Die Schule der Diktatoren
Das Wort zum Sonntag: Wie man die Inexistenz einer heilen Welt erträgt.
«Sie erfuhren, am deutschen Beispiel, dass sich der Mensch, unter Beibehaltung seiner fotografischen Ähnlichkeit, bis zur Unkenntlichkeit verunstalten lässt. Dressierte Hunde, auf den Hinterbeinen hüpfend und in Puppenkleidern, wirken abscheulich genug – aber der dressierte, seine Würde und sein Gewissen apportierende, der als Mensch verkleidete Mensch ist der schrecklichste Anblick.» — Erich Kästner, Die Schule der Diktatoren
Mit diesen Worten leitete Erich Kästner 1956 seine «Schule der Diktatoren» ein. Ein Porträt über jenen Menschen, den «sein Zerrbild eingeholt» hat. Zwanzig Jahre nach den Bücherverbrennungen waren der Dresdner und viele weitere zwar «um alle Hoffnungen ärmer und um eine Erfahrung reicher», und doch kannte niemand von ihnen die Antwort auf die Frage danach, wie und weshalb manche Menschen ihre Würde und ihr Gewissen zu Apporte trugen, wussten andere, die ihre vor diesem Kunststück zu bewahren.
Wieso bleibt der eine Mensch, während der andere seine Menschlichkeit verliert? — an und durch andere Menschen. Wie kommt es, dass der eine lieber sterben würde, als jemand anderes zu töten, während jener andere jeden töten würde, nur um selbst zu leben? Und warum ist jenes «Überleben» für ihn wichtiger, als für den anderen sein Gewissen und Seelenheil? Was holen Not, Krieg und Verbrechen aus manchen Menschen raus, als dass sie zwar nicht sich, dafür aber ihre Menschlichkeit vergessen? Und obendrein auch ohne sie weiterleben zu können scheinen.
Anders als Kästner war der Chemiker und Widerstandskämpfer Primo Levi (anbei mein Text zu Levi) nicht «nur» Emigrant im eigenen Land, sondern Überlebender des Holocaust. Auch er versuchte seine Erfahrungen in Auschwitz später als Schriftsteller zu verarbeiten. Denn gleich auch er die Möglichkeit des Menschen zum totalitären Gehorsam mit eigenen Augen miterleben musste, beobachteten diese zugleich das, was später gemeinhin unter dem Begriff «Resilienz» bekannt werden sollte: Jeder Mensch, so Levi, verfüge nur über eine bestimmte Kraftreserve, deren Ausmaß er weder kennen, noch in ihrer Neige einzuschätzen vermochte. Deshalb könne auch «niemand wissen, wie lange und welchen Prüfungen die eigene Seele zu widerstehen vermag, ehe sie sich beugt oder zerbricht»1.
Es waren Augenblicke der Menschlichkeit in Zeiten tiefster Unmenschlichkeit, die Levi später zu der Frage veranlassten, warum es selbst im Anbetracht von Gaskammern und Verbrennungsöfen noch Menschen gab, die sich ihren Sinn für menschliche Zugehörigkeit selbst dann nicht nehmen ließen, galt als Grund für ihr Leiden – also die Tatsache, dass man sie wie Vieh auf die Schlachtbank zu führen vermochte – gerade die Nichtvorhandeinheit dieser? Die Inexistenz einer heilen Welt waren sie nicht nur im Stande zu ertragen – in der Sinnlosigkeit der ihnen entgegengebrachten Gewalt fanden sie die Kraft und Stärke, die es ihnen ermöglichte, erschöpft, aber sich ihrer eigenen Würde bewusst, jene Zeit menschlicher Abgründe zu überdauern, ohne dabei sich selbst zu verlieren. Sie wussten um die «Logik» ihrer Täter, das Opfer erst erniedrigen zu müssen, um das Gewicht ihrer eigenen Schuld nicht so sehr spüren zu müssen2.
Darin zumindest bestand auch gemäß Viktor E. Frankl das Geheimnis derjenigen, die Auschwitz nicht nur körperlich, sondern allem voran auch seelisch überlebten: So sehr sie auch als solche behandelt wurden – sie selbst erlebten sich nicht als Opfer. Sie waren Menschen. Nicht vom Kopfe her, sondern aus dem Herzen heraus. Und das war auch der Grund, warum es für die auch nach Auschwitz noch ein Leben möglich war: Ihre Körper und Köpfe konnten sie schinden und terrorisieren. Ihre Herzen jedoch blieben unversehrt von den Zuschreibungen, mit denen man sie versucht hat zu brechen – als Menschen. Als solche war ihre Würde unantastbar – nicht, weil man sie ihnen gewährte, sondern weil sie ihnen niemand nehmen konnte außer sie selbst.
Ebenfalls anhand jener Erfahrung innerer Unversehrbarkeit angesichts größten Leids entwickelte Frankl später seine Logotherapie – eine sinnzentrierte Psychotherapie. Ihre Grundidee findet sich vor allem in seinem bekanntesten Werk «…trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager». In ihm führt Frankl aus, wie er im Gegensatz zu Adler und seinem Machtstreben oder Freuds’ Lustprinzip den Sinn des Lebens als das zentrale Motiv des Menschen betrachtete. Menschen strebten nicht nach Erfolg oder Kontrolle, sondern nach einer sinnerfüllten Existenz, so Frankl. Was einen Menschen wahrhaft erfülle und entsprechend zu seiner Sinnfindung beitrage, könne niemals von außen, sondern müsse allein von innen kommen. Der Mensch selbst sei es, der seinem Leben einen Sinn geben müsse. Darin allein bestünde seine Aufgabe: Zu erkennen, dass – so extrem auch seine Bedingungen – aller Schmerz erträglich wird, wenn er nur mit einem tieferen Sinn verbunden wird. Dass sich diesen Sinn jedoch einzig und allein er selber verleihen kann.
In dieser inneren Haltung bestünde laut Frankl die wahre und einzige Freiheit des Menschen: seine eigene Haltung zum Leiden frei zu wählen. Ungeachtet aller äußeren Umstände frei entscheiden zu können, wie er auf sie reagiert. Wobei es für Frankl eben genau dieser «Raum zwischen Reiz und Reaktion» war, in dem unsere «Macht zur Wahl unserer Reaktion» und entsprechend unsere «Entwicklung und unsere Freiheit» lägen, «trotzdem Ja zum Leben zu sagen». Gerade in Extremsituationen, in denen dem Menschen alles genommen werden kann – Besitz, Sicherheit, körperliche Unversehrtheit – bleibe ihm diese letzte Freiheit: die Wahl, wie er sich zu seinem Schicksal stellt. Darin sah Frankl nicht nur einen Akt des Widerstands gegen das bloße Funktionieren oder Getriebensein, sondern auch den Kern wahrer menschlicher Würde. Es sei diese Fähigkeit, über das bloße Reagieren hinauszugehen und selbst in größtem Leid Sinn zu entdecken, die den Menschen über sich selbst hinauswachsen lässt. So werde der Mensch nicht zum Opfer der Umstände, sondern zum Gestalter seiner inneren Welt – und damit letztlich auch seiner Zukunft.
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An dieser Stelle unterschied Frank «Drei Wege zur Sinnfindung»:
Schöpferische Werte wie Arbeit, Kunst und Schaffen
Erlebniswerte wie Liebe, Natur und Begegnungen
Einstellungswerte wie die innere Haltung zum Leid durch beispielsweise Akzeptanz und Würde
Wem es nicht gelinge, durch eine dieser Kategorien Sinn zu erfahren, der erlebe laut Frankl ein «existenzielles Vakuum» – eine innere Leere, die von Frustration zu Sucht, Depressionen oder Aggressionen reichen könne. Symptome, an denen moderne Gesellschaften besonders litten, verlören ihre traditionellen Werte doch zusehends an Bedeutung und böten ihre modernen «Errungenschaften» nichts, durch das sich wahres Menschsein leben ließe. Da ist nichts, und das sind jetzt meine Worte, was die Seele nährt. Stattdessen versucht der Mensch, diese innere Leere durch Zerstreuung, Konsum oder Leistungsstreben zu überdecken – ein letztendlich rastloses Streben, in dem er nie die tiefere Erfüllung finden wird, die er eigentlich zu suchen meint.
Entsprechend beschreibt auch Frankl, wie diese Sinnkrise nicht nur den Einzelnen, sondern ganze Gesellschaften erfassen kann: Wenn äußere Maßstäbe und kurzfristige Befriedigung an die Stelle einer tieferen, sinnstiftenden Orientierung träten, und sich der Mensch in einer Welt wiederfände, die ihm immer mehr Möglichkeiten bietet, gleichzeitig jedoch immer weniger Antworten auf die Frage nach dem «Wofür?», sei es umso wichtiger, nach eigenen Maßstäben zu suchen – nach einer Aufgabe, einer Verbundenheit oder einem tieferen Zweck, der uns über uns selbst hinausführt.
Für Frankl war es folglich umso mehr von Bedeutung, dass der Mensch sich als verantwortliches Wesen erlebe. Weder Werte noch Sinn könnten abstrakt «erfunden» werden – als ursprünglich sinnorientiertes Wesen müsse der Mensch sie in der Welt entdecken und erleben. In dieser Hinsicht jedoch sei niemand anderes als er selbst für seine Entscheidungen verantwortlich. Niemand anderes könne sie ihm abnehmen oder für ihn entscheiden. Er allein müsse seine einzigartigen Möglichkeiten verwirklichen. Und das ihm angeborene Wertgefühl von Freiheit, Verantwortlichkeit, Distanzierung, Transzendenz und Verwandlung mit seiner eigenen Bedeutung füllen. Nur so, indem sie seinem eigenen Sinn folgten, hätten sie für ihn auch eine Wirkmächtigkeit, die sein Handeln, Denken und Fühlen dauerhaft zum Guten wenden könnten.
Verantwortung. Ein Punkt, den vor allem Primo Levi gegen Ende seines Lebens sehr beschäftigte. In seinem 1986 erschienenen Werk «Die Untergegangenen und die Geretteten» stellte er entsprechend die Frage nach dem Fortwirken des Faschismus und der Gefahr des Vergessens. Erschrocken über die Kürze des kollektiven Gedächtnisses und den kein halbes Jahrhundert nach Kriegsende bereits einsetzenden Umdeutungs- oder Relativierungsversuchen des Geschehenen, widmete er sich der Natur des Bösen und der mit ihr (nicht mehr) einhergehenden Verantwortung des Menschen. Wie konnten gewöhnliche Menschen zu Tätern werden? War das Böse eine Ausnahme oder ein generell angelegtes Potenzial in jeder Gesellschaft? Und welchen Anteil tragen Mitläufer und Opportunisten bei der Aufrechterhaltung totalitärer Systeme?
Bei seinen Untersuchungen ihres Verhaltens führte Levi hinsichtlich der Frage, warum viele Menschen schlussendlich ihre moralische Verantwortung ignorierten, das Konzept der «Grauzone» ein – eine der tiefsten Reflexionen über menschliches Verhalten in totalitären Systemen. Anhand ihr beschrieb er die kategorisch schwer zu fassende und moralisch undurchsichtige Zwischenwelt zwischen Tätern und Opfern in den NS-Vernichtungslagern. Er kritisierte die einfache Schwarz-Weiß-Einteilung in «Schuldige und «Unschuldige» und bezog stattdessen den Faktor der Anpassung aus Überlebenswillen als Erklärung mit ein, weshalb Menschen entweder bewusst oder unter Zwang mit dem Unterdrückungssystem kollaborierten. Die Extremsituation der Konzentrationslager, so Levi, sei oft nur durch Kompromisse überlebbar gewesen. Sie waren es, durch die die Menschen in eine moralische Zwielichtzone gerieten – die «Zona Grigia». Zu ihr gehörten Levi zufolge:
Häftlingsfunktionäre (Kapos, Lagerälteste, Sonderkommandos)
Um die Kontrolle der SS zu erleichtern, wurden KZ-Häftlinge mit bestimmten Privilegien ausgestattet. Sie erhielten bessere Nahrung oder sogar Schutz, mussten dafür aber oft brutale Aufgaben übernehmen wie das Beaufsichtigen oder Misshandeln anderer Häftlinge. Oder im Fall der Sonderkommandos, die in den Krematorien arbeiteten: Hier wurden die Häftlinge gezwungen, die Leichen der Ermordeten zu verbrennen, um ihr eigenes Leben für kurze Zeit zu retten.
Opportunisten und Mitläufer
Menschen, die sich entweder mit dem System arrangierten, um zu überleben, aber ohne direkt Täter zu werden, als auch diejenigen, die sich von kleinen Privilegien korrumpieren ließen und aus Angst und Pragmatismus die Rolle von Unterdrückern übernahmen.
Täter, die auch Opfer waren
An dieser Stelle beschreibt Levi einige SS-Leute oder Funktionäre, die zwar grausam handelten, selbst jedoch unter dem NS-Regime gefangen waren. Und dass nicht nur aufgrund von äußerem Zwang: Als besonders problematisch galten für Levi diejenigen, die durch Indoktrination oder Gruppenzwang ihre Menschlichkeit verloren hatten.
«Die Frau wurde krank. Litt an der modernen Krankheit namens Angst.
Dagegen gibt’s noch kein Serum.» — Erich Kästner, Die Schule der Diktatoren
Levi wollte weder rechtfertigen noch entschuldigen. Sein Anliegen bestand darin, zu zeigen, dass moralische Urteile über Menschen, die unter extremen Bedingungen handeln, deren mangelndes Austarieren ihren Tod bedeuten könnte, nicht immer einfach sind. Indem die Grauzone entsprechend erkläre, wie totalitäre Systeme Menschen korrumpierten und in Mitverantwortung zögen, gäbe es Levi zufolge keine absolute Unschuld, wenn das eigene Überleben davon abhänge, sich dem System zumindest teilweise zu beugen. Was ihn zu der ethischen Fragestellung nach Schuld oder Zwang führte: Wie viel Verantwortung trugen die Menschen in der Grauzone tatsächlich? Waren sie Mittäter oder nur Werkzeuge des Systems? Wo begann persönliche Schuld und wo endete der bloße Überlebensinstinkt?
Auch an dieser Stelle lehnte Levi eine vorschnelle Verurteilung ab und plädierte stattdessen für eine kritische Auseinandersetzung mit dem eigenen Handeln. Von ihr seien schließlich auch wir nicht freigesprochen: Die Mechanismen der Grauzone, warnte Levi, existieren in jeder Gesellschaft und jener Mensch kann in bestimmten Situationen dazu neigen, sich ihnen zu beugen. Diesen Gedanken schloss er mit folgendem, auch aus «Die Untergegangenen und die Geretteten» stammenden, Zitat:
«Ein Vierteljahrhundert ist vergangen, und heute schauen wir uns um und stellen mit Unbehagen fest, dass diese Erleichterung vielleicht verfrüht war. Nein, Gaskammern und Verbrennungsöfen gibt es nirgendwo mehr, aber es gibt Konzentrationslager in Griechenland, in der Sowjetunion, in Vietnam, in Brasilien. In fast jedem Land gibt es Gefängnisse, Besserungsanstalten, psychiatrische Anstalten, in denen wie in Auschwitz der Mensch seinen Namen und sein Gesicht, seine Würde und seine Hoffnung verliert. Vor allem ist der Faschismus nicht tot: In einigen Ländern konsolidiert, in anderen vorsichtig auf Rache wartend, hat er nicht aufgehört, der Welt eine Neue Ordnung zu versprechen. Sie hat die Nazi-Lager nie verleugnet, auch wenn sie es oft wagt, ihre Existenz anzuzweifeln. Bücher wie dieses können heute nicht mehr mit der Gelassenheit gelesen werden, mit der wir die Zeugnisse der Vergangenheit studieren: ‹Der Schoß, der dieses Ungeheuer geboren hat, ist noch fruchtbar›, schrieb Brecht.»
Der Schoß, der dieses Ungeheuer geboren hat, ist noch fruchtbar … Vielleicht plagten ähnliche Gedanken, wie sie auch Imre Kertész, der ungarisch-jüdische Schriftsteller und Holocaust-Überlebende, gehabt hat, als er Auschwitz eine «fremde, unnahbare Transzendenz» nannte, ebenfalls den Italiener Primo Levi. Sich den Grenzen der Sprache und der Erinnerung mehr als bewusst, fragte er sich nicht selten, ob das Grauen von Auschwitz überhaupt adäquat beschrieben werden konnte. Wussten die Überlebenden auch nur einen Teil der Wahrheit weiterzugeben, hatten die «Untergegangenen» (die Ermordeten) schließlich keine Stimme mehr. Das einzige, was von ihnen «am Leben» blieb, war das Trauma der Überlebenden und die Schuldfrage. An ihrem zum «Überlebenden-Syndrom» zusammengefassten Schmerz litt auch Primo Levi. Der Gedanke, überlebt zu haben, während andere starben, ließ in an der «Zufälligkeit» seines eigenen Überlebens und damit an sich selbst zweifeln, ob nicht auch er unbewusst Entscheidungen getroffen hätte, die anderen schadeten?
Primo Levi in allen Ehren. Doch während ich eine solche Umsichtigkeit und Selbstreflexion, wenn vielleicht auch ohne die mit ihnen verbundenen Schuldgefühle, gerne mehr in dieser Welt sehen wollen würde, frage ich mich allzu oft, warum sie (an dieser Stelle sind die Schuldgefühle mit inbegriffen) vielen Menschen so unzugänglich scheinen? Welcher Schleier liegt dort über ihrem Selbstempfinden, als dass sie nicht dazu in der Lage zu sein scheinen, die angenommene Richtigkeit ihres Handelns zu hinterfragen und gegebenenfalls zu korrigieren, oder sich zumindest demgemäß schlecht fühlen und daraufhin bestrebt sind, es beim nächsten Mal besser zu machen? Oder mit anderen Worten: Warum scheinen manche Menschen es entweder nicht zu merken, wenn sie sich unmenschlich verhalten – oder, schlimmer noch, können sogar damit leben, wenn sie es bemerken? Wo bleibt der Wille zur Menschlichkeit?
«Die Freunde achten uns. Die Feinde fürchten uns. Das ist in unserem verfehlten Jahrhundert keine Selbstverständlichkeit mehr. Nicht in den Staaten. Nicht zwischen den Staaten. Wir haben unsere Grenzen ausgedehnt. Nicht etwa, um unsere Macht zu beweisen. Wirkliche Macht hält keine Manöver ab. Sondern um abgesprengte Teile unseres Volkes heimzuholen. Im Land herrschen Ruhe und Einmütigkeit. Es bedurfte keiner Überredung. Das Volk wurde überzeugt. Noch gibt es vereinzelte Widersacher. Neinsager aus Profession und Verräter in fremdem Sold und Auftrag. Aber sie hocken im Mauseloch der Angst. Ein Schritt, ein Satz genügt, und sie sitzen in der Falle. Mauseloch oder Mausefalle, die Leute haben die Wahl. Diese und keine andre.» — Erich Kästner, Die Schule der Diktatoren
An ihrem Vakuum verzweifle auch ich mitunter am meisten. Wie kann so wenig Bedarf, geschweige denn Bewusstsein von etwas vorherrschen, worauf sich die Selbstauffassung einer ganzen Zivilisation beruft? Wie können wir uns «Menschheit» nennen, haben wir doch längst aufgehört, uns menschlich zu verhalten? Wie können wir unsere Gesellschaft als «frei» bezeichnen, besteht deren einzige Freiheit nur noch darin, sich «frei» zwischen verschiedenen Formen der Unfreiheit zu bewegen? Und überhaupt: Wie können wir unsere Verfassung und damit unser gesamtes Miteinander auf einem Begriff begründen, von dem wir nie gelernt haben, von seinem Recht Gebrauch zu machen und für seine Unverhandelbarkeit einzustehen?
Und ja, die Rede ist von dem Begriff der Würde. Der wahrlich als nichts weiter denn dies noch zutage treten vermag: als ein Begriff. Verfügt er als solcher zwar über eine beinahe ebenso lange Tradition wie der der Freiheit, scheinen beide – Freiheit und Würde – Teil jener «großen Wörter» zu sein, die laut Stanislaw Jerzy Lec «so leer sind, dass man darin ganze Völker gefangen halten kann». Allzeit bildeten sie daher den Nährboden für jene Hörigkeit, die Henry David Thoreaus bereits 1849 in seinem Essay «Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat» wie folgt formulierte:
«Es ist wahrlich genug gesagt, dass eine Gesellschaft kein Gewissen hat; aber eine Gesellschaft von gewissenhaften Menschen ist eine Gesellschaft mit Gewissen. Das Gesetz hat die Menschen niemals auch nur ein bisschen gerechter gemacht; und durch ihren Respekt vor ihm werden selbst Wohlgesinnte täglich zu Werkzeugen der Ungerechtigkeit gemacht. Ein häufiges und natürliches Ergebnis eines übermäßigen Respekts vor dem Gesetz ist, dass man eine Reihe von Soldaten sieht, die in bewundernswerter Ordnung über Hügel und Tal zu den Kriegen marschieren, gegen ihren Willen, ja, gegen ihren gesunden Menschenverstand und ihr Gewissen...»
Auch hier ist es das Vakuum, das entsteht, wenn Begrifflichkeiten aufgeblasen und mit «Inhalten», nicht aber mit Sinn gefüllt werden: Menschen werden in dem Glauben gehalten werden, sie «lebten» bestimmte Werte, dabei sind sie selbst nur Mittel ihrer begrifflichen Zweckentfremdung. So ist es beispielsweise einfach, eine Verfassung auf dem Begriff der Menschenwürde aufzubauen und seiner entsprechenden Staatsform den Stempel der Freiheit zu verpassen – in gleichem Zuge jedoch das Gefühl der Betroffenen gegenüber dieser Begriffe zusehends zu verzerren und diese insgeheim mit anderen – teilweise fast diametralen – «Werten» zu besetzen. Oder wie Rainer Mausfeld es in «Hybris und Nemesis» anhand der Demokratie zu formulieren wusste:
«Schon früh erkannten Macht- und Besitzeliten, dass sich das Wort ‹Demokratie› als höchst wirksames Instrument der Stabilisierung und Ausweitung von Macht nutzen lässt. Dieses Wort allein ruft in den Köpfen der Machtunterworfenen große Versprechen und Verheißungen von Freiheit und Selbstbestimmung, von Stabilität und Frieden hervor. Da es in hohem Grad affektiv positiv aufgeladen ist, eignet es sich in besonderer Weise zur Schaffung von ideologischer Macht. Bindet man es in einen geeigneten ideologischen Rahmen ein, der verdeckt, dass der Begriff entleert und seiner ursprünglichen Bedeutung beraubt wurde, so lassen sich mit diesem Wort die natürlichen Bedürfnisse nach Freiheit und Selbstbestimmung ruhigstellen. In Herrschaftsformen, die nicht demokratisch legitimiert sind, ist kaum ein Wort geeigneter, die Zustimmung der Machtunterworfenen und ihre freiwillige Unterwerfung zu erreichen.»
Damit wären wir zurück bei Kästner und seiner «Schule der Diktatoren». Ihre Abgänger sind schließlich keine einzigartigen Genies, sondern systematisch herangezüchtete Figuren. Nicht sie sind das Problem, sondern das System, das fortwährend nach ihnen verlangt. Und damit diejenigen, die dieses System stützen und aufrechterhalten. Ein mündiges Volk, das wird spätestens beim Lesen von Thoreau klar, braucht keinen Anführer. Weil es die Verantwortung für sich selbst übernimmt, herrscht auch kein Bedarf an Vertretern, an die sich diese abtreten ließe.
Nur wo der Einzelne seine Stimme verliert und in Angst ertrinkt, beträten Diktatoren die Bühne. Sie seien das Resultat von Massenmanipulation und Propaganda, anhand derer die Gesellschaft durch gezielte Desinformation, Angst und Ideologie formbar gemacht wurde, sodass sie autoritäre Herrscher akzeptiert oder sogar herbeisehnt. Nur weil die Bevölkerung passiv bleibe, sei es aus Angst, Bequemlichkeit oder fehlender Alternative, könnten sie sich der bestehenden Mechanismen bedienen und den Wunsch der Menschen nach klaren Strukturen und Führung missbrauchen, um ihre Herrschaft zu sichern. Selbst ihre Brutalität, erklärt Kästner, «braucht Methode».
Wobei, «wer die öffentliche Meinung unterdrückt», nie vergessen dürfe, «dass die Unterdrückten mehr von ihr wissen als der Unterdrücker.» Das einzige, was die Unterdrückten folglich davon abhielte, sie auszusprechen, sei ihre Angst, «ein schlechter Mensch» zu sein. «Denn wer wäre gern ein schlechter Mensch? Noch dazu in den eigenen Augen?» Diese Frage, so tönt es bei Kästner, führe unweigerlich dazu, dass Menschen dem dienen, «der die Macht hat». Das sei ihre «Pflicht». Ihre Treue halten sie nicht zu sich selbst, sondern gegenüber dem, der die Macht hat.
Was, wenn man diesen Mechanismus genauer betrachtet, nicht der Diktator ist, sondern die Diktatur als solche. Und wer war noch mal die Diktatur? Die Menschen.
Der Mensch fühlt sich dazu verpflichtet, sich in ein Korsett zu zwängen, nur weil er die anderen dabei beobachtet, wie sie in dem ihren ersticken. Das nennt sich Diktatur. Oder heutzutage auch bekannt als «Solidarität».
Was sich mit ihr gewinnen lässt? Nichts.
Was sich mit ihr verlieren lässt? Alles.
Liebe Leserinnen und Leser,
Lassen wir uns unseren Sinn nicht nehmen, sondern geben wir ihn uns selbst.
Das ist unser Leben. Entsprechend sollten wir es auch als solches leben.
Die Zeit, unser Innerstes zu befreien, ist jetzt.
Herzlich,
Lilly
Mein Buch «Das Gewicht der Welt» gibt es bei Tredition, Thalia, Exlibris, Orellfüssli, Amazon oder überall, wo es sonst noch Bücher gibt.
Mich wiederum findest Du auf Telegram, Instagram, X oder Spotify.
Levi, Primo (2015): Die Untergegangenen und die Geretteten. Köln (DTV), Seite 60.
Ebenda, Seite 131.
Liebe Lilly, der Text trifft diamantscharf meine persönlichen Gedanken zur Rede von JD Vance in München und die absurde, die Atemluft verpestende Reaktion der Europäischen Welt darauf. Es wird immer stickiger. Ein kalter Windhauch verschaffte mir Linderung, kurzfristig.
Dann folgte Dein Text. Kraft und Ruhe ausstrahlend. Möge ein jeder für sich selbst die richtigen Schlüsse ziehen, oder auch die falschen.Jedoch als freier Geist.
Liebe Lilly,
schön, dass du wieder ein bisschen Zeit gefunden hast für Substack ♥️. Sehr wichtige Dinge, die du in deinem Text erwähnst. Ich möchte Viktor Frankl und den von ihm beschriebenen "Raum zwischen Reiz und Reaktion" herausgreifen und etwas schildern, was ich erlebte.
Diesen Raum selbst kennenzulernen, war die grossartigste Entdeckung, die ich letztes Jahr machen durfte.
Bis dahin nur davon gelesen und auch verstanden (zumindest glaubte ich das), was Frankl meint, habe ich diesen Raum erstmalig bewusst als solchen wahrgenommen. Ich empfand diesen Moment als etwas Großartiges. Gefolgt von einer Erkenntnis, wie ich sie vorher nicht gemacht hatte. Ich erlebte (fühlte) diesen Raum und mich darin! Dieser Raum von reinem, höheren Bewusstsein. Dieser Moment war etwas so überwältigend Schönes, dass mich das Erlebnis noch Tage danach beglückte.
Ich erlebte diesen Raum in einem Moment, in welchem ein Wut auslösender Triggerreiz dabei war, mich in die zwanghaft ablaufende Handlungsspirale zu katapultieren. Noch während meine Wutspirale sich aufbaute, gab es da plötzlich diesen Breake, diesen Shift! Für mich war es bisher unmöglich gewesen, diese Spirale zu unterbrechen, "unter meine Kontrolle" zu bringen, wenn sie erst einmal in Gang gesetzt war. Doch jetzt war es anders. Es geschah! Mein Bewusstsein schaltete sich ein. Bewusstsein übernahm die Führung. Bewusstsein, das sagte: JETZT hast du die Möglichkeit den Lauf zu verändern. Du bist im Raum zwischen Reiz und Reaktion. JETZT hast Du die Möglichkeit, nicht Opfer zu sein, sondern Handelnde. Nicht Re-Agierende, sondern Agierende. Und was soll ich sagen, es war wie ein Wunder! Denn dieser kurze lichte Moment hatte bewirkt, dass mein Triggerreiz bzw. die sich aufbauende Wut sich in Luft auflöste. Willentlich hatte ich es so oft versucht, diesem Reiz "Herr" zu werden, was nie gelang. Er hatte so große Macht über mich...
Ich war regelrecht geflasht, weil ich diesen Raum nun kennengelernt, ihn erlebt hatte! Und verstand! was Viktor Frankl gemeint hat. Das seltsame ist, dass es nur ganz wenige Menschen gab, die die Besonderheit dieses Moments nachvollziehen konnten.
Ich erzählte davon auch einer Freundin, die Psychologin ist. Denn wir hatten uns vor einiger Zeit über Frankl und genau diesen Raum (zwischen Reiz und Reaktion) unterhalten. Doch sie erfasste garnicht, was dieses Erlebnis für mich bedeutet hatte.
Ich glaube, dass es ein großer Unterschied ist, ob man diesen Raum wirklich KENNENGELERNT, bewusst ERFAHREN hat oder ob man nur intellektuell "verstanden" hat, worum es geht. 💫💫💫 Und ich bin unendlich dankbar dafür, ihn erfahren zu haben. Und gestärkt, weil ich begriffen habe, dass wir eine Wahl haben. Leider aber nur dann, wenn unser höheres Selbst in uns wirksam ist. Uns führt.
Danke Lilly 🙏❤️, für deine so wunderbaren und feinsinnigen Texte, die in mir immer etwas in der Tiefe anstoßen, womit ich in Resonanz gehe.