Befinden wir uns in einem primär sehenden oder einem hörenden Weltverhältnis? Beobachten oder erklingen wir? — Setzt unser Auge stets ein Gegenüber voraus, so ist der auditive Raum auf eine Weise mit uns verwoben, die weder Innen noch Aussen kennt. Warum dieses Band jedoch zusehends zu verstummen droht; weder die Welt in uns noch wir in ihr mehr zu erhallen vermögen, darüber sprach ich mit dem Berliner Philosophen Jochen Kirchhoff.
Lilly Gebert: Lieber Jochen, die Welt scheint aus dem «Takt» geraten. Wie erklärst du dir diese Verschiebung zwischen uns und dem Klangkörper dieser Erde?
Jochen Kirchhoff: Das ist natürlich eine grundsätzliche Frage. Was ist dieser Klangkörper der Erde? Ich gehe ja davon aus, dass es eine kosmische Harmonie gibt und dass die Erde in dieser eingebaut ist; im Grunde genommen als Klangkörper, der eine hohe Ausrichtung ins Kosmische hat. Wie die Diskrepanz zu erklären ist, das liegt daran, dass die Menschheitsentwicklung in den letzten Jahrhunderten sich dramatisch verändert hat. Diese Menschheit scheint in einen Katastrophenkurs verliebt zu sein, den man nicht letztgültig erklären kann. Es gibt da eine gefährliche Entwicklung, die sich seit Jahrhunderten zuspitzt. Und das hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass irgendetwas fundamental schiefgelaufen ist. Da müssten wir mal darüber reden, was könnte schiefgelaufen sein? Erklärungsversuche gibt es, aber dafür müsste man in die Geschichte und ihre Grundfragen überhaupt einsteigen: Gibt es das Böse? Gibt es irgendwelche Widersachermächte, die eingreifen und das Ganze verunmöglichen? Und was hat das Ganze wiederum mit der Musik zu tun?
Wenn wir jetzt schon von diabolischen Kräften sprechen: In deinem Buch «Klang und Verwandlung» unterscheidest du zwischen «hypnotischer» Musik, die uns «knechtet», und «meditativer» Musik, die uns «erweckt». Woran machst du dieses «Doppelgesicht der Verwandlung» fest?
JK: Das geht letzten Endes zurück auf meine jahrzehntelange Musikerfahrung. Ursprünglich kam ich ja vom Jazz, bin dann aber zur sogenannten Klassik übergewechselt, habe auch eine Gesangsausbildung gemacht, und habe dann einfach verstanden, oder gefühlt, oder gewusst – durch mein Hören –, dass das eine wirkliche Öffnung bedeutet, wenn man «richtig» hört. Und als ich dann auch andere Musik gründlich studiert habe, musste ich feststellen, dass es Musik gibt, die das Bewusstsein nicht erweitert, sondern verkleistert. Hierzu gehört beispielsweise technische Musik, die im Grunde genommen den Menschen ruiniert. Da öffnet sich gar nichts.
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Haben wir mit unserem Sinn für klassische Musik auch den Rhythmus unseres Geistes verloren?
JK: Wir haben den Rhythmus verloren, weil wir die eigentliche Tiefendimension der Musik, die auch eine harmonisierende oder eine tief spirituelle ist, aufgegeben haben und Musik stattdessen unter dem Aspekt der Unterhaltung und des Geldes verbuchen. Da ist etwas schiefgelaufen. Vor einigen Jahrzehnten galt spirituelle Musik immer als asiatische Musik. Das waren bestimmte Klänge aus Asien, über die es auch Schriften gab, zum Beispiel von Joachim-Ernst Berendt, der als erster gesagt hat, dass die abendländische Musik eigentlich eine Einschränkung sei. Die «notierte» Musik, aufgeschrieben mit Noten, sei eine zu rationale Musik, die letztendlich die Klangweite und die Klangtiefe des Kosmos gar nicht erfassen könne. Ich aber meine, dass genau das Gegenteil der Fall ist! Gerade diese Musik erfasst das Leben. Nehmen wir nur die meditative Musik bis hin zur Oberton-Musik: Diese Musik ist eben kein Konstrukt des menschlichen Geistes, sondern ist in der kosmischen Wirklichkeit dieses Planeten und dieses Lebens überhaupt angelegt! Das ist kein Konstrukt.
Darin liegt ja die Grundfrage: Die tonale Musik oder höher geordnete Musik – was ist das überhaupt? Ist es ein vom Menschen hergestelltes Konstrukt, das in der natürlichen Wirklichkeit gar keine Verankerung hat, oder ist sie tief verankert in der menschlichen Substanz? Ich würde ja sagen, das Letztere ist der Fall. Die Oktave ist generell in allen Musikkulturen dieser Erde vorhanden. Kein normales menschliches Ohr kann das im Grunde genommen leugnen. Jeder weiss, fühlt und spürt und hört, was eine Oktave ist. Die Oktave ist eben der Ton selber und gleichzeitig nicht der Ton.
Du sprichst vom Bewusstsein und bezeichnest klassische Musik als «Weg der Bewusstseinsentwicklung». Von welchem Bewusstsein sprechen wir hier? Wer oder was klingt in uns an, wenn wir diese Musik hören? Wirft sie uns auf uns selbst zurück oder verweist sie uns auf etwas Tieferes, Höheres in uns?
JK: Beides! Indem das Höhere und Tiefere anklingt, werden wir auch mehr in unsere eigenen kosmischen Tiefen oder Höhen geführt. Meine These ist, dass da gar kein Unterschied besteht. Es geht ja auch darum: Der Mensch kann eine höhere Entwicklung haben, oder er kann abstürzen in ganz dumpfe und regressive Bewusstseinszustände. Und ich meine, dass diese Musik – richtig gehört – in sich die Möglichkeit enthält, den Menschen da weiterzubringen. Das wird ja in vielen Überlieferungen genau so gesagt, und das war auch eine uralte Tradition der Musik, schon in der Antike, deren Gedanke nur zu dem erneuert wurde, was wir heute klassische Musik nennen.
Würdest du sagen, jeder Mensch ist für diese Klangverwandlung empfänglich, oder setzt diese bereits ein vorhandenes Bewusstsein voraus?
JK: Das ist eine gute Frage. Im Prinzip ist jeder Mensch offen dafür und hat die Befähigung dazu. Es bedarf natürlich einer gewissen Schulung, es muss sich herstellen. Es ist natürlich so, dass ein Mensch, der sich mit Musik gar nicht beschäftigt, ganz schwer Zugang finden kann, weil er keine kulturelle Verankerung hat. Die klassische Schule ist ja sehr komplex und verlangt ein grosses Bewusstsein. Also im Prinzip kann das jeder, aber praktisch ist es so, dass eine bestimmte Voraussetzung dazu erforderlich ist. Eine Schulung, mit der man am besten früh beginnen sollte.
Die Wissenschaft beschäftigt sich ja schon länger mit dem 432-Hertz-Bereich. Dieser Frequenz wird gemeinhin nachgesagt, sie löse in uns Gefühle des inneren «Berührtseins» aus. Sie gilt als «Brücke zwischen rationalem Verstehen und irrationalen Reaktionen». Wäre dies vielleicht ein Weg?
JK: Das ist sicherlich so. Der sogenannte Kammerton hat sich aus verschiedenen Gründen immer wieder verändert, der ist ja nicht stabil. Und das musikalische Ideal des Einklangs und der Harmonie, diese Vorstellung hat sich ja auch ganz entscheidend geändert. Wenn du in die Musikgeschichte gehst und beispielsweise Bach hörst, dann hörst du immer auch eine hochdifferenzierte, melodische Musik, die aber die eigentliche Melodie niemals direkt herauskristallisiert, sondern immer unterbricht durch bestehende Akzente – während die sogenannte klassische Musik ganz auf die Melodie setzte. Das war das vollkommen Neue: Als der eigentliche Königsweg in der Musik galt primär die Melodie. Und vorher war es nicht so, vorher war es nicht primär die Melodie, sondern der Gesamtklang.
Du schreibst von «der Geburt einer neuen Kultur, aus dem Geiste der Musik» und beziehst dich dabei auf unser Abendland. Besteht eine Hoffnung, diesen Klang wiederzufinden, diese Anverwandlung in uns selber hervorzubringen, darin, uns mit unserem kulturellen Gedächtnis wieder zu vereinigen?
JK: Das ist natürlich eine hochgegriffene These oder auch Annahme bis Forderung von mir hinsichtlich einer Öffnung für den Menschen. Aber ja, würde ich sagen. Die Möglichkeit besteht, wenn man sich der Musik öffnet, das muss man einfach klar sagen. Ich bin ja nicht der Einzige, der diese Erfahrung gemacht hat. Es haben viele diese Erfahrung gemacht. Es ist möglich, bei der westlichen Musik in eine metaphysische Dimension hineinzugeraten, die man gar nicht mehr erklären kann. Du kannst auch die Komplexität und Schönheit bestimmter Musik am Ende gar nicht erklären. Wenn du sie in Worte bringst, dann wirkt es fast trivial. Der Klang macht es aus. Das Hören macht es aus, das meditative Hören. Und das ist im Grunde genommen selbst Meditation. Aber das kannst du nicht postulieren, es darf kein moralisches Postulat sein. Es muss von Innen aufbrechen.
Genau, es geht weder über Zwang noch über Konsum.
JK: Überhaupt nicht! Das wäre ganz Unfug. Das würde der menschlichen Natur zuwiderlaufen. Genau, wie ja im Grunde alle Durchbrüche des Geistigen keinem Menschen aufgezwungen oder aufgepfropft werden können.
Der Schlüssel besteht also in der inneren Freiheit, sich selber öffnen zu wollen?
JK: Ja! Richtig. Und du musst auch kein Musikinstrument spielen können. Es ist ja nicht so, dass nur derjenige, der ein Musikinstrument spielt, diese Öffnung hat. Es kann auch das Gegenteil der Fall sein und derjenige geknechtet werden durch das Üben. Der Wille entwickelt sich aus der Freiheit heraus und aus dieser Freiheit kann sich ein Bewusstsein entwickeln, was auch anders nicht hergestellt werden kann.
Dieses Gespräch entstand auf der Grundlage Jochen Kirchhoffs Buchs: «Klang und Verwandlung. Klassische Musik als Weg der Bewusstseinsentwicklung» (1989) und erschien zuerst und in leicht veränderter Form im Schweizer Magazin «Die Freien».
Jochen Kirchhoff (*1944) studierte Philosophie, Geschichte und Germanistik, war viele Jahre Dozent für Philosophie an der Humboldt-Universität und der Lessing-Hochschule in Berlin. Sein Hauptinteresse galt stets dem Mensch-Kosmos-Verhältnis in erkenntnistheoretischer, naturphilosophischer und spiritueller Hinsicht.
Die Ansichten von Herrn Kirchoff über unsere Musikkultur sind etwas schrullig,auf außereuropäische Musikkulturen geht er so gut wie gar nicht ein weil er sie nicht kennt aber er hat recht,im Laufe der Jahrhunderte hat sich viel verändert.Die Frage ist allerdings nicht wie man unsere Gesellschaft aus dem Geist der abendländischen Musik erneuern könnte sondern wie sich die abendländische Musikkultur selbst erneuern könnte,sie ist nämlich am Ende.Durch die Notation verschwanden über die Jahrhunderte komplexe rythmische Pulsationen und kehrten erst wieder (etwas einseitig) im Jazz zurück.Täglich werden immer gleich klingende Songs in großer technischer Perfektion produziert die jetzt wohl meistens von einer KI hergestellt werden(den Unterschied zu menschengemachten Songs wird man nicht hören).Im Klassiksektor wurden Musikinstrumente schon seit Jahrzehnten zu Trimmgeräten degradiert ,hier wird dem Publikum auf allen Kanälen von perfekt trainierten Hochleistungsperformern das immer gleiche Repertoire vorgeführt,um Hörerfahrungen geht es schon lange nicht mehr,Musikdarbietung ist im Klassikbereich zu einer olympischen Sportdisziplin geworden.In der "modernen" Musik wurden unausgesprochen Tabus errichtet(keine Melodie,keine Harmonie,kein Rythmus,kein erkennbarer formaler Ablauf,keine Emotionen)die sie zwangsläufig in eine elende Sackgasse geführt haben in der sie seit Jahrzehnten feststeckt und die immer gleichen Geräuschkulissen produziert.Der Jazz existiert genaugenommen nicht mehr,er hat allerdings immerhin durch seine konsequente Öffnung zur außereuropäischen Musik und die ständige Integration von Improvisation eine Möglichkeit zur lebendigen Weiterentwicklung geschaffen.