Menschen ohne Mitte
Haben wir uns selbst so sehr vergessen? Wenn die Macht der Mehrheit über die Ohnmacht des Einzelnen triumphiert.
«Jeder ist der Andere und Keiner er selbst. Das Man, mit dem sich die Frage nach dem Wer des alltäglichen Daseins beantwortet, ist das Niemand, dem alles Dasein im Untereinandersein sich je schon ausgeliefert hat.» – Martin Heidegger, Sein und Zeit
Masse oder Mensch? Während die einen sie als Sicherheit empfinden, nehmen die anderen ihre Gegenwart als Bedrohung wahr. Wie kann das sein? Wieso fühlt sich die eine wie auch die andere Seite im Wissen um die Existenz des jeweiligen Gegenübers in seiner eigenen bedroht? Weshalb können beide – Individuum wie Masse – nicht ohneeinander existieren und gehen doch aneinander zugrunde? Gibt es Existenzialien, grundlegende Gefühle des Menschseins, die sich nur im Alleingang leben lassen? Wie kann ein Mensch so wenig in sich selbst gefestigt sein, dass er sich in seinem eigenen Sein angegriffen fühlt, alsdann dieses auch nur im leisesten Kontrast zu dem seiner Umwelt steht? Wann haben wir verlernt, an Differenz zu wachsen?
Menschen ohne Mitte
Die «Identitätskrise» moderner Gesellschaften führte Erich Fromm bereits 1979 in Haben oder Sein auf die Selbst-Losigkeit ihrer Mitglieder zurück: «Sie haben ihr großes, sich ständig wandelndes Ich, aber keiner von ihnen hat ein Selbst, einen Kern, ein Identitätserleben… Wo kein echtes Selbst existiert, kann es auch keine Identität geben.»1 Ohne Bewusstsein über und Vertrauen in sein eigenes Selbst sei der Mensch, so Fromm, sowohl von sich als auch seiner Umwelt entkoppelt. Er glaube weder an das, was er ist, noch an das, was ihn umgibt. Dort, wo einst Interesse, Liebe und Solidarität zugegen waren, herrsche nun das Verlangen, «zu haben, zu besitzen und die Welt zu beherrschen und so zum Sklaven des eigenen Besitzes zu werden».
Der ausschließlich am Haben orientierte Mensch besitze damit «weder Überzeugungen noch echte Ziele». Anders als der am Sein Orientierte, der aus «einer inneren Aktivität» heraus lebe und dessen «humanistische Religiosität» «sich gegen jede Art der Verdinglichung, Berechenbarkeit und Vergötzung des Menschen richtet», sei «der am Haben Fixierte von einer eigenartigen Passivität bestimmt»: Indem er seine Selbstentwicklung, den Sinn seines Daseins nicht mehr in der Differenz, sondern in der Konformität zu seiner Umwelt zu verwirklichen sucht, verfehlt er sich selbst. Er «ist Betrieb geworden, muss funktionieren und sich verwerten lassen». Im immerwährenden Kampf gegen den drohenden Selbstverlust flieht er in einen narzisstisch geprägten Aktivismus. Sein Identitätsgefühl zielt fortan nicht mehr darauf ab, in einen lebendigen, produktiven Austausch zwischen sich und seiner Mitwelt zu treten – das zunehmende Erlebnis innerer Leere zwingt ihn, sein fehlendes Selbst- und Subjektsein durch das Haben von Objekten zu kompensieren.
Egal wie sehr er es damit jedoch zu verdrängen gesucht: Der Mensch hat panische Angst vor dem Alleinsein. Er kann die Isolation nicht ertragen. Als soziales Wesen ist er darauf angewiesen, auf die Welt außerhalb seiner selbst bezogen zu sein. Nicht sein Wunsch nach Kooperation, sondern sein zwingendes Bedürfnis, seelische wie körperliche Vereinsamung zu vermeiden, treibt ihn in die Arme seiner Mitmenschen2. Er braucht zumindest das Gefühl von Identität und Zugehörigkeit. Insofern er nun aber nicht imstande ist, dieses in sich selbst zu verorten, bleibt ihm nichts anderes übrig, als der von ihm als Last empfundenen Freiheit zu entfliehen und sein Ich-Gefühl in etwas zu begründen, das außerhalb seiner eigenen Verantwortung liegt: dem Wir-Gefühl. Im Wir glauben wir etwas zu fühlen, «was wir in Wirklichkeit gar nicht fühlen – einfach weil wir uns danach richten, was uns durch die öffentliche Meinung oder Ähnliches suggeriert wird». Wir hören auf, wir selbst zu sein, und werden zu einem Abbild dessen, was unsere Umgebung uns als «richtig» und «akzeptiert» vermittelt. Die Diskrepanz zwischen unserem «Ich» und der Welt verschwindet und damit auch die bewusste Angst vor dem Alleinsein3.

Zwischen Fremdbestimmung und Selbstaufgabe
«Wir wissen nicht, aber wir können es ahnen, wie viele Menschen sich in Erkenntnis ihrer wachsenden Unfähigkeit, die Last des Lebens unter modernen Verhältnissen zu ertragen, sich willig einem System unterwerfen würden, das ihnen mit der Selbstbestimmung auch die Verantwortung für das eigene Leben abnimmt.» – Hannah Arendt, E. u U.
Betrachtet man die zunehmende Zerrissenheit in und zwischen den Menschen, lässt das – ebenfalls anwachsende – Machtgefälle zwischen Bürger und Staat darauf schließen, dass es – anders als die Psychoanalyse lange zu wissen glaubte – nicht an der widersprüchlichen Natur des Menschen liegt, der Gesellschaft Schwierigkeiten zu bereiten, sondern es andersherum die Gesellschaft ist, die sich dadurch zu stabilisieren gelernt hat, das verborgene Innere seiner Mitglieder nicht zum Vorschein treten zu lassen. Ihr neugewonnener «Individuationsprozess» mag sie von ihren Fesseln befreit und zu ihrer Unabhängigkeit und Rationalität beigetragen haben; er hat sie aber auch isoliert und damit ängstlich und ohnmächtig gemacht.4
Die Bedingungen dafür, dass der Einzelne mehr oder weniger freiwillig in der Masse auf- und untergehen zu vermag, sah Erich Fromm erstmals im Protestantismus und dem kompensatorischen Glauben Luthers und Calvins begründet: Nachdem die mittelalterliche Gesellschaft, in welcher jeder Bürger seine feste Rolle hatte und alles Leid und aller Schmerz durch die Kirche kompesiert wurde, mitunter durch ihre Thesen zusammenbrach, hörte der Mensch nicht nur auf, die Kirche als Bindeglied zwischen sich und Gott zu sehen – er sah sich auch nicht mehr als fest eingebundenes Mitglied innerhalb eines Sinngefüges. Indem die darauffolgende Existenznot der Mittelklasse5 in den Menschen Gefühle der Bedeutungslosigkeit und Ohnmacht auslöste, erschien es der Mehrheit der – mit ihrer plötzlichen Exponiertheit gegenüber Gott überforderten – Bevölkerung als unausweichlich, von nun an Heil und Sicherheit darin zu suchen, «ihr isoliertes Selbst auszuschalten und zu einem Werkzeug in den Händen einer überwältigend starken Macht außerhalb ihrer Selbst zu werden.»6
In Die Furcht vor der Freiheit bezeichnete Fromm diese Bereitschaft des Einzelnen, «nichts anderes sein zu wollen, als ein Mittel zur Verherrlichung eines Gottes, der weder Gerechtigkeit noch Liebe repräsentierte»7, nicht nur als Vorbereitung dazu, «die Rolle des Dieners einer Wirtschaftsmaschinerie zu akzeptieren»8 – in der «Verzweiflung des automatenhaften Konformisten» sah er zugleich den Nährboden für die politischen Ziele eines jeden Faschismus9: Insofern die im Protestantismus verankerte Selbstverleugnung und asketische Einstellung den Menschen dazu drängte, «sein Leben ausschließlich Zwecken unterzuordnen, die nicht seine eigenen waren»10, war dessen religiöse «Freiheit» für ihn nicht mehr als ein weiterer Vorläufer jenes falschen Individualitätsgefühls, das wenige Jahrhunderte später erneut vom Kapitalismus, als auch seiner Steigerungsform, dem Totalitarismus, befeuert wurde:
«Der einzelne Mensch wurde noch einsamer, noch isolierter und wurde zum Werkzeug in den Händen überwältigender starker Kräfte außerhalb seiner selbst; er wurde zum »Individuum«, jedoch zu einem verwirrten und unsicheren Individuum. Es gab Dinge, die ihm halfen, über die offen zutage liegenden Manifestationen dieser inneren Unsicherheit hinwegzukommen. Vor allem war der Besitz eine Stütze seines Selbst… Je weniger er das Gefühl hatte, jemand zu sein, um so dringender brauchte er Besitz.»11
Kurzum: Das innere Nicht-Sein moderner Gesellschaften bedingt sich durch ihre Verkehrung ins Außen. Solange der Mensch im Kollektiv aufzugehen oder sich anhand von Dingen einen Wert zuzuschreiben vermag, muss er seinem Leben nicht selbst einen Sinn verleihen. Was aber, wenn es gerade «die Präsenz dieser Leerstelle»12 sein sollte, die ihren Zusammenhalt gewährleistet?
Das Doppelgesicht der Freiheit
Das Ende monarchistischer Herrschaft, die Aufklärung und ihre Dezentralisierung von Wissen und Information: Der «moderne» Mensch ist davon überzeugt, er habe sich seine Freiheit erkämpft. Dabei hat er nur neue Bedingungen für dieselben Zwänge geschaffen: Was früher dem offenen persönlichen Gehorsam gegenüber einem Führer galt, gebührt nun der Unterwerfung unter die Organisation. Was sich änderte, war nicht die Tatsache der Abhängigkeit, sondern ihre Form. Bis heute ist der Mensch nicht in der Position, seine Freiheit auch dahingehend umzusetzen und zu nutzen, sein wahres Selbst zu entfalten. Und dennoch lebt er in dem Glauben, keinen äußeren Autoritäten mehr unterworfen zu sein. Er ist stolz darauf, ein mündiger Bürger zu sein. So stolz, dass er dafür verkennt, welche Macht anonyme Autoritäten wie die öffentliche Meinung oder sein «gesunder Menschenverstand» auf ihn ausüben. Durchaus bereit, sich entsprechend ihren Erwartungen zu verhalten, spürt er nicht, dass es in Wahrheit keine innere Überzeugung, sondern seine eigene Angst ist, die ihn daran hindert, sich von ihnen zu unterscheiden. Diese Unfähigkeit, zu erkennen, dass das «Selbst», in für das er glaubt zu handeln, schlussendlich das «gesellschaftliche Selbst» ist, welches «sich im Wesentlichen mit der Rolle deckt, die der Betreffende nach dem, was die anderen von ihm erwarten, zu spielen hat und die in Wirklichkeit nur eine subjektive Tarnung seiner objektiven Funktion in der Gesellschaft ist»13, beschreibt Erich Fromm wie folgt:
«Wir sind von der Zunahme unserer Freiheit von Mächten außerhalb unserer selbst begeistert und sind blind für die inneren Zwänge und Ängste, die die Bedeutung der Siege, welche die Freiheit gegen ihre traditionellen Feinde gewonnen hat, zu unterminieren drohen. Daher neigen wir zu der Meinung, es gehe bei dem Problem der Freiheit ausschließlich darum, noch mehr von jener Freiheit zu erwerben, die wir bereits im Verlauf der neueren Geschichte gewonnen haben, und wir hätten weiter nichts zu tun, als die Freiheit gegen all jene Mächte zu verteidigen, welche uns diese Art der Freiheit versagen wollen. Wir vergessen, dass zwar jede Freiheit, die bereits errungen wurde, mit äußerster Energie verteidigt werden muss, dass aber das Problem der Freiheit nicht nur ein quantitatives, sondern auch ein qualitatives ist; dass wir nicht nur die traditionelle Freiheit zu bewahren und zu erweitern haben, sondern dass wir uns auch eine neue Art von Freiheit erringen müssen, die uns in die Lage versetzt, unser individuelles Selbst zu verwirklichen und zu diesem Selbst und zum Leben Vertrauen zu haben.»14
Trotz seiner Entwicklung eines kritischen und verantwortungsbewussteren Selbst habe der Mensch, so Fromm, nie die Stufe erreicht, auf welcher er dazu in der Lage wäre, die Kluft zwischen der «Freiheit von etwas» und der «Freiheit zu etwas» zu erkennen, geschweige denn sie auch zu überwinden. Indem er nie gelernt habe, sich von seinen primären Bindungen auf gesunde Weise zu emanzipieren und infolgedessen seinen inneren Kompass anhand seiner eigenen Werte zu kalibrieren, bleibe jener eben Zeit seines Lebens auch anfällig für Fremdausrichtungen, beispielsweise in Form zwanghafter Konformität oder der Unterwerfung unter einen Führer. Für Fromm war klar: «Das Recht der Gedankenfreiheit bedeutet nur dann etwas, wenn wir auch fähig sind, eigene Gedanken zu haben. Die Freiheit von einer äußeren Autorität ist nur dann ein dauernder Gewinn, wenn unsere inneren psychologischen Bedingungen derart sind, dass wir auch in der Lage sind, unsere Individualität zu behaupten.»15
Die Gefahren sinnentleerter Selbstüberlassenheit
»Die ernste Gefahr für unsere Demokratie besteht nicht in der Existenz totalitärer fremder Staaten. Sie besteht darin, dass in unseren eigenen persönlichen Einstellungen und in unseren eigenen Institutionen Bedingungen herrschen, die der Autorität von außen, der Disziplin, der Uniformität und Abhängigkeit vom Führer in diesen Ländern zum Sieg verhelfen. Demnach befindet sich das Schlachtfeld hier – in uns selbst und in unseren Institutionen« – John Dewey, Freedom and Culture
Aus Ermangelung eines wahren Freiheitsgefühls flieht der Mensch vor sich selbst und unterwirft sich einer äußeren Autorität, dessen Definition von «Freiheit» er dann für seine eigene hält. Ein eigentlich sehr einfaches – wenn auch trauriges – Spiel: Ein Mensch, der nur unter dem Druck äußerer Notwendigkeiten arbeitet, käme zu schnell an den Punkt innerer Ausgelaugtheit. Weil er sich selbst noch spürt, würde er gegen die Zumutung des Verzichts rebellieren und sich seinem Repressor gegenüber widersetzen. Er könnte den inneren Widerspruch auf Dauer nicht ertragen und würde Mittel und Wege finden, wie er das, was seiner Auffassung nach eher seinem Wesen entspräche, in die Tat umsetzen könnte. Für das repressive System eine inhärente Unmöglichkeit: Sind Verzicht und Gehorsam für dieses unentbehrliche Strukturelemente, gilt es – um die für sinnvoll gehaltene Notwendigkeit und ihr Bild der Alternativlosigkeit aufrechtzuerhalten – im Menschen eine innere Notwendigkeit zu erzeugen. Dieser müsse dazu veranlasst werden, sich fortan aus einer inneren Dynamik heraus den «gesellschaftlichen Erfordernissen» zu widmen und «sich den besonderen ökonomischen Notwendigkeiten entsprechend zu verhalten». Einen solchen Menschen muss man nicht mehr zwingen, möglichst hart zu arbeiten: Indem er seinen Gehorsam gegenüber einer äußeren Autorität durch «eine innere Autorität in Gestalt von Gewissen und Pflicht» ersetzt hat, wird er fortan durch «einen inneren Zwang zur Arbeit getrieben», der «ihn wirksamer unter Kontrolle hält, als das eine äußere Autorität jemals vermöchte».16
Es war Bruno Bettelheim, der – ebenso wie Erich Fromm – untersuchte, wie der, immer mehr seiner Lebensbereiche umfassende, Zwang und die moderne «Automatisierung des Individuums» nicht nur dessen Unsicherheit und Hilflosigkeit verstärkte, sondern zugleich auch zu seiner Bereitschaft beitrug, «sich neuen Autoritäten zu unterwerfen, die ihm Sicherheit anbieten und seine Zweifel mindern»17. Folglich sah er das «Gefühl, nicht so recht zu wissen, wer man eigentlich ist, das Empfinden, in seiner Autonomie beschränkt zu sein», in der modernen Massengesellschaft dadurch begründet, dass
sie es dem Einzelnen erschwert, eigene Maßstäbe für sein Leben zu entwickeln und nach ihnen zu leben,
ihre Vielzahl an Möglichkeiten in ihm das Gefühl erwecken, «dass es nicht so wichtig ist, welchen Weg er wählt, und dass es daher nicht nötig ist, die Fähigkeit zu entwickeln, diesen Weg konsequent zu verfolgen»,
sie ihm «die Illusion größerer Freiheit» suggeriert und dadurch Enttäuschung, Scheitern oder Misserfolg nur noch größeren Schaden verursachen,
ihr Aufgebot an Möglichkeiten nicht nur die Qual der Wahl, sondern auch ihre Unmöglichkeit darstellt,
sie keine Leitbilder vermittelt, die dem Einzelnen dabei helfen, seine eigenen Wünsche und Bedürfnisse zu erkennen und auf die ihrige Weise zu erfüllen.18
Ein dementsprechend durch die Massengesellschaft sozialisierter Mensch werde, so Bettelheim, nie lernen, seine Probleme eigenständig zu erkennen, geschweige denn selbst zu lösen. Er ist daran «gewöhnt, in fast allem, was er tut, von der Gesellschaft angeleitet zu werden». Je weniger er fähig ist, zu erkennen, dass seine inneren Konflikte «durch den Gegensatz zwischen seinen eigenen Wünschen und den Forderungen der Umwelt entstehen, um so mehr erwartet er von der Gesellschaft, dass sie ihm mit den Problemen, die sie ihm stellt, zugleich deren Lösung liefert»19. Für Bettelheim ein Teufelskreis: Wer sich erst einmal daran gewöhnt habe, äußere Entscheidungen von anderen treffen zu lassen, werde dies alsbald auch auf seine inneren Probleme ausdehnen. Und wer nicht mehr in der Lage sei, spontan und autonom auf die Launen des Lebens zu reagieren, der sei auch bereit, «kritiklos hinzunehmen, was andere ihm als Lösung anbieten»20.
Konfrontiert mit den eigenen Existenzängsten bleibe dem «Individuum» keine andere Wahl, als darauf zu hoffen, «dass die Mächtigen es schon richtig machen werden». Außerstande, sein eigenes Gewissen am eigenen Selbst oder der eigenen Vernunft zu orientieren und daran gehindert, an der Entscheidung über Dinge mitzuwirken, die für ihn von großer Bedeutung sind, untergräbt das Gefühl vollkommener Abhängigkeit nicht nur seine Selbstachtung, es intensiviert auch seine Ohnmacht – das Gefühl, «auf Gedeih und Verderb Mächten ausgeliefert zu sein, die der Mensch nicht verstehen oder zumindest in keiner Weise beeinflussen kann»21. Die Masse triumphiert über den Einzelnen. Erneut.
Aber wie lange noch?
Das ist die Frage. Luther mag es gelungen sein, mit seiner uneingeschränkten Gottesunterwerfung seine Zweifel bis zu einem gewissen Grade zum Schweigen zu bringen. Die Wurzeln seines Zwiespaltes schien er dennoch nie beseitigt haben zu können: Bis zu seinem Lebensende fielen ihn immer wieder neue Unsicherheiten anheim, die er dann durch erneute Unterwerfung bekämpfen musste22. Was aber ist das für ein Glaube, der einen im ewigen Kampf mit sich und der Welt zu halten vermag? Kann Freiheit auch zu einer Last werden, die den Menschen so schwer bedrückt, dass er ihr zu entfliehen versucht? Gibt es einen unvermeidlichen Teufelskreis, «der von der Freiheit in eine neue Abhängigkeit hineinführt? Macht die Freiheit von allen primären Bindungen den Menschen so einsam und isoliert, dass er unausweichlich in eine neue Knechtschaft hineinfliehen muss? Sind Unabhängigkeit und Freiheit gleichbedeutend mit Isolierung und Angst? Oder gibt es einen Zustand der positiven Freiheit, in dem der einzelne Mensch als unabhängiges Selbst existiert und trotzdem nicht isoliert ist, sondern mit der Welt, mit den anderen Menschen und mit der Natur vereint ist?»23 Ich frage mich: Wann hören wir auf, «der Last der Freiheit» zu entfliehen und gelangen von der negativen zur positiven, kurzum, zu unserer eigenen Freiheit?
Dieser Artikel erschien zuerst im Rubikon - dem Magazin für die kritische Masse.
Fromm, Erich (1979): Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft. Stuttgart (Dt. Taschenbuch-Verlag), S. 147f.
Furcht vor der Freiheit S. 24ff.
Ebenda, S. 182.
Ebenda, S. 7; 108f.
Ebenda, S. 287.
Ebenda, S. 80.
Ebenda, S. 111f.
Ebenda, S. 111f.
Ebenda, S. 248.
Ebenda, S. 111f.
Ebenda S. 121
Herzinger Republik, S. 7
Furcht vor der Freiheit, S. 117
Ebenda, S. 106.
Ebenda, S. 233.
Ebenda, S. 274f.
Ebenda, S. 200f.
Bettelheim, Bruno (1989): Aufstand gegen die Masse. die Chance des Individuums in der modernen Gesellschaft. Frankfurt am Main (Fischer-Taschenbuch-Verlag), S. 86f.
Ebenda, S. 89.
Ebenda, S. 87f.
Ebenda, S. 95.
Fromm (1979), S. 80.
Ebenda, S. 249.
Danke und Chapeau für so eine seltene tiefgehende Analyse. Mich wundert ehrlich gesagt, dass ihr Blog nicht mehr Resonanz erhält in solchen Zeiten. Ich habe Erich Fromm in den letzten drei Jahren vielen empfohlen, um sich selbst und ihre Zukunft/Vergangenheit zu reflektieren. Eines wurde aber meiner Meinung nach in den 3 Jahren viel zu wenig beachtet und einbezogen in solche Analysen. Wie unterschiedlich die Menschen doch sind und sein können/wollen. Sie schreiben von der "widersprüchlichen Natur des Menschen", dies gilt es sehr viel tiefer zu verstehen und zu analysieren, v.a. wenn man das Leid der Menschen minimieren will. Und damit meine ich nicht, dass die Psyche des Menschen durch verschiedene nachgewiesene genetische Prädispositionen zu doch recht verschiedener Ausartung fähig ist, die nur einen kleinen Teil aber eben nicht die Masse der Bevölkerung ausmachen (Eliten, Psychopathen, Egozentriker, "Sekten"führer vs. z.B. Individualisten wie Ted Kacynski, Clemens Arvay...), sondern dass z.B. nach Meyer-Briggs und den 16 Persönlichkeitstypen innerhalb der normalen Bevölkerung schon erhebliche graduelle und phänotypische Unterschiede der Psyche bestehen und die Bespielbarkeit deren Klaviatur durch Propaganda und psycholog. Konditionierung den Mächtigen sehr bekannt sind. Die letzten 3 Jahre sind nicht mehr als angewandte Massen- und Individualpsychologie nach dem Lehrbuch. Die psychologische Deformierung des Einzelnen ist das eigentliche Ziel, um so eine PsyOp erfolgreich durchführen zu können. Selbst denkgeschulten Physikstudenten im Hauptstudium fallen die schreienden Widersprüche der letzten drei Jahre nicht auf, obwohl das ihr Ausbildungsziel ist. Es ist also kein Problem der Intellektualtität, sondern der Ausprägung und Einstellung zur Wirklichkeit und Selbst und wieweit die eigene psychische Deformierung schon fortgeschritten ist. Ich habe mehr Einsicht und Akzeptanz in diese Widersprüche v.a. bei Menschen mit Liebe zur Natur, Motoradfahrern, INTJ-Typen, großer Neugierde und psychischer Autarkheit erlebt. Die psscholog. Deformierung ist zunehmend technologisch bedingt, wovor Kacynski schon vor Dekaden gewarnt hat und sich einsam in den Wald zurückzog, da ihm die Widerspruch der Verschmelzung von menschl. Psyche und Technologie (Transhumanismus) und sein Wachstum mit der Zeit und die kommende Dystopie klar war. Clemens Arvay war ein ähnlich naturverbundener Individualist aber auch Menschenfreund, der aber anscheinend den Widersprüchen zw. Selbst- und Fremdbild und seiner zukünftigen Rolle in so einer feindlichen Umwelt nicht mehr stand hielt. Ich will hier nicht ferndiagnostizieren, aber wenn man den Sozialpsychologen Fromm liest und versucht auf sich selber anzuwenden, ist es wichtig zu verstehen welcher Typ von Mensch man ist und vielleicht werden kann. Fromms Bücher sind vermutlich nicht die Heilung für alle Menschen, auch wenn man das hoffen möchte. Ein Persönlichkeitstest und der erfolgreiche seelisch gesunde autarke Lebensweg anderer ähnlicher Menschen kann ein erster wichtiger Schritt sein zur Selbststärkung und -findung. Manche Menschen können oder wollen Widersprüche nicht sehen oder ertragen, andere wie letztgenannte oder auch meine Wenigkeit beschäftigen sich beruflich oder als Mensch zum Wachsen daran ihr ganzes Leben damit, vielleicht auch nur weil sie sehr genaue Beobachter sind und darüber damit zwangsläufig konfrontiert werden und diese Widersprüche auflösen wollen/müssen. Eine erfolgreiche und zufriedene Beziehung, Familie, Gemeinschaft, Gesellschaft müsste sicherlich zum Ziel haben Widersprüche zu reduzieren im Zusammenleben oder sie nicht sichtbar werden zu lassen, ein widersprüchlicher Otto-Motor funktioniert nicht schlicht gesagt. In einer komplexen Massengesellschaft geht das nur sehr schwierig und nie vollständig, daher hat der Westen die Lüge perfektioniert, sie gerade zu seinem Geschäftsgeheimnis gemacht mit all den notwendigen Geheimdiensten und medialen und psychologischen Strippenziehern dafür. Der Widerspruch ist aber gleichwohl die größte Triebfeder jedes wissenschaftlichen Denkens und damit des Menschseins. Dies ist m.M. der Kern der widersprüchlichen Natur des Menschen bzw. der ganzen Menschheit. Bzw. die Frage, wie geht der einzelne oder die Gemeinschaft mit Widersprüchen um. Momentan ist die "Lösung" dafür Propaganda, Massenpsychologie und Technologie aus allen Rohren. In den letzten 3 Jahren haben viele Blogger im Widerstand dazu auch oft die "Wahrheit", Aufklärung, Gegenöffentlichkeit bemüht, statt evtl. die tieferen Ursachen des modus operandi der westl. Gesellschaften zu analysieren. Es gibt keine Wahrheiten mehr in den westlichen Zivilsationen, von der Virus- über Terror- zur Klimagefahr dient alles der Ablenkung von den eigentlichen Widersprüchen. Und ob dieses Geschäftsmodell ernsthaft in Frage gestellt werden kann und wird, ich meine auch bei Fromm herausgelesen zu haben, dass er eher skeptisch war, ob der westliche Mensch dazu fähig ist, selbst wenn er sich für das Sein entscheidet, einfach weil der INTJer anders als der ESFPer dazu neigt Widersprüche als interessant, bedrohlich, himmelschreiend einzustufen. Dies kann aus versch. Perzeption folgen die schon für Mann/Frau verschieden ist und wird intelletuell reflektiv noch verstärkt oder unterminiert. Leider waren Fromm die neuesten Ergebnisse dieser dispositionellen Unterschiede noch nicht bekannt zur Zwillings-, Savant, Autismus-, Genderforschung. Mich hätte interessiert, welche Analyse und Schlussfolgerung er dann heute ziehen würde. Vielleicht nicht Haben oder Sein 2.0, sondern "Wie mit Widersprüchen leben, eine Anleitung um Unglücklichsein" ;-) Eine Gesellschaft die das 21 Jhdt. Überleben will ohne dritten WK, wird wohl zumindest einen Weg finden müssen mit ihren Widersprüchen leben zu können und dies öffentlich kommunizieren zu können als dies bisher der Fall war. Und damit ist nicht der Widerspruch von kapitalistischen Leben und ökologischer Nachhaltigkeit gemeint den jeder einzelne westliche Mensch erfüllt, sondern dass 1% der Menschheit diese Widersprüche oft erzeugt durch ihr Verhalten/Konsum/Machtgier und vernebelt mit allen Mitteln. Wenn die Masse an ESFPer sich dafür aber nicht interessieren und lieber in kognitiver Dissonanz weiter zusammen schunkeln gemeinsam, weil Ihnen das Wir, pol. Korrektheit und Konformismus wichtiger sind als die psychologische Autarkheit eines INTJer, dann wird das 21. Jhdt. ein sehr langes und geschichtsträchtiges. Die Digitalisierung ändert wenig an der gesellschaftlichen Aufklärung und den psychologishcen Dispositionen, ja unterminiert sogar erstere mit ihren Mitteln, von daher ist die eigentlich spannende Frage ob eher der INTJer oder ESFPer nach dem 21 Jhdt ausgestorben sein wird wie der homo neanderthalis und welcher in der momentane Elite tonangebend und stärker ausgeprägt war. Es folgt das größte zivilisatorische Experiment der Menschheitheitsgeschichte im 21 Jhdt, davon muss man ausgehen leider. Leute wie Kacynski rufen dazu auf mit einer Anti-Tech Revolution dies abzuwenden, weil die Kollateralschäden vermutlich zigfach höher sein werden als bei Impfung und WK zusammen. Aber auch eher hat nicht einbezogen, ob die momentane psychologische Disposition der Gesellschaft überhaupt (noch) fähig und bereit ist für diesen Überlebenskampf. EDIT: Redundanzen im Text durch falsches copy/paste