Gefühle der Leere. Ihnen einmal anheimgefallen, vermag uns nichts und niemand mehr zu entflammen. Wir sind ausgebrannt. Und doch lodert in uns eine Sehnsucht, die größer ist als alles, das wir uns je hätten erträumen können: die Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit. Nach Heimat. Nach etwas, das größer ist als wir selbst, das unsere Leere nicht nur füllt, sondern uns zu er-füllen vermag.
Leere – so schreibt Anselm Grün in seinem neuesten Buch «Von der Kunst, Leere in Fülle zu verwandeln»1 – das ist «der Schrei der Seele nach Gott». Erst in seiner «Abwesenheit» könnten in uns jene Zustände heranwachsen, die sie überhaupt erst ermöglichten: Sinnlosigkeit und Erschöpfung. In dem Verlust unserer Spiritualität im Sinne unserer Verbindung zum Göttlichen besteht für ihn die Urerfahrung unseres Leidens. Wir fühlen uns getrennt von uns selbst, aber auch von der Welt.
Doch was machen wir nicht alles, um uns unserer Abgespaltenheit nicht bewusst zu werden: Wir stürzen uns in die Ablenkung, fokussieren uns auf die Probleme anderer, anstatt uns mit unseren eigenen auseinanderzusetzen. Wir flüchten uns in Drogen oder Aktivismus und fühlen uns ertappt, wenn jemand die Begründungen, mit denen wir unser Tätigsein rechtfertigen, als Vorwände entlarvt: «Die anderen brauchen mich, ich bin so wichtig für die anderen, ich kann ihnen so viel Gutes tun.»
Für Grün führt kein Weg daran vorbei, unsere Motive, uns der Welt zuzuwenden, dahingehend zu prüfen, ob hinter ihnen wirklich Liebe und Hingabe an andere steht, oder nur die Flucht vor der eigenen Leere. Die Unfähigkeit des Menschen, «Leerzeiten» auszuhalten, sei schlussendlich nichts weiter als der Wunsch, von falschen Selbstbildern, vom eigenen Ego, das uns ständig antreibt, frei zu werden und stattdessen mit unserem wahren Selbst in Berührung zu kommen. Zwecks ihrer Auflösung sieht Grün nur einen Weg: die Konfrontation mit unserer eigenen Wahrheit. Erst wenn wir unsere innere Leere verstehen, können wir uns von der Illusion befreien, uns zuerst «beweisen» zu müssen, ehe wir eine tiefe Verbindung zu Gott spüren könnten. Dabei bestünde diese, so Grün, gerade darin, nichts mehr zu müssen, und uns stattdessen anzunehmen als die, die wir sind.
Die für diese Selbstwahrnehmung benötigte Ruhe fänden wir nach Grün beispielsweise im Gebet oder in der Meditation. Diese verstünden schließlich auch viele Mönche nicht als Müßiggang, sondern als Muße: Gebet, das sei in erster Linie Begegnung. Gott können wir nur begegnen, wenn wir uns selbst begegnen. Folglich gehe es in der Stille des Gebets darum, uns unsere Leere einzugestehen und uns mit unserem inneren Chaos, unseren Zweifeln und unserer Gottesferne dafür zu öffnen, dass er mit seiner heilenden und verwandelnden Liebe in unsere Wirklichkeit hineinströmt.
Wer Muße hat, so Grün, der lebe in Frieden mit der Welt. Frei nach dem geistigen Grundsatz, dass nur, was wir anschauen, auch verwandelt werden kann, bestünde dieser für jeden Einzelnen darin, freizulegen, was seine eigene Wahrheit, sein wahres Selbst verdeckt; sich von allen Gedanken und Bildern zu entleeren, um so leer zu werden für das Göttliche. Dieses könnten wir, so Grün, solange nicht spüren, wie wir uns selbst nicht spürten. Solange wir uns selbst gegenüber nicht in die Liebe kämen, uns nicht als Teil von etwas Größerem verstünden, blieben wir in der Abspaltung.
Unsere eigene Wahrheit, die könnten wir nur aushalten, wenn wir uns erlaubten, dass alles in uns sein darf; wenn wir aufhörten, das, was in uns ist, zu bewerten und es stattdessen zuzulassen. Erst in dieser neugierigen Innenschau, in der wir das, was in uns auftaucht, in Beziehung zu Gott brächten, öffne sich der Raum, in dem es kein Getrenntsein mehr gibt und den wir entsprechend auch durch nichts mehr füllen wollen. Wir sind eins mit unserem wahren Selbst.
Dieser Text erschien zuerst im Schweizer Magazin «Die Freien».
Anselm Grün: «Von der Kunst, Leere in Fülle zu verwandeln», 2024, 128 Seiten, Vier Türme.
Liebe Lilly,
auch dieser Text von Dir trifft mich "mitten hinein". Er beschreibt exakt, was ich auch erlebe/erlebte. Ja, schon länger sind mir diese Zusammenhänge bewusst geworden. Aber ich erinnere mich noch sehr gut an die Zeiten, als es nicht so war. Große Leere mein Herz erfüllte und ich nicht wusste (intuitiv wohl ahnte... doch die Intuition noch nicht so richtig wahrzunehmen vermochte), warum und was dagegen tun. So tappte ich zunächst in einige Fallen, begab mich in Einbahnstraßen. Auch das brachte mich letztlich weiter, wenn auch auf eine schmerzhafte Weise... Brachte mich in den Raum des Friedens (der Fülle).
Nein, der Raum der Leere WURDE in diesem Prozess zum Raum des Friedens, zum Raum, in dem die All-Liebe allgegenwärtig ist. Der Raum des nondualen Bewusstseins. Die Verbindung mit Gott spüre ich, wenn ich mich dort hinein begebe - mein Bewusstsein dorthin lenke. Das gelingt gut in der Stille der Natur. In Konzentration auf das Grillen der Zirpen z. B. oder auf das Zwitschern der Vögel ist es geradezu einfach. Wenn die Welt, und die Menschen darin, laut um mich toben, gelingt es nicht immer... Vor allem dann nicht, wenn eine Situation mich emotional sehr fordert und mein Nervensystem mich in diesen Emotionen "gefangen" hält. Solche Situationen eignen sich dann, um im Nachhinein genauer untersucht zu werden. So entsteht peu à peu Wachstum.
Alles Liebe für dich ♥️ und hab Dank für diesen schönen Text 🙏
Danke. Was du von Grün nacherzählst, spricht mich sehr an, auch der Buchtitel.
Just vor ein paar Stunden las ich im Buch von Charles Ridley "Präsent in der Stille - Wie der Körper Bewusstsein und Liebe vereint" (ein Buch über Craniosacrale Arbeit) und zitiere daraus:
"Ausgehend von einer nichtdualen Haltung verbindet sich deine Empfindung mit der unerschütterlichen Stille und drückt sich als diese aus; daher existierst du als Bewusstsein, das im ganzen Körper Empfundenes nicht getrennt erlebt, sondern bezeugt. (...)
Da du nicht länger mit dir selbst im Krieg bist, strahlt deine körperliche Präsenz Gesundheit und Ganzheit aus, nämlich Liebe. Du bist und du lebst in der Ganzheit als beides, als ein begrenzter Mensch und als ein grenzenloses Urbewusstsein. Diese nahtlose Ganzheit bezeichne ich als Gesundheit. (...)
Dies Gesundheit zu nennen - oder wie immer man es nennen möchte - ist missverständlich, weil diese Qualität in deinem Körper als die leuchtende Grundlage der Stille fortbesteht, aus der das ganze Leben hervorgeht, spielt, trägt und wieder zurückweicht. Du spürst den Klang der Stille, der immerwährend im Hintergrund flüstert, und seine zeitlose Qualität ist immer präsent, besonders wenn deine Gedanken ruhig und still sind. Dein Bewusstsein für Stille erweckt in dir eine neue Lebendigkeit und transmutiert deine Wahrnehmung, vom Leben getrennt zu sein - deine Einsamkeit - in ein Verbundensein mit dem Leben, als Alleinsein bzw. Einssein. Beides, Vielfalt und Alleinsein, werden deine ständigen Begleiter, die mit einer unerschütterlichen Stille verbunden sind, die du als innere Abgeschiedenheit erlebst. Polaritäten bestehen nebeneinander, sind nicht länger gegeneinander gerichtet, das Paradoxe löst sich auf und der Krieg endet.
Hier findest du tiefe Ruhe. Aktivität kehrt zu Stille zurück und Stille drückt Aktivität aus; alles in der Peripherie hat eine Beziehung zum Zentrum, und aus dem Zentrum strahlt das Leben in die unendliche Peripherie und wieder zurück zum Zentrum: Das ist das Neutral, worin sich das Leben reibungslos anfühlt.
Wenn du ein nichtduales Bewusstsein hast, bist du so entspannt, dass du mit dem Leben, wie es ist, nicht diskutierst."