«In keiner Sprache kann man sich so schwer verständigen wie in der Sprache», sagte bereits Karl Kraus. Und dennoch waren Worte immer schon meine liebste Form, mich auszudrücken. In Worten finde ich Halt. Sie sind wie Gewänder, durch die ich dem Ausdruck verleihen kann, was ich anders nicht ausdrücken kann. Schreiben ist meine Art der Bewältigung. Mein Versuch, die Welt zu verstehen.
Entsprechend wollte ich auch in den letzten Wochen immer wieder aufschreiben, was und wie ich mich fühlte. Aber diesmal blieb das Blatt leer. Und vermutlich hätte nichts, nicht einmal ich es nicht besser beschreiben können. Es war mir, als könnte kein Papier das tragen, was ich in mir trug. Und so trug ich es weiter.
Bis mir schlussendlich doch ein Satz kam: Die schlimmste Form von Traurigkeit ist, nicht erklären zu können, warum man traurig ist.
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Anders als bei einer Depression spürst du nicht nichts. Du spürst alles und zu viel. Die Traurigkeit ist wie ein Nebel, der sich zwischen dich und die Welt legt. Durch ihn ist alles miteinander verbunden, und doch sieht kein Baum den anderen.
Was bleibt, ist ein Gefühl. Das Gefühl, nicht zu wissen, wie weit entfernt du selbst noch bist, und ob das, was du siehst, jemals das ist, für das du es hältst. Die Traurigkeit ist wie ein ständiges Annähern und Entgleiten. Die Welt entzieht sich dir. Und du dich dir selbst gleich mit.
Traurigkeit also bedeutet ein ewiges zu Viel und gleichzeitiges zu Wenig. Du selbst kannst die Welt nicht greifen. Und doch ergreift sie immer wieder dich. So wenig du an ihrem Schlaf zu rühren vermagst, so sehr rührt sie an deinem. Du willst sie verstehen, doch sie lässt dich nicht.
So stehst du immer wieder da. Deine Augen füllen sich mit Tränen. Doch dein Blick bleibt klar. Es ist wie immer. Du spürst alles. Und nichts.
Meist ist es das Objekt der Traurigkeit, das zu ergründen bereits selbst traurig macht. Ist es die Welt, die uns verstimmt? Oder sind wir selbst die Traurigen, durch deren Augen alles in demselben Licht erscheint? Nämlich in gar keinem.
Generell frage ich mich: Ist Traurigkeit etwas, das man ist oder hat? Sprich. Entspringt die Traurigkeit mir selbst oder habe ich sie bloß übernommen? In Form einer Energie, einer Frequenz, etwas Unaufgelöstem, noch immer Leidendem?
Für mich fühlt es sich oft so an. Eigentlich schon mein Leben lang. Da ist eine Schwere, die sich über alles und jeden legt. Doch diese Schwere bin nicht ich. Sie scheint mir zugehörig. Denselben Ursprung jedoch teilen wir nicht.
Ich persönlich bekomme oft gesagt, ich sei für mein Alter schon sehr «weit». Doch was klingt wie ein Kompliment, fühlt sich auf Dauer nicht wie eines an. Denn was ich mittlerweile mit dieser «Weite» assoziiere, ist vielmehr eine Form der Enge. So ist mir im Zuge meines kürzlichen Umzuges erst wieder bewusst geworden, wie viele Bücher ich eigentlich bereits gelesen habe oder generell besitze.
Mit Büchern ist das immer so eine Sache. Ihre Geschichten können dich befreien und dein Herz öffnen. Die in ihnen versammelten Theorien schließen es und binden dich an diese Welt. Sie lassen dich Teil einer Wirklichkeit werden, die nicht deine ist. Und auch niemals sein wird.
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Denn diese Wirklichkeit ist eine tote Wirklichkeit. Sie ist erdacht. Entspringt der Ratio unseres Verstandes, und nicht dem Leben. Dabei ist genau das das Paradoxe: Denn diese toten Gedanken entwickeln irgendwann ein Eigenleben. Oder: eine Eigenenergie. So zumindest empfinde ich es beispielsweise mit den Ideen der Aufklärung. So zukunftsgewandt sie sich taufen, so morbide fühlen sie sich an.
Festmachen tue ich dies an ihrem Überwindungsdrang. Das Gefühl ist und war nie etwas, das es zu überwinden galt. Doch indem es den «Aufklärern» bis heute nicht gelungen ist, ihr Gefühl zu integrieren, anstatt es zu verdrängen, konnte auch bis heute nicht das eintreten, was sie sich im Kern erträumten: menschliche Entwicklung.
Denn was braucht es, um diese zu erstreben? Zunächst einmal die Frage danach, was Menschsein bedeutet. Und indem Menschsein nie nur eins ist – Gefühl oder Verstand –, lässt sich auch die Antwort auf diese Frage nie nur denken. Um zu verstehen, was Menschsein bedeutet, will das Menschsein gefühlt werden.
An diesem Punkt scheine zumindest ich mich derzeit zu befinden. Es gibt Tage, da fühle ich mich mehr Mensch als alles andere. Ja, als hätte ich die gesamte Menschheit in mir aufgenommen. Und dann gibt es da aber auch wieder Tage, wenn nicht Wochen, wo ich nicht einmal mich selber spüre.
In Phasen wie diesen gibt es für mich nicht viel Verbundenheit. Vielmehr Entwundenheit. Das besagte Entziehen der Welt aus mir wie ich mich auch aus ihr. Drückt sich dies im Außen allein durch meine Wohnortswahl aus, gleicht mein entsprechendes Innenerleben Hannah Arendts Verlassenheitsdefinition:
«Verlassenheit entsteht, wenn aus gleich welchen personalen Gründen ein Mensch aus dieser Welt hinausgestoßen wird, oder wenn aus gleich welchen geschichtlich-politischen Gründen diese gemeinsam bewohnte Welt auseinander bricht und die miteinander verbundenen Menschen plötzlich auf sich selbst zurückwirft…. In der Verlassenheit sind Menschen wirklich allein, nämlich verlassen nicht nur von anderen Menschen und der Welt, sondern auch von dem Selbst, das zugleich jedermann in der Einsamkeit sein kann.»1
Mit einem Unterschied: Für mein Empfinden bin ich – ohne überheblich klingen zu wollen – durchaus fähig, «den Zwiespalt der Einsamkeit zu realisieren». Denn das ist das Spannende an der von mir erlebten Verlassenheit: Immer dann, wenn die Welt mich verlässt oder ich aus ihr zu treten beginne, geht eine neue in mir auf.
Denn wie Arendt wiederum richtig schreibt: In der Verlassenheit sind wir «unfähig, die eigene, von den anderen nicht mehr bestätigte Identität mit sich selbst aufrechtzuerhalten». Oder mit anderen Worten: Mit dem sozialen Tod sterben wir nicht nur einen Tod, sondern tausend Tode. Wir beginnen, jene Anteile unserer Persönlichkeit zu verabschieden, die nie wir selbst waren, und die wir folglich auch nicht für uns, sondern für die anderen haben entstehen lassen.
«In dieser Verlassenheit», schreibt Arendt weiter, «gehen Selbst und Welt, und das heißt echte Denkfähigkeit und echte Erfahrungsfähigkeit, zugleich zugrunde. An der Wirklichkeit, die keiner mehr verlässlich bestätigt, beginnt der Verlassene mit Recht zu Zweifeln; denn diese Welt bietet Sicherheit nur, insofern sie uns von anderen mit garantiert ist».
Im Grunde ist es das, was die Leere der Verlassenheit zur Schwere werden lässt: Während alles vergeht, kann zugleich nichts entstehen, was nicht zuerst in dir entstanden ist. In der Verlassenheit werden wir zu unserem eigenen Ursprung.
Innerhalb unserer Menschseinsentwicklung scheint mir dies mit das schwerste Stadium zu sein. Sich vollends von dem Bild zu lösen, das du nur deshalb von dir hast, weil die anderen es von dir gemacht haben. Und stattdessen du selbst zu werden.
Darin beruht im Grunde jedes Menschsein: im bei sich Ankommen. Im Suchen und Finden der eigenen Energie. Der eigenen Wurzeln. Des eigenen Sinns.
Selbstsein, Menschsein, Traurigkeit. Wie geht das zusammen, frage ich mich. Und gleichzeitig habe ich es soeben eigentlich beantwortet. Denn was mit und in mir geschieht, wenn die Welt sich mir entzieht, ist schlussendlich nichts weiter als eine Rückkehr in meine eigene Energie und Kraft.
Aus dieser heraus hört die Traurigkeit nämlich auch auf, sich wie eine Last anzufühlen. Trotz all’ der sie mitbringenden Verlassenheit ist sie mir derweilen mehr Geschenk als Verlust. Sie trennt mich vom Falschen und führt mich zum Wahren. Zurück in die Natur, zurück zu mir. In die Heilung.
Lange habe ich meine Traurigkeit verneint. Und mit ihr das wohl führendste Gefühl in meiner Brust. Allein dadurch, dass ich mich ihr fortan nicht nur zugehörig, sondern wahrhaft verbunden fühle, entsteht eine Öffnung, die sich – anders als die gedankliche – wie eine echte Weite anfühlt. Im Gegensatz zu den Aufklärern will ich nichts überwinden, ich will wachsen. Oder wie es Rilke in seinen Briefen an einen jungen Dichter so treffend formuliert:
«Gefährlich und schlecht sind nur jene Traurigkeiten, die man unter die Leute trägt, um sie zu übertönen; wie Krankheiten, die oberflächlich und töricht behandelt werden, treten sie nur zurück und brechen nach einer kleinen Pause um so furchtbarer aus; und sammeln sich an im Innern und sind Leben, sind ungelebtes, verschmähtes, verlorenes Leben, an dem Man sterben kann.»
Damit mag dieser Weg weiterhin ein alleiniger sein, aber kein einsamer. Es ist das Gefühl, auf ihm mit etwas mir mehr als Wesenhaftem in Berührung zu kommen, das für mich den Unterschied macht. Ich kehre der Welt nicht länger den Rücken. Vielmehr fühlt es sich so an, als wäre derselbe Grund, weswegen ich dies einst tat, nun der Auslöser meiner Hinwendung zu ihr.
Und allein dadurch, dass wir diesen Weg gemeinsam gehen, erübrigt sich auch die Frage danach, ob diese Traurigkeit schlussendlich Ich bin oder etwas, das ich aus früheren Leben oder anderen Galaxien übernommen habe. Es spielt keine Rolle. Das Gefühl ist Jetzt und will gefühlt werden. In diesem Leben. Von mir.
Die Frage nach dem Wofür ist wiederum eine andere.
Wofür es derzeit allerdings einen Unterschied macht, sind die – zukünftig hoffentlich wieder kürzer werdenden – Schreibpausen. Denn wie ich eingangs bereits erwähnte: Ich bin ein recht kopflastiger Mensch. Und als dieser habe ich gelernt, alles, was ich bin, denke und fühle, in Worten auszudrücken. Dass diese in letzter Zeit öfters verstummten, nehme ich als Verschiebung in meinem Sein wahr.
Schließlich gibt es noch andere Wege und Formen, sich und Welt auszudrücken. Für mich ein weiterer Grund, meiner Traurigkeit zu danken. Denn was sie wirklich kann, ist, mich zu lehren, was es heißt zu fühlen. So ist es schlussendlich das, was in mir aufgeht, wenn die Welt mich verlässt: mein eigenes Gefühl.
Wann immer ich ein Stück weit aufhöre, «weltlich» zu sein, gehen Bilder in mir auf, die so stark in mir wirken, als dass ich allein beim Gedanken an sie, nicht nur nicht mehr sprechen kann, sondern ganz verstumme.
Das macht die Traurigkeit zur Spannung und Lähmung zugleich. Auf der einen Seite fühle ich mich, als trage ich den Schmerz der ganzen Welt in mir. Es entstehen Ohnmacht, Schwere und Hoffnungslosigkeit. Auf der anderen Seite sehe ich in dem Schmerz aber auch etwas Verbindendes. So entsteht Nähe und Verantwortung. Wenn nicht sogar Berufung.
Für mich ist es das, was mich staunen lässt: Sobald ich «die Menschen» daran hindere, an mir zu ziehen, beginnt die Welt, an mir zu ziehen. Es beginnt das Stadium, in dem zumindest ich mich ihr nicht mehr entziehen kann.
Und was das bedeutet, kann ich im Moment auch nur erahnen.
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Hannah Arendt (2006): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft: Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus. München. Piper, Seite 977.
Vielen Dank, ich fühle mich grad zutiefst verstanden. Endlich in Worten ausgedrückt was ich schon immer in mir mitgetragen habe und immer das Gefühl hatte es loswerden zu wollen. Danke ich darf es behalten...
Liebe Lilly,
deine zuletzt sehr persönlichen Texte haben mich sehr berührt. Das mit dem zurückziehen kann ich sehr gut nachvollziehen. Obwohl ich in meiner beruflichen Welt nicht zurückgezogen agiere und irgendwie immer auf der Bühne stehe, spüre ich abseits dieser Verpflichtungen den starken Drang mich zurückzuziehen. Das führt sogar soweit, dass ich mit Menschen, welche ich sehr mag nur in Gedanken kommuniziere, manchmal mehrmals am Tag, mitunter entstehen so Gespräche mit Fortsetzungen über Tage und Wochen. Irgendwann kommt dann der Zeitpunkt, an dem ich das Gefühl habe, dass es für die Realität zu spät ist.
Ich grüße dich von Herzen. Nicol