Universum verstehen.» — Siddhartha Gautama
Und das Leben vollzieht sich trotzdem immer weiter – jenseits dieser Polarität. Das ist eigentlich das Faszinosum am Leben: Dass es ein ewiger Prozess ist. Bewege ich mich nicht auf den Tod zu, bewege mich aufs Leben zu. Und diese Richtung ist keine Glaubensrichtung, das ist eine Erfahrungsdimension. Und die brauchen wir heute in der Vermittlung für junge Menschen, egal in welcher Situation. Ob sie sich am Anfang ihres Studiums, am Anfang ihres Weges, in Verzweiflung oder in Krankheit befinden – dies immer wieder zu vermitteln, ist keine Glaubensgeschichte. Wir gehen immer einen Lebensweg und das Leben ist unendlich. Kann schön sein, kann auch leidvoll sein. Aber Buddha hat ja selbst gesagt: «Dukkha, das Leid, müssen wir zu Lebzeiten überwinden und nicht erst nach dem Tode.» Viele Christen wollen das zum Zeitpunkt nach dem Tode verlagern, aber das ist eine Illusion. Und dafür wird bezahlt: fürs Paradies – was wir ja hier bereits haben.
Schlussendlich ist alles Erfahrung. Auch das Leiden…
RR: Es gibt das schöne englische Wort experience. Dieses besitzt zwei Präfixe: ex und per. Das Wort selbst kommt ja von «gehen» – experire, ire heißt gehen. Ich trete also heraus – ex – und dann hindurch – per. Und dann komme ich in den Raum der Erfahrung. Und das ist ein Glücksgefühl. Im Sanskrit nennt man das Ananda. Glückseligkeit.
Dieser Text ist zuerst erschienen im Schweizer Magazin «DIE FREIEN».
Roland Ropers ist Religions- und Kulturphilosoph, der sich mit christlicher Spiritualität, fernöstlicher Weisheitslehren und vergleichender Religionsphilosophie beschäftigt.
Ein tolles Gespräch, liebe Lilly.
Ich habe vor ein paar Monaten ein Gespräch mit Ropers auf Manova gehört (auf YT schnell zu finden: Weltuntergang als Geschenk?) und war sehr beeindruckt, weil ich mit seinen Ausführungen sehr resoniere.
Zum Thema Guru: Menschen, die ihre Weisheit frei teilen und damit keine Abhängigkeiten schaffen, nenne ich Botschafter. Mir ist in den letzten Tagen besonders aufgefallen, dass ich selten mehr neue Informationen bekomme, sondern bei all den Menschen, deren Botschaft ich lese oder gerne auch höre, meist einfach eine Bestätigung meiner Erkenntnisse finde. Das finde ich nicht langweilig, sondern aufschlussreich, weil jeder Mensch seine Empfindungen auf seine Art zu beschreiben versucht. Worte können letztlich nie wirklich ausdrücken, was da im inneren Raum ist. Deshalb sind die unterschiedlichen Bilder wertvoll, hilfreich und oft empfinde ich dies wie eine Bekräftigung auf meinem eigenen Weg.
Das ist ein erhellendes und tröstliches Gespräch. Danke dafür!
Mir geht es (seit kurzer Zeit) so: ich fühle mich mit wenigen Menschen sehr intensiv und untergründig verbunden. Auch wenn wenig oder nichts verbal ausgetauscht wird. Das geht über Gedanken, Gebet, Gnade oder was weiss ich... es ist ein Geschehen auf einer anderen Ebene. Da kommen Botschaften an ohne jede email oder whatsapp. Mehr weiss ich nicht. Dafür bin ich sehr dankbar und unentwegt verwundert.
Etwas Ähnliches passiert, wenn ich Deinen Kanal besuche. Ich fühle mich erweitert, beschenkt.
Aber auch Auf-Gefordert,