Die Enzyklopädie der russischen Seele
Die Hoffnung stirbt in Russland zuerst. Vom Traum einer einenden Metaphysik für die gesamte Menschheit.
«Kollaps des Lebens in den ‹Kommunalki›, den Gemeinschaftswohnungen – der Russe ist nicht für das Zusammenleben gemacht. Der Kollaps des russischen Kommunismus – der Russe liebt die Menschen nicht. Er ist für die Gemeinschaft ungeeignet und im Grunde ungesellig. Der Russe ist nicht in der Welt verwurzelt wie der Deutsche. Er fliegt, er schwebt über der Welt. Der Russe hat die Welt nicht beherrscht, ist nicht mit ihr fertig geworden und hängt in der Luft. Daraus ist die russische Spiritualität entstanden. Die Erfahrung eines totalen Versagers ist von unschätzbarem Wert.» — Viktor Jerofejew1
Es ist sein skandalösestes Buch. Und doch war es seiner Ansicht nach nicht er, der die Skandale auslöste: Bevor Viktor Jerofejew mit dem Schreiben der «Enzyklopädie der russischen Seele» begann, glaubte er an «die Möglichkeit einer multikulturellen Zivilisation, einer universellen Idee der Menschlichkeit». Doch seine Geschichte vom Untergang des kommunistischen Totalitarismus, der den Menschen nicht von der Unvollkommenheit seiner Natur befreite, sondern stattdessen mit der Illusion unterging, alles sei seine Schuld und die Menschen seine Opfer, ließ ihn erkennen, dass – gleich wie bei Flauberts Madame Bovary oder Nabokovs Lolita – nicht die Autoren die Skandale auslösen, sondern eine Gesellschaft, die genauso wenig dazu bereit ist, ein Buch anzunehmen, wie die Erkenntnis, dass sie selbst diejenigen waren, die diesen Staat geschaffen hätten, und nun, da er zerfallen ist, selbst die Verantwortung für ihr Leben übernehmen müssten.
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Russe sein, russisch sein?
Drei oder vier Flaschen Vodka am Abend zeigen bei ihm keine besondere Wirkung. Er hat nie eine Träne verdrückt ob seiner Zugehörigkeit. Mit der eintretenden Abkühlung seiner Empfindungen wuchs seine Verachtung. Zu der Verachtung gehörte weniger Hochmut als vielmehr Hoffnungslosigkeit. In ihr befasste er sich mit russischer Philosophie, wurde russisch-orthodox, setzte sich ab und an in den Altai, wurde Eremit, tauchte ab in den Buddhismus, tauschte Buddhismus gegen Hinduismus, tanzte, entschwand in den Astralleib. Und als selbst der Tausch von Hinduismus gegen Judentum oder die seelenfernen Quälereien als Atheist ihn nicht zu sich selbst zu führen vermochten, wandte er sich dem einfachen Leben zu und wurde Vegetarier. Zerrissen zwischen Selbsterniedrigung und dem Willen zur Gewalt, wurde der Russe zum Opfer seiner eigenen Tugenden. Er galt als allein, fernab von Heim und Sein.
«Russland hat die Extreme der menschlichen Natur demonstriert
und die Vorstellung von einer goldenen Mitte zerstört.»
Wie geschaffen zum Leiden und ungeachtet ihrer Sorglosigkeit, steht den Russen das Leiden ins Gesicht geschrieben. Es ist ihre Art zu erkennen, wer zu ihnen gehört und wer nicht. Zu ihnen gehören die mit dem versteinerten Gesicht. Die Leidenden. Oder mehr noch: die mit der Bereitschaft zum Leiden. Die Widerstandslosen. Bestraften. Überzeugt davon, dass nur «wer das Leben kennt» ein Recht hat, mitzureden, nimmt der Russe alle anderen, so er sie nicht verachtet, nicht für voll. Das Leben nicht zu kennen, bedeutet für ihn; «du bist in spiritueller Hinsicht vom Weg abgekommen, du bist keine fertige Persönlichkeit und hast deine Zeit auf dieser Erde sinnlos vertrödelt.»
In Russland steht vieles auf dem Kopf: Gleich wie bei Dostojewski werden die Klügsten zu Verrückten erklärt und unter ihrer Herrschaft eine kulturelle Amnesie attestiert. Wissen wird nicht weiter akkumuliert; es wird verdrängt, ausgehöhlt und untergraben. Genauso wie die Russen nicht wissen, was Norm bedeutet, ist Russland introvertiert in seinen Möglichkeiten und extrovertiert in seiner Hilflosigkeit. Sie erlebt der Russe als Riss: Wo soll er hin? Wo kann er bleiben? Die Antwort ist kein Ort, sondern ein Zustand: Ein Leben ohne Leiden wäre für ihn kein Leben. Konvulsion ist sein Impuls. Ungerechtigkeit sein Antrieb. «Russe sein heißt Zielscheibe sein.»
Dabei hat die Opferbereitschaft der Opfer auch die Funktion, in einer Welt, in der wir von anderen Verpflichtungen befreit sind, andere Völker in ihrem schöpferischen Beginnen nachzuahmen. Gleichwohl ihr Streben jedes Mal kläglich endet: «Jeder Russe ist auf seine Art unbeholfen». Gleich der Kommunismus schädlich für das Leben und der Kapitalismus zerstörerisch für die Seele ist, ist das russische Leben «dazu angetan, die Menschen vom Leben abzulenken. Der Widerstand der erstarrten Mutter Russland unterstreicht nur ihre Bedeutung. Russland muss sein, wie es ist, ebenso wie der Ekklesiastes der Ekklesiastes ist, also eines der Bücher der Bibel.»
Der Russen Russland
«Es ist illusorisch, zu meinen, unser ‹wir› bestehe aus der Summe eigenständiger ‹ichs›. Das russische ‹ich› ist als einzelnes Element nicht lebensfähig und existiert ausschließlich in der Keimzelle Familie. Das heißt, nicht das ‹ich› prägt die Idee des ‹wir›, sondern das ‹wir› ist manifest und sprachbildend… Das russische Wort für ‹Volk› – ‹narod› – ist einer der präzisesten Begriffe der russischen Sprache. Er impliziert eine zweifache Übertragung der Verantwortung: vom ‹ich› auf das ‹wir› und vom ‹wir› auf (na) den Stamm, das Geschlecht (rod): ‹wir-sie›, Außen-Innen-Faktor, ewige Suche nicht nach Selbsterkenntnis, sondern nach Selbstrechtfertigung. Das Wort ‹narod› hat das russische Volk auf ewig zementiert.»
Nicht der Russe scheut die Lebendigkeit, aber «die Angst vor der Angst, die Furcht davor, mit Genuss tief in sie einzutauchen, ist der Mehrheit der russischen Intelligenzija eigen». Die ewige und hilflose Idee, Russland gegen seinen Willen am Schopf herauszuziehen, war einem in der Literatur bereits zu oft begegnet und allmählich lästig geworden. So trieb es in den Dreißigerjahren alle progressiven Intellektuellen, die sowjetische Gedankenspione geworden waren, auf die Seite Sowjietrusslands und Anfang der Vierzigerjahre in die ganze westliche Welt. Es hieß, die Intelligenzija wurde «von der Freiheit abgeschafft». Was blieb, war ein Russland, dass – anders als Griechenland – nicht durch religiösen Formalismus verbrannte, sondern durch formale Religiosität entflammte. Das Volk mochte gelegentlich noch Fragen stellen. Doch hören tat es nur noch das, was es auch hören wollte. Aus eigener Kraft konnte es nicht mehr überleben. Es brauchte einen Blindenführer.
Wo diesbezüglich Rasputin oder der Zarismus eine Realität modelliert hatten, die zu leben bedeutete, einem Märchen voller Prüfungen zu begegnen, galt das Bestehen dieser Prüfungen als «eine Legierung aus Anstrengung und Wunder»: Während der westliche Mensch die Realität als Tätigkeitsfeld betrachtete, sah der Russe sie als märchenhaften Traum. Von dem, was gemeinhin als Wirklichkeit erachtet wurde, hatte er seine eigene Auffassung. Die Eigenart seiner Welt besteht in der Selbstaufzehrung. Er «lässt eine märchenhafte Denkweise in sich einfließen, und hängt dann zwischen zwei Welten, er findet Ruhe weder in einer Vita activa noch in einer Vita contemplativa». Stattdessen fasziniert ihn die magische Welt aufgrund ihrer wunderbaren Fantasien; und strengt ihn an, aufgrund ihrer Unfähigkeit mit Zauberei fertig zu werden. Der Russe weiß – oder ahnt: «Russland muss entzaubert werden, nur damit es nicht untergeht. Die Entwicklung von Reformen bedeutet eine Vernichtung des Volkes in der Form, in der es verharrt.» Schwankte das rote Märchen bisher noch zwischen blutig und schön, gaben ihm neue Technologien nun den Rest.
Worthülsen und Lebenslügen
Worin aber besteht nun das «Wunder Russlands»? Der Russe hat Fantasie. Er kann gut erzählen. Seine Welt besteht aus Wörtern. «Sie ist verbal. Nimmt man die Wörter weg, bleibt nichts übrig.» Während also seine Beziehungen in der Tiefe ihres Gesprächs als einzigartig gelten, verfügt seine Pathologie ebenfalls über eine zusätzliche Dimension des Lebens. Fraglich ist nur, wer sie noch zu ergreifen vermag. Ja, wer gehört zu dieser Dimension? «Das Fußvolk ist verantwortungslos, abstoßend. Die Intelligenzija als Schicht hysterisch.» In Russland gibt es niemanden, aber es gibt Menschen. Was das bedeutet? Schweigen.
Apropos: Gleich die Ehe in Russland als etwas gilt, das etwas sehr Wesentliches im Menschen zerstört, wurde Russland zu einem Land, das sich selbst sabotiert: «Die Lust zu arbeiten wird in Russland von zwei Seiten gebremst. Von der Seite der Motivation und von der des Resultats. Ich wollte alle Zäune in Ordnung bringen, die Pfosten aufrichten, aber ich habe kapiert: verlorene Liebesmüh. Hast du etwas gemacht, bleibt es nicht stehen, also wird es von vornherein nicht gut gemacht, weil es sowieso wieder umkippt. Andererseits bleibt es eben darum nicht stehen, weil es schlecht gemacht ist. In Russland sollte man nichts selbst machen. Es macht sich sowieso irgendwie von selbst.»
Gebrandmarkt als «überflüssig», will es dem Russen in keiner Weise gelingen, sich so zu sehen, wie er in Wirklichkeit ist. Irgendetwas hindert ihn. Sein Herz gleicht einem präventiv blockierten System. Er fragt sich, ob er deshalb kein Montaigne sei, «also unfähig zur Selbsterkenntnis, weil es sonst ein Unglück gäbe?» Wie drückt der Russe sich aus, wenn er vor sich selbst nicht einmal seine Müdigkeit zugeben würde? Woran mangelt es ihm? An Prinzipien? An Moral? An Durchsetzungskraft? Oder doch bloß an Disziplin und Gehorsam? Die Konsequenz jenes Konservatismus, besser wissen zu wollen, was des Russen Seele sei – und brauche – gleich ihre Drangsaliererei, «Russen seien anders als die anderen, und nur ein starker Staat sei imstande, sie zu bändigen», verewigte sich in der Politik Lenins; dass je unmenschlicher der Staat, desto besser:
«Iljitsch wusste, was er zu tun hatte. Eine Verschwörung gegen die Bevölkerung tat dringend not. Alle Veränderungen in Russland müssen unbedingt konspirativ vorbereitet werden. Nur Gewalt vermag unser Land aufzurütteln. Auf die Bevölkerung braucht man keine Rücksicht zu nehmen. Bringt man die eine Hälfte um (nicht schade drum, unser Volk ist groß), wird die andere spuren. Unserer Bevölkerung mangelt es an Bewusstsein. Nichtsnützigkeit und Demokratie sind inkompatibel. Die Russen muss man unter Druck setzen.»
So brutal die Geschichte Russlands auch ist; sie hat gezeigt, dass man Russland zwar betrügen kann, sobald es jedoch dahinter kommt, es bereits zu spät ist. Der Russe kennt das Gefühl von Verrat. Für ihn ist jeden Tag Apokalypse. «Er ist daran gewöhnt. Er hält sich für tiefgründiger als andere, aber die Philosophie hat in Russland keine Wurzeln geschlagen. Wozu braucht man nichtsnutzige Menschen?» Der Russe erträgt es nicht, wenn man ein gutes Verhältnis zu ihm hat. Lieber schadet er sich selbst, lebt unter unzumutbaren Bedingungen und gewöhnt sich an sie. Wegnehmen kannst du ihm alles. Er erträgt es. Er ist anspruchslos. Und doch nicht glücklich. Wenn Beschränktheit Spiritualität ist, dann ist er spirituell. Er ist unzurechnungsfähig und doch braucht er nichts. «Nie weiß man, was er verstanden hat, und was nicht.» Und gleichzeitig besteht hier bereits das erste Missverständnis: Der Russe will weder verstehen, noch verstanden werden — er will «halb betäubt weiterträumen».
Gallomanie
«In Russland liebt man diejenigen, die viele Russen gequält und umgebracht haben.» – «Alles zu rechtfertigen, in dieser Fähigkeit besteht die russische Wahrheit».
Ein Teil Russlands zerbrach an seiner Liebe zu Frankreich; in der Hingabe seiner ganzen slawischen Seele an die Klarheit seiner Begriffe, seine «nicht mandelförmigen Augen, die Boudoirs, das für eine Sklavennatur unaussprechbare ‹r›». Russland lief Frankreich hinterher wie ein Straßenköter: Nicht nur sprach es Französisch korrekter als Russisch; es «dachte französisch, lebte französisch, trank französisch, schrieb Gedichte auf Französisch, träumte französisch. Wie vögeln Französinnen? Jeder russische Mann hielt es für Glück, mit einer Französin zu schlafen.» Sie, die Franzosen waren «Könige der Liebe, Prinzen des Scharfsinns, Kardinäle der Nonchalance. Alles, was Russland selbst nicht gelang, schrieb es den Meriten der Franzosen zu.» Zählte man die Minuten und Stunden zusammen, in denen russische Münder das Wort «Paris» ausgesprochen hätten, dann käme man auf hunderte von russischen Leben. Russland liebte Paris «wie einen endlosen Louvre und ein Weltcafé».
Und wofür? «Für den oberflächlichen Blick sah es immer so aus, das Russland Frankreich nachahmte und seine Kleider auftrug. In Wirklichkeit aber erfand Russland Frankreich, um nicht den Verstand zu verlieren. Seine Liebe zu Frankreich war ungefähr so intensiv wie der Wahnsinn seines eigenen Daseins. Russland wurde zu einem Schwamm, um Frankreich ganz und gar in sich aufsaugen zu können, aus ganzem Herzen. Es verstand Flaubert besser als die Franzosen, es weinte vor lauter Verständnis. Es war zutiefst gekränkt: Die Liebe beruhte nicht auf Gegenseitigkeit. Es kämpfte gegen seine Liebe, verzehrte sich, schwor sich, nie mehr Französisch zu sprechen, lachte bitter über sich selbst, spottete über den eigenen Akzent, schlief nächtelang nicht, warf Frankreich seine Pedanterie vor, seinen Geiz, doch es liebte Frankreich weiterhin bedingungslos, ergebener als je zuvor.» V. J. schreibt weiter: «Paris ist nicht verblichen, es hat aufgehört zu existieren... Die Liebe ist nicht auf andere Länder übergegangen. Amerika zählt nicht. Russland hat verlernt zu lieben.»
Der Graue und der neue Gott
Eine Hoffnungslosigkeit überzog Russland. Ihre «silberne Schwermut» galt als chronisch, lebenslang, vollwertig. Sie war «Beklommenheit des Geistes, Schmachten der Seele, quälende Traurigkeit». Auf sich selbst zurückgeworfen, musste der Russe lernen, sich selbst zu lieben. Und gleichzeitig feststellen, dass er dies nicht konnte. Er konnte keine Fürsorge für sich und seinen Körper übernehmen. Er wusste nicht, was es bedeutet, zu vergeben – vor allem nicht sich selbst. Er kannte nur Verachtung. Gleichgültigkeit. Verzweiflung. Und doch war die Einfältigkeit, in der er sich wiederfand, nicht irritierend, sondern stimulierend. Für ihn galt sie als Wert an sich.
Die Russen lassen sich vom Tod nicht aufhalten. Ihre Spiritualität stammt aus dem Scheitern. Sie wissen: «Das wichtigste Ereignis des 21. Jahrhunderts wird die Geburt eines neuen planetarischen Gottes sein». Nachdem alle Götter versagt haben und selbst das Bewusstsein nicht der Unsterblichkeit würdig zu sein scheint, würden wenigstens die Reinkarnationen ihre Seelen wärmen.
«Die russische Spiritualität ist ein Diskurs über die Flüchtigkeit.
Aber der Russe ist ein Asket wider Willen.
Da er mit der Welt nicht fertig wird, spricht er von der Nichtigkeit der Welt.»
Der Russe ist es gewöhnt, in schlechter Nachbarschaft zu leben. Er kennt die Diskrepanz des strukturellen Nichtverstehens, des Nichtverstandenwerdenwollens. Man könnte fast sagen, er kenne nichts anderes. Seit über hundert Jahren befindet er sich in dieser Isolation. Er weiß, wie es sich anfühlt, grundlos – oder zumindest ohne Angabe von Gründen – abgelehnt zu werden. Es hat ihn gelernt, vermeintliche Schwächen in gelebte Stärken zu verwandeln. Seither kann man ihn mit Sanktionen nicht mehr schrecken. Sie erwärmen seine Seele nur noch mehr. Machen ihn stolz.
Wenn der Russe heute von Heimweh spricht, dann erweist sich die Sehnsucht nach der Heimat in ihrem Maße mehr als Heimat denn die Heimat selbst.
In Russland gerät niemand in Panik über das Ende der Welt.
Der Russe weiß, was es heißt, weltlos zu sein.
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Einordnung / Nachwort
Viktor Jerofejews Buch liest sich wie eine Abrechnung. Etwas, das mir persönlich nicht gefällt. Hinzu kommt, dass man beim Lesen nie so recht weiß, was als «wahr» gelten soll und was als ketzerisch. Und doch hat mich das Buch sehr beschäftigt. Aber eben nicht auf die Weise, dass ich das Bild, das Jerofejew von Russland zeichnet, für mich angenommen habe. Der Eindruck, der bei mir blieb, war vielmehr jener, dass selbst der Versuch eines Russen, die russische Seele greifen zu wollen, derart unwahr und doppeldeutig enden kann. Überwogen hat bei mir dafür das Gefühl von Schmerz: Warum müssen wir alles immer derart zersetzen, kategorisieren, bewerten? Gibt es «den Russen» überhaupt? Was hindert uns daran, einfach mal in der Beobachtung, im Gefühl zu bleiben? Uns als Menschen zu begegnen, anstatt in Kulturen, Nationen, Überzeugungen. Das zumindest blieb mir nach der Lektüre von Jerofejews «Enzyklopädie»: ein tiefes Verständnis für die Unverstandenen, ohne verstehen zu wollen, warum sie sie selbst weder verstanden werden können, noch wollen.
Wer nach diesem, oder meinem letzten Text über die russische Kultur (soweit ich mir ein Bild von dieser überhaupt anmaßen darf), immer noch glaubt, wir oder die Russen seien jeweils entweder mehr oder weniger Mensch; in der Art und Weise, wie wir als solche über diese Erde und zwischen ihren Welten wandeln, menschlich einwandfreier oder von Menschlichkeit befreiter, der hat das Menschsein als solches noch nicht verstanden. Und wem das alles noch nicht reicht, den mag vielleicht Sting daran erinnern, was es bedeutet, fernab jeder Ideologie Mensch zu sein — und zu bleiben.
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Zitatequelle und gleich weder Lesart eine große Leseempfehlung: Jerofejew, Viktor (2021): Enzyklopädie der russischen Seele. Berlin (Matthes & Seitz Berlin Verlag).
Das Geschriebene ist eine intellektuelle , dreimal verdrehte Kopfgeburt. Wollte der Schreiber besonders intelligent wirken ? Die russischen Menschen, die ich persöhnlich kennen lernen durfte , berührten mich mit ihrer Herzlichkeit und Gastfreundschaft , ebenso mit ihrer Verbindlichkeit, ja und sie haben Tiefgang..
Vor der Plandemie hatte ich mich noch für eine Europäer gehalten, mittlerweile ist man dann aber mindestens genauso weltlos weil wertelos wie ein Russe. Und Bildung, Kultur, Stolz sind zumindest noch gesellschaftliche Gemeinsamkeiten, die in Russland und China gepflegt und gelebt werden. In Europa ist das Abendland inzwischen untergegangen. Die beiden Artikel treffen vermutlich nicht die Tonart ihres Blogs, aber inhaltlich den Kontext des Artikels:
https://www.anderweltonline.com/index.php?id=2134
https://www.anderweltonline.com/index.php?id=2136
Im Gegensatz zum Abendland lässt sich der Osten nicht einfach umerziehen, dass sind tausendjährige Kulturen, die USA 200 Jahre alt, was eine Hybris. Die ganzen westlichen Medien gehören Amerikanern und jede Form von Stolz oder Nationalität, Beschränken auf die eigenen Probleme statt die Welt behelligen zu wollen, hat man uns Generation um Generation aberzogen. "Overgames" von Lutz Dammbeck zeichnet das aufschlussreich nach, wie es nur ein Film kann, da wir medial-visuell umkonditioniert wurden. Die Frage ist was und wo von der russischen, chinesischen, westlichen Seele nach Digitalsierung und Totalitarismus noch viel übrig bleibt? Ideale mag ich hierzulande schon nicht mehr in den Mund nehmen, Tugenden vielleicht? Die russischen und chinesischen Politiker weisen scheinbar zumindest welche und Kontinuität im Handeln auf. Und wenn wir von etwas wie einer Seele sprechen wollen, noch dazu einer gesellschaftlichen, MUSS diese Elemente und Züge von Kontinuität haben. Da wird konservatives, rückständiges, rückwärtsgewandtes leichtfertig und schnell belächelt und verteufelt. Aber vielleicht ist das nur der gesunde gesellschaftliche Instinkt auf die Überschleunigung und Totalitarismus der Digitalisierung zu reagieren. In China und Russland tut man das und behält intrinsische Interessen im Fokus. Im Abendland hat man die Kultur durch Wokeness und pol. Korrektheit substituiert. Wir werden sehen was sich in den jeweiligen Kulturen kontinuierlicher und erfolgreicher erweisen wird. Der Westen wird sich mit seinen eigenen Waffen, der technologischen Arroganz und Beschleunigung, wahrscheinlich selbst zerstören, weil er kein gesellschaftliches und kulturelles Gegengewicht mehr zu diesem wuchernden Krebsgeschwür hat. Die Plandemie, Ukrainekrieg, Klimakontrolle sind nur Auswüchse von Hybris und wilden um sich Schlagen eines Ertrinkendem im Wasser. Die westlichen Eliten und WHO machen mir keine Angst mehr in ihrer Verzweifelung, eher die beständige Aushöhlung jeglicher Kultur und historischem Bewusstseins durch Digitalisierung und Gleichzeitigkeit, es wird wohl wieder Generationen dauern so etwas aufzubauen wie dt. oder abendländische Tugenden, was uns der amerikanische Kapitalismus über Dekaden aberzogen hat...