Nicht richten, sondern verstehen.
Über den Weg des Friedens und die Vereindeutlichung der Welt.
Vor mittlerweile fast zwei Monaten bekam ich beim Frühstück im Hotel am schönen Luganersee ausnahmsweise mal eine Ausgabe der NZZ in die Hände. Im Meinungsteil fand ich einen Gastkommentar des ehemaligen Diplomaten (unter anderem für Russland) wie Präsidenten der Bundesakademie für Sicherheit Rudolf G. Adam: »Drei Katastrophen — sechs Lektionen«1. Ohne der Argumentation dieses Kommentars an dieser Stelle groß Aufmerksamkeit schenken zu wollen, ist es die Schlussfolgerung Adams, die bei mir die meisten Fragezeichen aufgeworfen hat. Er schreibt:
»Frieden ist die Frucht der Gerechtigkeit. Gerechtigkeit setzt voraus, dass ein neuer Konsens über Werte und Regeln entsteht. Nur wenn die Wirklichkeit in vereinbarer Weise beschrieben wird und über grundlegende moralische und rechtliche Prinzipien Einigkeit besteht, kann Krieg beendet werden. Argumente sind wie Hebel: Sie setzen einen Fixpunkt voraus, von dem aus sie überhaupt erst Wirkung entfalten. Deshalb sind gemeinsame Bezugspunkte unerlässliche Voraussetzung für Toleranz und Frieden.«
Und weiter:
»Solche gemeinsamen Bezugspunkte findet man in der Vergangenheit. Deshalb sind Geschichtsbücher so wichtig. Wo das eigene Narrativ glorifiziert, das des Gegners hingegen verteufelt wird, lässt sich kein Ansatzpunkt für Verständigung finden. Der Entschluss, gemeinsame Geschichtsbücher für den Schulunterricht mit seinen Nachbarn und ehemaligen Kriegsgegnern zu erarbeiten, war die wirksamste Friedenspolitik, die Deutschland je befolgt hat.«
Mal davon abgesehen, dass die deutschen Geschichtsbücher bezüglich der eigenen Missetaten2 bis heute große blinde Flecken aufweisen, ist es mehr die These, dass »Gerechtigkeit allein durch Konsens entstünde«, an der ich mich störe. Denn zweifelsfrei: Wir brauchen »Verständigung«, um uns gegenseitig nicht weiter zu zerfleischen. Und dass eine Einigung über grundlegende moralische und rechtliche Prinzipien viel Leid in dieser Welt verhindern würde, steht ebenfalls außer Frage. Doch besteht die Lösung wirklich darin, anderen Ländern (weiterhin) unsere Wirklichkeit – und damit auch unsere Wahrheiten – aufzuzwingen? Haben wir aus Afghanistan, dem Irak, den Jahrhunderten an Kolonialherrschaft in Afrika oder der Vertreibung indigener Völker in Amerika oder dem Amazonas gar nichts gelernt? Gilt es nicht allmählich anzuerkennen, dass jedes Land – auch Deutschland – seinen eigenen Entwicklungspfad hat, den es braucht, um zu einer Einsicht von Moral zu gelangen, die gilt – eben weil sie der eigenen Reflexion und Erkenntnis entspringt?3
Die Vereindeutlichung der Welt
Wir dürfen nicht den Fehler machen, Verstehen mit Verständnis gleichzusetzen. Kultur entsteht nicht durch Gleichheit, sondern durch Differenz. Diese Differenz bildet einen Fixpunkt, aus dem heraus sich Werte erschließen. Und diese Werte wiederum begründen die Identität einer ganzen Nation. Versuchen wir sie zugunsten einer »besseren«, »höheren«, »richtigeren« Wirklichkeit anzugleichen, betreiben wir das Gegenteil dessen, was wir vorgeben zu verkörpern: Toleranz. So richtig und wichtig »gemeinsame Bezugspunkte« nämlich auch sein mögen, — wenn für sie Kulturen, kollektive Erinnerungen wie Bewahrungsmechanismen des Eigenen gebrochen werden, haben wir direkt den nächsten Krieg geschaffen. Einen Krieg im Inneren.
Dieser Versuch der »Vereindeutlichung der Welt« ist in meinen Augen Ursache und Symptom des gleichen Problems: unserer Unfähigkeit Komplexität auszuhalten. Wir müssen uns nicht mit allen verstehen. Und Krieg entsteht auch nicht aus dem Grund, dass zwei unterschiedliche Meinungen vorherrschen. Krieg entsteht, wenn der Mensch nicht dazu in der Lage ist, diese zwei Meinungen (Weltanschauungen, Religionen, Wertvorstellungen) nebeneinander stehen zu lassen, ohne den anderen von der Richtigkeit seiner eigenen überzeugen zu wollen. Krieg entsteht, wenn es uns nicht genügt, in unserer Wahrheit zu leben. Krieg entsteht, wenn wir nur dann in unserer Wahrheit leben können, wenn alle anderen auch in unserer Wahrheit leben. Krieg entsteht, wenn es nur eine Wahrheit geben kann.
Die Bereitschaft zum Töten
»Der Krieg ist scheinbar nie genug, der Frieden immer.« — Eugen Drewermann4
Keine Frage; Krieg ist weitaus komplexer, als dass man ihn auf die Unfähigkeit zu Meinungspluralismus und ihre Dualität von Gut und Böse reduzieren könnte. Den Fanatismus als reduktionistische und sich damit fortwährend selbst antreibende Kraft zu vernachlässigen, halte ich jedoch nicht nur für fahrlässig, sondern für gefährlich und dumm. Und damit bin ich nicht allein: Eine, wenn nicht die zeitgenössische Stimme, der es sich diesbezüglich zu lauschen lohnt, heißt Eugen Drewermann.
Nicht nur in seiner bereits 1991 erschienenen Schrift »Reden gegen den Krieg«, sondern auch in seinen zahlreichen Vorträgen trifft er – wie von ihm gewohnt – einen Nerv, der durch Mark und Bein zu gehen vermag. So bedeutet Terrorismus im Sinne des Krieges für Drewermann nicht nur «die Entseelung des Körpers zur bloßen Marionette»5, — er ist »der verzweifelte Versuch, aus der Position der Ohnmächtigen heraus etwas durchzusetzen, was erkennbar mit Rechtsansprüchen verteidigt zu werden verdient.«6 Für Drewermann ist klar:
»Mit Gewalt dient man nicht der Gerechtigkeit, mit Krieg dient man nicht dem Frieden, und mit dem Töten von Menschen dient man nicht dem Leben. Nicht der Pazifismus Gandhischer Prägung ist tot, tödlich ist der Stahlhelmpazifismus deutscher Politiker im Dienste der NATO. Der Weg in den Krieg ist psychologisch immer derselbe: In einer komplizierten geschichtlichen Situation vereinfacht man die Wirklichkeit in dem simplen Schema von Gut und Böse, dann ordnet man die Schuld einseitig einer Seite zu, und dann personifiziert man das Böse in einer einzigen Person. Die muss man dann bekämpfen wie Sankt Michael den Teufel.«7
Das 20. Jahrhundert habe uns, so Drewermann, gelehrt, »dass die Mächtigen keinerlei moralische Skrupel gezeigt haben, die Instrumente des Todes und die Bereitschaft zum Töten ins Grenzenlose auszudehnen«8. Doch anstatt im Kampf gegen die Unmenschlichkeit dieser selbst anheimzufallen, gehe es vielmehr darum, den Mechanismus zu begreifen, der hinter dem Wahn von Rassismus und Militarismus steckt. Habe man ihn verstanden, werde »man den gemeinsamen Kern von beiden bemerken und erkennen, dass man mit militärischen Mitteln den Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt, von Terror und Gegenterror niemals entkommen wird. Statt die Welt mit immer monströseren ›Waffen‹ ›sicherer‹ zu machen, breitet sich das Feld der Instabilität und der wechselseitigen Bedrohung nur immer weiter aus.«9 Oder noch etwas konkreter: »Mit der NATO ist kein Frieden möglich, weil er nicht sein soll.«10
Mit einem 7-tägigen kostenlosen Probeabonnement weiterlesen
Abonnieren Sie Treffpunkt im Unendlichen, um diesen Post weiterzulesen und Sie erhalten 7 Tage kostenlosen Zugang zum gesamten Post-Archiv.