Im Alter wird der Mensch entweder weise oder krank. Leicht ist keins von beidem. Das schwerste Los jedoch, so viel lässt sich sagen, gehört demjenigen, dessen Krankheit einem Mangel an Weisheit entstammt. Sie nämlich, die Krankheit einer nicht ausreichend gereiften Seele, gehört zu den weltweit gefährlichsten. Wer ihr anheimgefallen ist, gilt oft als unheilbar. Nicht körperlich, sondern geistig. Er gilt als besessen. Oft wird des Besessenen Taubheit und sein Verlust an Sehkraft und Humor deshalb auch nicht als Tragödie gewertet, sondern als logische Konsequenz der Unbelehr- wie Unbekehrbarkeit eines für die Dissonanz der Welt Verschlossenen. Indem das Leiden an ihr das Böse in der menschlichen Natur weckt, reizt sie dessen Zorn und Hass und macht ihn resistent für das einzige Mittel, das ihn aus seiner Beschränktheit noch hätte retten können: nicht Vernunft oder Empathie, sondern Mitgefühl. Die Rede ist vom Fanatismus.
Wahrnehmung
Ein Fanatiker, das wusste bereits Winston Churchill, «ist ein Mensch, der seine Ansicht nicht ändern kann und das Thema nicht wechseln will.» Er lässt sich, so Gerhardt Uhlenbruck, «schon aus Überzeugung nicht überzeugen.»
— Überzeugung oder Unvermögen? Nicht können wollen oder nicht wollen können? Während Aldous Huxley den Fanatiker – psychologisch gesehen – als Menschen definierte, «der bewusst einen geheimen Zweifel überkompensiert», verglich ihn der israelische Schriftsteller und vielfache Literaturpreisträger Amos Oz mit einem wandelnden Ausrufezeichen, das stets die Ansicht vertritt, es befinde sich im Recht und der Kompromiss sei nichts weiter als ein Zeichen von Schwäche.
Entfremdung
Der Fanatiker hat sich nicht nur selbst verloren, er hat sich selbst noch nie gefunden. Sein Bild von sich ist dominiert von dem Bild, das andere von ihm haben (sollen). Seine Außenwahrnehmung überwiegt seine Innenwahrnehmung. Einen anderen Umgang mit sich hat er nie mit auf den Weg bekommen. Deswegen erscheint ihm jedes Eingeständnis von Schwäche als unvereinbar mit dem geheimen Zweifel, den er zeit seines Lebens versucht zu kompensieren.
Identifikation
Auch für Amos Oz ist der Fanatismus keine Hybris der Starken und Von-sich-selbst-Überzeugten. Er ist die Krankheit der Nicht-an-sich-selbst-glauben-Könnenden. Gerade aufgrund der Verkehrung des eigenen Selbstbildes – und dessen folgeträchtigem Abhandenkommen –, so versucht Oz in seinem 2004 erschienenen Suhrkampbändchen Wie man Fanatiker kuriert voreilige Mutmaßungen geradezubiegen, entspringe er weder einem zu groß geratenen Ego, noch einem gesunden Selbstvertrauen, sondern dem unerfüllten Bedürfnis nach Einfachheit, Sicherheit, Verankerung, Autorität, Identifikation und Perfektion. Folglich seien seine Wurzeln, ganz gleich wo und wie auf der Welt er stattfindet, auch nicht im Außen zu suchen, sondern im Inneren, in jedem von uns.
Selbstgerechtigkeit
Für Oz steht fest: Genauso wenig, wie die seit Menschheitsgedenken andauernde Plage des Fanatismus einer fortwährenden Versklavung unter ein sich selbst überlebendes Dogma entspringt, denn einer kompromisslosen Selbstgerechtigkeit, die sich in ihrer Suche nach dem Selbst auf ewig selbst verfehlt1, entspricht auch die Meinung des Fanatikers, alles, das er als schlecht empfindet, vernichten zu dürfen, weniger einer mutwilligen Verblendung als einem «schlechten Gen»: Einmal zum Tragen gekommen, veranlasst die dem Fanatismus innewohnende Engstirnigkeit den von ihr Beschränkten dazu, von sich und seinem Innenleben Abstand zu nehmen und dafür andere zu ihrem – von ihm angenommenen – Wohl zu verändern. Was ihm fehlt, ist nicht das nötige Gerechtigkeitsempfinden, sondern das für dieses erforderliche Einfühlungsvermögen. So bleibt die Gerechtigkeit des Fanatikers eine ewige Tyrannei.
Übergriffigkeit
Beinahe unausweichlich besiegelt die Selbstgerechtigkeit des Fanatikers sein tragisches Schicksal: Den Versuch, sich selbst zu «retten», längst aufgegeben, versucht er sein eigenes «Scheitern» dadurch zu kompensieren, die ganze Welt zu retten. Unfähig, sich selbst zu greifen und sein Leben nach seinen Vorstellungen zu gestalten, sieht er seinen einzigen Hebel darin, nicht sich, sondern seine Mitmenschen nach seinen Vorstellungen zu formen, anstatt sie einfach sein zu lassen. Für Amos Oz erklärt ihn gerade das – ironischerweise – zur uneigennützigsten Kreatur: «Der Fanatiker ist ein ungemeiner Altruist. Oft ist der Fanatiker mehr an Ihnen interessiert als an sich selbst. Er will Ihre Seele retten, Sie erlösen, Sie von der Sünde befreien, vom Irrtum, vom Rauchen, vom Glauben oder Unglauben, er will Ihre Essgewohnheiten verbessern, Sie vom Trinken heilen oder von Ihren Wahlgewohnheiten. Dem Fanatiker liegt viel an Ihnen, er fällt Ihnen entweder permanent um den Hals, weil er Sie wahrhaft liebt, oder er will Ihnen den Hals umdrehen, sollten Sie sich als nicht erlösbar erweisen. Topografisch gesehen ist ‹jemandem um den Hals fallen› und ‹jemandem den Hals umdrehen› fast die gleiche Geste. So oder so ist der Fanatiker mehr an Ihnen interessiert als an sich selbst, aus dem sehr einfachen Grund, dass der Fanatiker nur ein sehr kleines Ego besitzt oder gar keines.»2
Zugehörigkeit
Wem es also gelingt, Sprecher von Gesprochenem zu trennen, der wird feststellen: Das Anliegen des Fanatikers ist primär kein destruktives. Er will die Welt vom Bösen befreien. Hinter seiner Übergriffigkeit liegt nicht mehr und nicht weniger als der infantile Wunsch nach Verschmelzung: Der Fanatiker ist einsam, fühlt sich isoliert. Gleich der riesigen Menge an Möchtegernjüngern in Monty Pythons «Das Leben des Brian», die auf Brians Ausruf «Ihr seid doch alle Individuen» nichts weiter antwortet als «Ja, wir sind alle Individuen!», wünscht sich auch der Fanatiker, Teil von etwas Größerem zu sein. Diesem nicht zwangsläufig zugehörig, aber zugeordnet, empfindet er sich als perfekt und die anderen nicht. Dabei ist es gerade dieses irrtümliche Gefühl von Identität, das den Fanatismus zu jenem gefährlichen Syndrom werden lässt, das Menschen dazu veranlasst, sich gegenseitig zu bekriegen: Beflügelt und verblendet von dem endlich in Erfüllung gegangenen Traum von Zugehörigkeit, denkt der Fanatiker mehr in Kategorien denn in Menschlichkeiten. Aufgrund seines mangelnden Mitgefühls und übermäßigem Spiegeln eigener Anteile ist er nicht an dir interessiert, so wie du bist, sondern einzig daran, wie du sein solltest, damit es dir besser geht – und das weiß er besser als du.
Integration
Trotz allem ist der Fanatismus kein unumstößliches Naturgesetz. Er entspringt einem Mangel an Liebe. Folglich können wir ihn zwar nicht besiegen, aber wir können ihn in Grenzen halten. Davon war Amos Oz überzeugt. Als Holocaustüberlebender, der beinahe seine ganze Familie an die Verbrechen der Nazis verloren hatte, wusste er um die Banalität des Bösen, die sich seit Jahrhunderten im menschlichen Unterbewusstsein festgesaugt zu haben scheint und dort immer wieder aufzukeimen vermag. Wohlwissend, das Geschehene nicht ungeschehen machen zu können, blieb Amos Oz nichts als der Blick in die Zukunft – stets mit einem Bein in der Erinnerung an das Geschehene. So mahnte er, als er 1992 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt, unter anderem mit folgenden Zeilen:
«Wie können wir aus der Vergangenheit Nutzen ziehen? Was kann Auschwitz den Lebenden heute noch bedeuten, über Schrecken, Schmerz und Schweigen hinaus? Vielleicht kann es neben anderem die dringliche Erkenntnis vermitteln, dass es das Böse gibt. Das Böse existiert nicht etwa in der Art wie ein Unfall, nicht wie ein unpersönliches, geschichtsloses soziales oder bürokratisches Phänomen, nicht wie ein ausgestopfter Dinosaurier in einem Museum. Das Böse ist eine allgegenwärtige Möglichkeit, um uns herum und in uns selbst. Vorurteil und Grausamkeit zeigen ihre schreckliche Gestalt nicht etwa in dem ständigen Zusammenprall zwischen dem netten, einfachen Mann auf der Straße und dem fürchterlichen politischen System. Der nette, einfache Mann auf der Straße ist häufig weder nett noch einfach. Vielmehr stoßen ständig relativ anständige Gesellschaften mit mörderischen Gesellschaften zusammen. Um es noch genauer zu sagen: Es besteht Grund zu der Sorge darüber, dass relativ anständige Menschen und Gesellschaften sich häufig feige verhalten, wenn sie sich rücksichtslosen und grausamen Menschen und Gesellschaften ausgesetzt sehen. Kurz, das Böse ist nicht etwa ‹da draußen› – es lauert im Inneren, manchmal lustigerweise hinter der Maske der Hingabe oder des Idealismus.»3
Akzeptanz
Gerade in Bezug auf «die Geschichte» scheint Oz «verstanden» zu haben: Das «Böse» als solches lässt sich nicht aus der Welt schaffen. Die Kunst und Aufgabe unserer Zeit liegt darin, es zu integrieren. Es ist an uns, das Gleichgewicht in der Welt – sowie in uns selbst – wieder herzustellen. Oder eher gesagt: Die – dem eigentlichen Gleichgewicht innewohnende – Ungleichgewichte im Zeitgeschehen als die Harmonie, die sie letztendlich sind, anzuerkennen. Denn genau wie alles Lichte auch seinen Schatten wirft, kannte auch Amos Oz die Schwächen wie die Chancen und Möglichkeiten der menschlichen, oft in sich selbst gefangenen, Widersprüchlichkeit. So präzisierte er den vorhergegangenen Teil seiner Rede mit folgenden Fragen:
«Wie kann man aber human sein, also skeptisch und moralischer Zwiespältigkeit fähig und gleichzeitig versuchen, das Böse zu bekämpfen? Wie kann man gegen Fanatismus angehen, ohne fanatisch zu werden? Wie kann man für eine edle Sache kämpfen, ohne zum Kämpfer zu werden? Wie kann man Grausamkeit entschieden bekämpfen, ohne sich selbst anzustecken? Wie kann man aus der Geschichte Nutzen ziehen und gleichzeitig die giftigen Auswirkungen einer Überdosis Geschichte vermeiden?»4
Liebe
Gleich zu Beginn seiner dreiteiligen Vortragsreihe Wie man Fanatiker kuriert war es Amos Oz ein Anliegen, Folgendes klarzustellen: «Ich bin nicht gegen die Liebe, ich bin nur dagegen, Liebe und Frieden zu verwechseln, denn eine solche Verwechslung ist immer sentimental.»5 Sprich: Kein Frieden wird jemals anhalten, geschieht er nicht aus Liebe. Was aber ist Liebe? Für Amos Oz ist Liebe die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen. Liebe ist, den anderen als das zu verstehen, als was er sich versteht, selbst wenn man selbst ihn nicht versteht. Dafür braucht es Wahrnehmung. Und Akzeptanz. Liebe ist Akzeptanz und gleichzeitig Neugierde für das Gegenüber. So wie es ist. Und so wie es auch sein darf. Das macht Neugierde für Oz zum Gegenpol jedes Extremismus. Wer aufhört, neugierig zu sein, der wird – langfristig gesehen – entweder fanatisch oder zynisch.
Humor
Apropos Zynismus: Als weiteres Mittel gegen Fanatismus zählt Amos Oz den Humor. In seinem ganzen Leben habe er niemals «einen Fanatiker mit Sinn für Humor gesehen, noch habe [er] jemals gesehen, dass ein humorvoller Mensch zum Fanatiker geworden wäre, außer, der- oder diejenige hätte seinen Sinn für Humor verloren.»6 Während nämlich die Fähigkeit, über sich selbst zu lachen, bereits sehr heilsam wirke, sei – so Oz – «die Fähigkeit, uns selbst so zu sehen, wie andere uns sehen, eine andere Medizin.»7 Humor überbrücke nicht nur die Begabung, sich in den anderen hineinversetzen zu können – «die Halbinseln anzuerkennen», auf denen wir unser individuelles Dasein pflegen, – er helfe, «in Situationen zu existieren, die einen ungewissen Ausgang haben, ja, diese selbst zu genießen und zu lernen, die Vielfalt zu genießen». Oder anders gesagt: Wer Humor hat, der weiß um die Wahrscheinlichkeit eines Witzes, den niemand lustig findet, außer man selbst. Wer Humor hat, weiß, wie unterschiedlich Menschen sind. Und wer keinen Humor hat, dem empfiehlt Oz Shakespeare, Gogol, Kafka, Faulkner oder den israelischen Dichter Yehuda Amichai.
Heute
Die vergangenen drei Jahre haben so einiges zum Vorschein gebracht. Einerseits, wie wenig wir (als Gesellschaft) bereit sind, über Dinge hinwegzusehen, die gegen unser eigenes Weltbild und gegen unsere eigene Meinung «verstoßen». Man könnte auch sagen, die vergangenen drei Jahre haben gezeigt, wie humorlos wir sind und wie ernst wir uns gleichzeitig selber nehmen. Indessen hat der stattgefundene «Diskurs» zutage gebracht, welch geringer Prozentsatz an Menschen dazu in der Lage gewesen ist, möglichen Abweichungen des jeweiligen Gesprächspartners gegenüber auch nur einen Hauch an Offenheit einzuräumen, geschweige denn, ihm fünf Minuten einfach mal nur zuzuhören. Ich glaube, die meisten Menschen haben ohnehin vergessen, was das bedeutet. Oder sie haben es nie gelernt. Bei den Gesprächsgrätschen, die ich erleben durfte, mag man dies jedenfalls manchmal meinen. So kenne ich zum Beispiel (bis auf eine Person, die nachträglich dann aber auch heimlich mit Kühlschrank und Waschmaschine ausgezogen ist) niemanden, der in den vergangenen drei Jahren ernsthaft und ehrlich daran interessiert war, mehr über meine Beweggründe zu erfahren. Die meisten, so war zumindest mein Eindruck, haben mich nur noch unter bestimmten Begriffen gedacht, und nicht mehr als die Freundin, die ich vielleicht einmal für sie war. Was ja auch insofern nicht schlimm ist, wenn im Nachhinein keine Verurteilungen gekommen wären. Generell begannen die meisten von mir erlebten Gespräche mit Moralpredigten, worauf die Wiedergabe blind übernommener und (bis dato) unhinterfragter Floskeln aus Politik und «der Wissenschaft» folgte, sowie Anschuldigungen, die es mir beim Gedanken an eine erneute Kontaktaufnahme kalt den Rücken herunterlaufen lassen. Denn bei aller Freundschaft und Sympathie: Raum für ein Verstehen-Wollen gab es nie (reimt sich ungewollt). Dabei ist unser Angstradar, gleich unser Sinn für Freiheit und Humor, höchst individuell. Dass man letztendlich zu anderen Schlüssen, sprich «Meinungen» kommt, ist daher vollkommen natürlich. Einen Austausch aber, der auf beiden Seiten eine vollends eigenständig gebildete Sicht der Dinge voraussetzt und auch nur einen Hauch an Einfühlungsvermögen beiderseits sowie dementsprechender Toleranz (und Neugier) für die jeweils unterschiedlichen Ängste beinhaltete, habe ich so dennoch nicht erlebt. Leider.
Jetzt
Allgemein macht es mich traurig, wie zementiert unser «Miteinander» ist von Kategorien. «Geimpft», «ungeimpft», «kritisch», «nicht kritisch», «wach», «nicht wach», «gegen Überwachung», «für mehr Sicherheit und damit für mehr Überwachung», «für den Chip im Handgelenk (oder Hirn) und damit progressiv und woke», «für Bargeld und damit Nazi und rechts» sowie, nicht zu vergessen, «gegen Menschenhandel» vs. «ich hab von nichts eine Ahnung, informiere mich über absolut gar nichts, habe aber trotzdem eine unumstößliche und über alles erhabene Meinung». Die Liste könnte man endlos fortführen. Und damit noch mehr Kategorien in den Köpfen der Menschen entstehen lassen.
Wer Kategorien braucht, um selber existieren zu können, schön und gut. Als ich Anfang Januar 2021 mit sieben wundervollen, mir bis zu dem Augenblick jedoch vollkommen fremden, Menschen eine Woche in Schweden verbringen durfte, wusste ich bis einschließlich Ende dieser sieben Tage nicht einmal den Beruf der mir ans Herz Gewachsenen. Es gibt so viel mehr, was uns verbindet. Humor zum Beispiel.
Danke Gunnar.
Oz, Amos (2004): Wie man Fanatiker kuriert. Tübinger Poetik-Dozentur 2002. Frankfurt am Main (Suhrkamp), Seite 45.
Ebenda, Seite 50.
Oz, Amos (1992): Rede des Friedenspreisträgers Amos Oz am 4. Oktober 1992 in der Paulskirche Frankfurt am Main. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Rheda-Wiedenbr (Bertelsmann-Club), Seite 55.
Ebenda.
Oz (2004), Seite 9.
Ebenda, Seite 55.
Ebenda, Seite 56.
Ich liebe deine Artikel, liebe Lilly❤️❤️
ich habe mich das letzte Jahr auch gefragt, wie er wohl mit seinem Jugendfreund Netanyahu disputierte