Gemeinschaft als Weg des Herzens
Wir wollen, dass die Menschen verschiedenartig sind. Aber wie ist ein Zusammenhalt möglich in einer Welt der Individuen? Entwürfe nach Helmuth Plessner. Teil 3 (von 3).
Die größte Bedrohung für den fühlenden, den seienden Menschen bestand für Helmuth Plessner in der «großen Künstlichkeit des Staates», in dessen «Utopie der Gewaltlosigkeit» der Mensch keinen Kampf mehr ums Dasein, sondern ums Sosein auszufochten hätte.1 Ein Mittel, sich gegen seine Roheit zur Wehr zu setzen, erkannte er im sozialen Radikalismus, auf welchen ich bereits in den zwei vorherigen Texten dieser Reihe eingegangen bin (lesen Sie hier und hier). Dass der Weg des Radikalismus nicht Plessners Weg war, brauche ich an dieser Stelle folglich nicht nochmals zu erklären. In diesem dritten und damit auch letzten Teil dieser Reihe zu Plessners 1924 erschienenem Werk «Grenzen der Gemeinschaft» möchte ich auf die Dialektik des Herzens eingehen, die Plessner als einzigen Ausweg dahingehend beschrieb, wolle der Mensch weiterhin als seelisch-fühlendes Wesen gelten.
Technik und Gesellschaft waren für Plessner zwei sich gegenseitig bedingende Mittel. Wo immer der Mensch aus der Gemeinschaft heraustrete, würden sie nötig als etwas, das zwischen den Menschen steht – in Form einer «Maske» machten sie ihre Beziehungen unpersönlich. Wer die Gesellschaft bejahe, der verspüre auch «die Sehnsucht nach der Maske». Die Maske diene dem Individuum als eine Form, «in der es unangreifbar wird, eine Rüstung gleichsam, mit der es den Kampfplatz der Öffentlichkeit betritt.» Einmal auf solche Art sichtbar geworden, verlange das eigene Auftreten eine entsprechende Beziehung zu den anderen, es verlangt Antwort. «Der Mensch in der Rüstung», so Plessner, wolle «fechten». Dabei besäße seine unangreifbare Erscheinung zwei Seiten: eine, die nach innen schützt, und eine, die nach außen wirkt. Weil sie dies jedoch nur könne, wenn sie den Menschen als solchen «definitiv verhüllt», entscheidet sich jeder Mensch, der sich dazu beschließt, in einer derart «irrealen Kompensation» in die Öffentlichkeit zu gehen, gleichzeitig auch immer dazu, auf sein «Beachtet- und Geachtetwerden als Individualität» zu verzichten.
Er nimmt eine Rolle ein. Solange er diese jedoch spielt, sich verstellt und der Aufmerksamkeit wegen als jemand auftritt, der die Achtung der anderen erzwingt, anstatt sie sich zu verdienen, wird sein eigentliches Bedürfnis, für seine eigenste Persönlichkeit respektiert und verstanden zu werden nie befriedigt. Vielmehr entspricht ihre «notgedrungene Ableitung und Transformierung in eine irreale Sphäre von Bedeutungen und Geltungen» einem «Kompromiß zwischen Gegensätzen, die unversöhnlich einander auszuschließen trachten, einer Scheinlösung auf ganz anderer Ebene als in der die Gegensätze liegen.» Wider seiner ursprünglichen Erwartung, nämlich, sich selbst zu schützen, verallgemeinert und objektiviert sich der Mensch durch eine Maske, «hinter der er bis zu einem gewissen Grade unsichtbar wird, ohne doch völlig als Person zu verschwinden.»2
Doch was würde es bedeuten, «dem Menschen über die ganze Breite seiner seelischen Existenz hin ein solches Benehmen zu empfehlen, das bei einem Maximum an Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit ein Maximum an Sicherheit vor dem ironischen Zerstörerblick, bei einem Maximum an seelischem Beziehungsreichtum zwischen den Menschen ein Maximum an gegenseitigem Schutz voreinander verbürgt»3?
Die Dialektik der Vernunft
Wahre Stärke, so Plessner, offenbare sich allein im Bejahen der Gesellschaft: «Stark ist, wer die Gesellschaft beherrscht, weil er sie bejaht; schwach ist, wer sie um der Gemeinschaft willen flieht, weil er sie verneint.» Was aber bedeutet das für das Wohl des Einzelnen? Mit Gesellschaft meinte Plessner schließlich keine gesellschaftliche Lebensordnung im Sinne der Sachgemeinschaft des Sozialismus oder Kapitalismus. Sie betrachtete er schlicht als «Kompromiß, Notdach, Übergangsstadium» auf dem Weg zur «Aufrichtung eines Geisterreichs auf Erden, der endgültigen Überführung aller isolierten Gewaltzentren in die Gemeinschaft». Weil ihm jedoch seine «von innen, seelenhaft bestimmte Eigenart» diese Perspektive verwehrt, bleibe dem Menschen auch «eine Ethik des Gemeinschaftsradikalismus als Weltanschauung seiner geistigen Führerschichten» verwehrt.
Damit gilt es zu wählen: Leben wir lieber stark und maskiert in der Gesellschaft oder geistreich und demaskiert in der Gemeinschaft? Um diese Frage beantworten können, gilt es auf das anfängliche Zitat Plessners zurückzugreifen, nach dem die moderne Gewaltlosigkeit den Menschen dahingehend bedrohe, dass er fortan keinen Kampf mehr ums Dasein, sondern ums Sosein auszufochten hätte. Denn obgleich Plessner ein Vertreter der Gesellschaft war, wusste er durchaus auch, wie schwer es war, in ihren Sphären der Künstlichkeit das eigene Individuelle wahrhaft zu leben. In der Oberflächlichkeit der Gesellschaft könne der Mensch stets nur so aufgefasst werden, wie es die gesellschaftlichen Zusammenhänge zulassen. Eben weil die Gesellschaft als solche in sich selbst gespalten ist, ist sie nicht imstande, den Einzelnen in seiner Zerrissenheit als ein Ganzes wahrzunehmen. Sie erlaubt die Maske, nicht aber das wahre Selbst. So erscheint der Einzelne als getrennt und verselbstständigt. Es wirkt, als könne er für sich selbst nicht Sein, weil er nur durch das Sein der anderen bestimmt werden kann. Wer sich aber der Welt – und damit auch der Wahrheit – nähern wolle, der dürfe nicht länger im reinen Dasein verweilen. Er müsse anfangen, sich selbst zu entwerfen. Denn erst wenn der Mensch aus der Existenzweise des Daseins heraustrete und ein Selbstsein im Sinne des Soseins entwickle, verleihe er sich und seinem bis dato bloßen Dasein eine Bestimmung. Eine Bestimmung, die sich nur aus der gelebten Beziehung zu sich selbst ergeben kann.
Für sie jedoch müsse der menschliche Geist, so Plessner, von einem individuellen, unvertretbaren wie wissenden Seinszentrum erfasst werden. Nur so könne die Tiefe jener «physischen Daseinsphäre» erreicht werden, durch die es dem Menschen möglich wäre, seinen «leibbedingten Egoismus» systematisch zu reglementieren, um den «Keim des Willens zur Macht» daran zu hindern, an seinem Herzen und seiner Seele ein gleich vereinheitlichendes Besitztum einzunehmen wie an seinem Geist. Nur der Mensch, der Herr seines Willens sei, sei auch fähig zur Utopie. Eben weil sich seine Seele nicht mehr im Besitz jener tiefen Antagonismen befände, die ihn, «will er sich nicht zum Opfer bringen, zur Irrealisierung, zum Schutz des anderen wie seiner selbst in dem Nimbussystem der Distanziertheit zwingen.»4
Dabei sei es die «Zerklüftung im Menschen zwischen Innerlichkeit und Körper, Geist oder Gemüt und Gewalt, kampflosem Gemeinschaftskontakt und physisch bedingtem Egoismus», aus der sich eine idealistisch-sentimentale Lehre von der menschlichen Natur nach dem Prinzip der platonischen Kerkertheorie der Seele entwickelt. Ihr zufolge sei das «Höhere, Reinere im Menschen Gefangener seines Körpers und darum das Unsichtbare und Innere». Und weil das menschliche Wesen als Geist und Seele in einem schlechthin überindividuellen oder wenigstens unpersönlichen Seinskontakt stehe, sei er als körperliches Wesen in einer unsichtbaren Gemeinschaft stets zur Vereinzelung und Vereinsamung wie gleichzeitig auch zur Verteidigung seiner persönlichen Eigeninteressen gezwungen.
Die Dialektik des Herzens
Der Mensch spaltet ab. Zuerst seine Seele, dann sein Herz und am Ende auch noch seine Individualität und damit seinen Verstand. Wie kann das sein? Zeigt sich die Stärke einer Gesellschaft laut Plessner schließlich darin, dass sich der Mensch dahingehend treu bleibe, indem er seiner Vernunft folge; sich nicht von einer ideologischen Sach- oder Personenmitte beirren lasse, wie es die Anhänger einer Sach- oder Blutsgemeinschaft tun, werfen die vorherigen Absätze zugleich die Frage auf, inwieweit am Ende nicht auch der vergesellschaftete Mensch unfähig ist, seiner eigenen Vernunft zu folgen. Eingebettet und angewiesen in und auf die öffentliche Meinung erweist sich schlussendlich auch seine Individualität als Trugbild. Er ist individualistisch, aber nicht individuell. Vor lauter Repräsentanz hat der Mensch in der Gesellschaft vergessen, was es bedeutet, ein Individuum zu sein. Er hat eine eigene Meinung, aber keine eigenen Gedanken. Sein Bild von sich entspricht dem Bild, von dem er gerne hätte, dass andere es über ihn haben.
Damit selbst das anfänglich idealisierte Bild von Gesellschaft als letzten Endes nicht förderlich für das menschliche Wesen erachtet, suchte Plessner nach einem dritten Weg. Einer Möglichkeit, gleichzeitig individuell und eingebettet, selbstbestimmt und herzerfüllt zu leben. Diesen Weg nannte er Dialektik des Herzens. Und er war sich darüber im Klaren, dass er – der Weg einer nicht auf Ideologie und Gruppenzwang, sondern auf Gefühl und Eigensinn beruhenden Gemeinschaft – der für den Menschen schwierigste Weg sein wird. Denn könnten von der Vernunft nur wenige Gebrauch machen, wolle seinem Herzen doch ein jeder, auch der einfachste Mann folgen.5 Selbst dann, habe er – gleich der Verstandeskunst – nie den Umgang mit diesem gelernt. Doch genau darin bestand das Problem: Die Menschen glauben, dass Bewusstsein, Intuition und Gefühl jedem Menschen gleichermaßen zur Verfügung stünden. Dass auch sie der Schulung bedürfen, haben sie nie gelernt.
Und so entsteht das Risiko, dass jener Mensch, der meint, er wisse, was er fühle, anfällig wird für den Missbrauch seiner Gefühle. Es ist die fehlende Integrität seines Innenlebens, die den Türöffner für Fremdeinwirkung bildet. Und wenn obendrein auch noch Intuition und Bewusstsein fehlen, sind wir nicht nur nicht imstande, diese Fremdeinwirkung zu erkennen, geschweige denn, uns gegen sie abzugrenzen – wir können auch nicht sagen, was ihre Absicht ist. Damit bestand auch für Plessner die Gefahr dieser Affektgetriebenheit dahingehend, dass das Maß an Individualität des Einzelnen nicht ausreichen könnte, als dass dieser dazu in der Lage sei, ein Maß an Beziehung einzugehen, ohne sich selbst aufzulösen. Passend dazu schrieb Plessner:
«Es versteht sich also von selbst, daß Gemeinschaft darum Affektwerte höchsten Grades einschließt. Aus ihr spricht, ob Lebens- oder Glaubensgemeinschaft, die Gewalt unmittelbarer Lebendigkeit letzter Entschleierung. Nicht die Teilnahme an einem den anderen Menschen vorenthaltenen Geheimnis, sondern das Bewußtsein, keine Geheimnisse voreinander haben zu müssen, ergibt die emotionale Bindung aller. Schon die zeremoniös bekräftigte Exklusivität, noch ohne Rücksicht auf besonderen Inhalt des Bundes, schafft aus dem gewöhnlichen ein besonderes Lebensgefühl. Empfängt die Gemeinschaft aus dem Blut ihre Legitimation, aus realer Verwandtschaft, aus ideeller Bereitschaft, für sie zu opfern, aus übernatürlicher Einheit mit vergossenem Blut, so ruht sie, sehr zum Unterschied von Lebensordnungen anderer Art, materiell in der Liebe ihrer Träger.»6
Zweifelsohne: Eine Gemeinschaft beruht auf Liebe. Und «ohne diese gestalthafte Mitte hält sich keine Gemeinschaft.»7 Wenn Gemeinschaft von Liebe getragen wird, ist ihre Kraft unendlich. Liebten ihre Mitglieder aber nicht zuerst sich selbst, verkehrt sich ihr Potenzial ins Destruktive. Gemeinschaft und Einzelner zehren sich selbst auf. Unfähig, die «gestalthafte Mitte» in Form ihrer eigenen Person und aufgrund ihrer individuellen Wesenart selbst darzustellen, wird diese durch eine unpersönliche Sachmitte ersetzt. Einen unlebendigen, schlimmstenfalls ideologischen Kern. Es entsteht abermals eine Form von Gemeinschaft, in deren großem Ganzen der Einzelne nicht dazu angehalten wird, er selbst zu werden, sondern ein Rad im Getriebe.
Der Mechanismus ist immer derselbe: Wo die Individualität fehlt, verkehrt sich sogar der ursprüngliche Gedanke von Gemeinschaft ins Negative. In der Sachgemeinschaft wie dem rationalistischen Kommunismus überwiegt die Unpersönlichkeit des menschlichen Fundaments, da der Mensch die Gemeinschaft nur mit seinem Anteil an überindividuellem Geist, nicht aber mit seinem persönlichen Seinskern bildet. Spätestens in ihrem Arbeitscharakter gibt der Mensch sich völlig auf, da es nie um ihn, um seine Vervollkommnung geht, sondern alle Energie stets in die Gemeinschaft und die Lösung von Schwierigkeiten investiert wird. Man lebt nicht für sich, sondern für sie. Ohne sie hätte man selbst nichts mehr zu arbeiten.8
Aus dieser Möglichkeit des Verrats der Gemeinschaft am Einzelnen schloss Plessner, dass jedes Zusammenleben schlussendlich den Keim des Aneinandervorbeilebens in sich trägt. Schlicht und einfach, «weil die Seelen mehr sind als was sie wirklich sind»9. Indem die Möglichkeit wahrer Liebe in gleichem Maße abnehme, je größer der Abstand zwischen den Trägern der Liebesbeziehung ist10, nehme auch die Chance zur Verwirklichung von Gemeinschaft mit der Wahrscheinlichkeit der Liebe ab, d. h. mit wachsender Distanz zur individuellen Wirklichkeit.11 Oder mit anderen Worten: Desto mehr sich der Einzelne von sich selbst entfremdet, umso unwirklicher wird auch jede Form von Gemeinschaft, die er versucht einzugehen.
Die Einzigartigkeit der Seele als das Wesen wahrer Gemeinschaft
Was also würde es bedeuteten, so in sich gefestigt zu sein, ein solches Vertrauen seinen Mitmenschen gegenüber aufbringen zu können, dass einerseits völlige Hingabe bedeutet und gleichzeitig totales Selbstbewusstsein? Um diese Frage in ihrer vollen Umfänglichkeit klären zu können, möchte ich zuerst die von Plessner beschriebene Unergründlichkeit der menschlichen Seele anführen. Schließlich ist sie es, aus der am Ende auch unsere Individualität entspringt. Und solange wir nicht verstehen, was unsere Seele antreibt, können wir auch nicht verstehen, welchen Dynamiken unsere Individualität unterliegt. So folgt:
«Unter nichts leidet die Seele so wie unter dem Unverstandensein, ihrem doch wesensmäßigen, von ihrer eigenen Natur selbst herausgeforderten Schicksal. Denn dieses Nichtverstehen ist kein einfaches Verfehlen einer Sache, ein Vorbeisehen am Wirklichen, sondern in gewissem Sinne beides zugleich: Verfehlen und Treffen. Ein treffendes Urteil trifft uns, verletzt uns ebenso sehr als ein falsches. Getroffen, sehen wir uns, im eigenen oder im fremden Blick, vereinseitigt und festgelegt. Es kommt hier gar nicht darauf an, was man von uns sagt, als daß man von uns sagt. Ob Lob oder Tadel – im Tiefsten muß sich die unendliche Seele aufbäumen gegen das verendlichende Bild im Bewußtsein eines Urteils. In der Gegenrichtung dazu liegt aber ebenso wenig ihr Heil. Denn unter nichts leidet die Seele so wie unter dem Nichtbeachtetsein, dem ebenso von ihrer Natur herausgeforderten Schicksal. Seele ist in ihrer Innerlichkeit unergründlich, unabsehbar, ein geheimnisvoller Quellgrund an Möglichkeit, undurchsichtig, schillernd, zweideutig. Seele zieht sich zurück, um nicht gesehen und getroffen zu sein, und sehnt sich doch danach, gesehen und gewürdigt, d. h. aus eigener Zweideutigkeit zur bestimmten Form, zum festumrissenen Charakterbild gebracht zu werden.»12
Gemäß Plessner strebt der Mensch seelisch wie praktisch nach zwei Seiten: Indem der Aktionsradius, wie wir ihn von Natur mitbringen, durch die Vernunft erweitert wird, verlangt auch die Sicherheit unserer Entscheidungsgewalt «Vernunft nicht nur nach außen, sondern ebenso sehr nach innen, fordert die Niederhaltung und womögliche Vernichtung des inneren Feindes». Die «Rückhaltlosigkeit vor sich selbst wird praktisches Erfordernis, Disziplin, Technik in der Behandlung der eigenen Seele bildet eine wesentliche Grundlage unserer äußeren Erfolge». Gleichzeitig ziehe es den Menschen allerdings auch in die Vernunftferne, «in die Unbewußtheit, Ursprünglichkeit, Naivität und in die Bewußtheit, in das Raffinement der Überlegung, der Selbstbeobachtung und Selbstbeherrschung» Trotz seiner Angst, mit den Antagonismen und den Tiefen der dialektischen Dynamik der eigenen Psyche konfrontiert zu werden, ist er sich bewusst, dass je mehr er «von sich fortlebt» und seinem eigenen Unbewussten erlaubt, in seinem Dasein Raum einzunehmen, «desto ursprünglicher weiß er sein Leben zu gestalten»13. Er skizziert:
«Maß und Begrenzung ist das Höchste für menschliches Streben. Ob auch den Menschen nie eine unendliche Sehnsucht verläßt, weil er selbst als Gemüt im Unendlichen wurzelt und darum nie geheime oder offene Trauer ihn aufgibt, das Heimweh eines in die Endlichkeit Verbannten, so wird die Erkenntnis, daß zum Wirken Grenzen gehören, der Resignation beruhigten, ja heiteren Charakter verleihen. Leben schließt sich zum Kreise, jedes Ding west an seinem Platze und ein Blick in den Raum der Natur zeigt das Gesetz der Bescheidung. Trennung ist nötig, damit das Einigende sich wirksam erweise, Sehnsucht, damit die Stille nicht starre werde. In dem Bewußtsein einer großen Umbildung der Dinge, die sicher nicht Fortschritt, vielleicht Entwicklung ist, wird der Mensch die Kraft finden, seiner vom Gemüt aufgedrungenen Ungeduld Herr zu werden und die Milderung der Wesenshärten des Lebens von einer allmählichen Verwandlung des Ganzen, nicht aber von der Revolutionierung seiner Teile erwarten. Utopien können wohl helfen, die Herrschaft über die Natur auszudehnen. Aber zum sozialen Frieden im Reich einer die ganze Erde umspannenden Gemeinschaft führt weder äußere Technik noch innere Ethik, sondern einzig eine Veränderung der menschlichen Natur selbst, in der wir uns verzehren müssen und die doch zu vollziehen nicht mehr in unserer Macht liegt.»14
Obwohl Plessner einerseits dafür plädiert, dem eigenen Seelenleben seinen Raum zu geben, vertritt er an dieser Stelle zugleich die Auffassung, große Emotionen würden den Menschen «seelisch verbrauchen». Kämen sie unkontrolliert, ohne entsprechenden Anlass, würde nicht nur ihr Ausbruch verflachen, sondern auch der Mensch gegen sich selbst abstumpfen und «an Seele verlieren». Plessner empfiehlt daher, sich weder zu sehr sehen zu lassen, wie man ist, noch «restlos in einer Expression aufzugehen». «Die Folgen dieser Preisgabe vor dem eigenen Bewusstseinsblick, vom Blick der anderen», schreibt er, «machen sich stets in Ernüchterung und Schrumpfung gleichsam des seelischen Spannvolumens fühlbar und sichtbar.» Sein Vorschlag: «Hemmung um unserer selbst willen, der Verhaltung, der Stauung, um Gefälle zu haben, und diesen bedeutenden Dienst erweisen Zeremoniell und Prestige durch die Rücksicht, die sie von uns verlangen». Die Seele wolle «gemieden werden». Nur wo sie sich in etwas verlieren könne, gewinne sie an Kraft und Größe, erfülle sie ihre Bestimmung. Laut Plessner ließe sich dies als eine Art «Selbstüberlistung der menschlichen Natur» bezeichnen: «sich zur Erzeugung objektiver Formen im Geltungsstreben zu bringen, das der Seele eine Hingabemöglichkeit an sie, ein Verlieren in ihnen verschafft.»15
Unerschöpflich
Ich muss gestehen, dass ich diesen Ansatz nicht ganz zu durchdringen vermag und deshalb weder teilen noch verneinen kann. Auch dann nicht, wenn Plessner am Ende dieses Absatzes schreibt, dass es darauf ankäme, dass der Urheber seinem eigenen «Wesen, obzwar verwandelt und geprägt» entgegenschaut. Alles Psychische brauche «diesen Umweg, um zu sich zu gelangen, es gewinnt sich nur, indem es sich verliert.»16 Zweifelsfrei klingt es zuerst seltsam, wenn jemand schreibt, man solle dem eigenen Gefühlsleben weniger Ausdruck verleihen, da sonst die Seele verflachen könne. Gleichzeitig kann ich diesen Gedanken auch dahingehend verstehen, dass es durchaus stimmt, dass, sollten Gefühle zu schnell dem Blick der Öffentlichkeit ausgesetzt werden, ihr Urteil Spuren in unserer Seele hinterlassen kann, die dazu führen, dass wir beim nächsten Mal unsere Gefühle nicht mehr auf diese Weise zeigen werden.
Es stimmt, dass ein zu schnelles Urteil anderer uns innerlich verstummen lassen kann. Dennoch teile ich nicht den Rat Plessners, daraufhin die eigenen Gefühle zu hemmen, sie zu vermeiden und anzustauen. Ich glaube, es geht vielmehr darum, die eigenen Gefühle solange zu bewahren und zu beschützen, ehe man einen Weg gefunden hat, sie zu leben. Für sich als auch mit anderen. Es wäre naiv zu glauben, jedes Gefühl sei jederzeit mit jedermann lebbar. Aber darin besteht schließlich auch das Geheimnis jener Gemeinschaft des Herzens: Eine von Liebe getragene Gemeinschaft wird mir stets den Raum gewähren, meine Gefühle zuerst im Stillen, für mich zu leben. Gleichzeitig werde ich aber auch stets um den Raum wissen, den mir die Gemeinschaft bietet, meine mich und meine Gefühle mitzuteilen, sie zum Teil sogar von der Gemeinschaft tragen zu lassen. Die Gemeinschaft des Herzens ist unerschöpflich. Jeder gibt, weil jeder nimmt. Und jeder nimmt, weil jeder gibt.
«Ausgleich findet von selbst statt; der Wert schafft ihn im Medium der Überzeugung, die Personen vollziehen ihn im Medium der Liebe. Übereinkommen müssen getroffen sein. Die mittlere Linie ist hier nicht bestimmt, sondern die Resultante teils vorherbestimmbarer, teils nicht vorherbestimmbarer Kräfte.»17
Darin liegt der ganze Zauber. So zu sein und sich so zu lieben, wie man ist, und dadurch Menschen anzuziehen, die einen nehmen und lieben, wie man ist. Erst in dieser Sphäre ist es möglich, jene Utopie von Gemeinschaft zu leben, die den Menschen weder maskiert noch einer höheren Idee unterjocht. Denn «selbst wenn diese unleugbare Niedertracht, der Geist der Schwere nicht unüberwindlich wäre, darf der Mensch sich nicht radikal als Individualität, als Seele aufgeben und aufgehen im Reich der Gewaltlosigkeit. Nicht trotzige Selbstbehauptung, nicht Eitelkeit bilden solch unübersteigliche Schranken, sondern die innere Einzigartigkeit der Person, wenn sie auf Anerkennung, ja nur Erkennung und Resonanz Anspruch erhebt.»18
Plessner, H. (2002). Grenzen der Gemeinschaft: eine Kritik des sozialen Radikalismus. Frankfurt am Main (Suhrkamp), Seite 133.
Ebenda, Seite 82.
Ebenda, Seite 79.
Ebenda, Seite 103.
Ebenda, Seite 12.
Ebenda, Seite 45.
Ebenda, Seite 48.
Ebenda, Seite 52.
Ebenda, Seite 59.
Ebenda, Seite 46.
Ebenda, Seite 47.
Ebenda, Seite 64.
Ebenda, Seite 66.
Ebenda, Seite 131.
Ebenda, Seite 91.
Ebenda, Seite 91.
Ebenda, Seite 100.
Ebenda, Seite 128.