Verstehen können wir unser Leben nur hinterher. Leben müssen wir es vorwärts. Das wusste bereits Søren Kierkegaard. Und doch gibt es Menschen, deren Kenntnis über das, was es für die anderen erst im Nachhinein zu verstehen gilt, eine frühere ist. Sie gelten als hellsichtig. Ob schlafend oder wach, aber ihre Anbindung an das, was wir gemeinhin unter «Zukunft» verstehen, erscheint prophetisch. Durch Bilder, Sequenzen oder Stimmen erhalten sie Zugang zu jener Dimension, deren Grad an Vorherbestimmtheit uns an unserem Glauben, wir besäßen einen «Freien Willen», zweifeln lassen sollten.
Nahtoderfahrungen, Telepathie, Erinnerungen an frühere Leben: Die Welt der Dinge, die wir mit unserem Verstand nicht begreifen können, ist unendlich. Und doch gibt es Pforten der Wahrnehmung, ihn für sie zu öffnen; durchlässig zu werden für das, was angeblich nicht in diese Welt zu scheinen passt. Das behauptete zumindest der deutsche Parapsychologe Hans Bender. Mit seinem Begriff von der «Gleichförmigkeit des Okkulten», der Beobachtung, dass parapsychische Phänomene über historische, kulturelle, geografische und persönliche Grenzen hinweg identisch bzw. gleichförmig zu sein scheinen, vertrat er die These, dass jeder Mensch seinen Ursprung im Göttlichen fände und als solcher auch Zugriff auf das gesamte Wissen der Schöpfung besäße. Entscheidend sei der Wille, ob das eigene Bewusstsein diese Öffnung zulasse.
Ihre Vereinigung erhoffte sich auch Bender. Durch Erich Rothacker und Pierre Janet zur Erforschung jener un(ter)bewussten Prozesse angeregt, machte er es sich zur Aufgabe, Berichte und Erzählungen von Menschen zu sammeln, denen die Erfahrung dessen, was auf einen übergeordneten «Weltenplan» hindeutet, am eigenen Leib zuteil wurde. Als Wegbereiter unseres Bewusstseins hinsichtlich dieses Höheren gab er in seinem 1973 erschienenen Buch «Verborgene Wirklichkeit» Träume wieder, die Weltbilder ins Schwanken bringen. So widerfuhr der im Folgenden wiedergegebene beispielsweise einer Mutter, 14 Tage nach der Geburt ihres jüngsten Sohnes im Jahre 1919; und begleitete sie in den darauffolgenden Jahren immer wieder als Ahnung, welches Schicksal sie und ihre Familie eines Tages ereilen würde. Bender schreibt:
«Sie stand in einer ihr völlig fremden Landschaft unweit des Meeres und wußte, daß dort ihr jüngster Sohn begraben lag. In großer Angst suchte sie ihn, indem sie mit ihren Händen den losen Sand an vielen Stellen durchwühlte. Schreiend wachte sie auf und bat, noch ganz im Banne des Traumes, ihren ebenfalls wach gewordenen Mann: «Du mußt mir helfen, unseren Hans suchen, er liegt im Meer unter dem Sand.» Der Säugling schlief währenddessen ruhig und friedlich in seinem Bettchen. 26 Jahre später, im Herbst 1946, erhielt sie durch das Rote Kreuz die Todesnachricht ihres in französischer Gefangenschaft gestorbenen Sohnes. Nach endlosen Mühen erreichte sie Verbindung mit zwei Kameraden ihres Sohnes, die Zeugen des Todes waren. Sie schickten eine Skizze des Forts Mahon zwischen Abbéville und Boulogne an der Nordküste Frankreichs und schrieben: Das Grab von Hans S. liegt bei Fort Mahon in den Dünen, 800 Meter vom Meer.»1
Vorbestimmt?
Ich persönlich glaube nicht an Zufälle. Ich glaube, dass hinter dem, was wir als «Wirklichkeit» betrachten, noch etwas anderes liegt; eine andere Sphäre, die wie ein doppelter Boden über das bestimmt, was zu uns durchdringt und was nicht. Der «Wahrtraum» von Frau S., aber auch Edgar Cayce’s «Prophezeiungen in Trance» oder «Der Ra-Kontakt» legen dies zumindest nahe. Zu diesem Schluss kam auch Hans Bender, indem er die These aufstellte, unsere Welt sei im Grunde doch eine deterministische Welt: Alles, was in ihr geschieht oder nicht geschieht, unterliege einem vorherbestimmten Weltenplan, auf den wir in dem Sinne zwar keinen Eingriff haben, — auf den wir aber innerhalb bestimmter Frequenzen, wie eben die des Traumes, der Séance oder der Meditation Zugriff erwirken können. Die Frage lautet also nicht ob, sondern wann, wie und warum?
Diese «Gabe» in ihrer Möglichkeit auf Teilhabe an dem, was uns alle umgibt, bezeichnet Bender als «Schicksalsgefühl». Ein Begriff, der uns in seiner Exklusivität unweigerlich vor das Problem stellt: Wie kann es sein, dass wir alle den selben Kräften unterliegen, nicht aber alle denselben Zugang zu ihnen haben? Wie weit kann man das anscheinend von außen kommende Schicksal auf einen Ursprung im Innern des Menschen zurückführen? Wo liegt die Brücke zwischen Psychologie und Schicksal? Und überhaupt: Was meinen wir, wenn wir von «Schicksal» sprechen? Das, was auf einen zukommt, das gegen das man nichts machen kann, das «Unausweichliche»? Oder doch etwas im Grunde selbst Gestaltetes und selbst Gewähltes? Etwas, das aus unserer Persönlichkeit geschaffen wird? Oder doch aus unserer Seele? Sind wir für unser Schicksal verantwortlich oder nur für seine Erfüllung?
Bender spricht hier vom pantheistischen Gefühl der «Sternenverwandtschaft»: Ihr «Grundzug der Lebenshaltung» sei durchzogen von Erlebnissen emotional-mythischer Natur, nicht von Erfahrungen oder Überlegungen, die zu einer Stellungnahme führen. Der Mensch sei weder seines Glückes Schmied, noch Untergebener seines Schicksals. Beides sei er selbst. Glück wie Schicksal. Darauf käme es an: zu erkennen, dass wir alles bereits in uns tragen. Weder «haben» wir eine Seele, noch «haben» wir eine Bestimmung. Nein. Wir sind unsere Seele und wir selbst sind unsere Bestimmung. Unsere Vorstellung eines Innen und Außen sei eine Illusion. Mensch und Kosmos, Welt und Seele sind Eins, unentrinnbar ineinander verwoben, auf ewig miteinander verbunden. Alle Vorgänge in der großen kosmischen Welt spiegeln sich in uns als kleine Welt. Makrokosmos und Mikrokosmos bilden eine Einheit. In uns. In der Welt.
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Glauben, Wissen oder Sein?
Ob Parapsychologie und Präkognition nicht oder doch, aber das Tabu der Aufklärung über die «Nachtseiten der menschlichen Natur» hat nicht vermocht, das auszulöschen, was seit Jahrtausenden zum Menschsein gehört. Ganz im Gegenteil: Ihr zunehmendes Ausmerzen all’ dessen, was die Seele nährt, lässt ein Informationsbedürfnis, oder vielmehr; einen emotionalen Hunger danach erwachsen, was das eigene Ewige zu nähren weiß, anstatt es zu bestreiten. Die Sehnsucht nach dem, was wir uns gemeinhin erhoffen, dass es diese Welt bislang bloß vor uns geheim gehalten hat, wächst; und doch frage ich mich, ob wir überhaupt noch wissen, wonach wir suchen?
Seitdem das Weltbild der modernen Naturwissenschaft die Erde nicht mehr als einen Organismus, sondern als ein verlorenes Stäubchen betrachtet, das um die Sonne kreist, die für sich wiederum verloren scheint inmitten einem Milchstraßennebel ähnlicher solcher Stäubchensysteme, in deren unvorstellbarem Raum der Mensch nicht mehr als Sinn der Schöpfung eingebettet ist, scheint dieser schlussendlich auch dem Sinn seiner eigenen Welt entfallen und stürzt seither im luftleeren Raum. Er wie wir; die Welt hat ihren Halt verloren. Und genauso wie wir Innen mit Außen und Außen mit Innen vertauschen, suchen wir das Ewige im Vergänglichen und Heilung, wo längst niemand mehr da ist, an dem wir wachsen könnten.
In dem Moment, wo wir aufgehört haben, uns aufgehoben zu wissen in einem größeren Ganzen, haben wir auch aufgehört, uns in uns selber heimisch zu fühlen. Jeder Schritt gleicht einem Schritt auf unsicherem Boden. In der Welt wie in uns selbst. Dabei ist dieser Gedanke absurd. Wer nicht glaubt, dass unser «Bewusstsein» bereits den Zenit der Schöpfung darstellen soll, der weiß, dass all die Werkzeuge, die wir mit auf den Weg bekommen haben: Intuition, Instinkt, Sorge, Gewissen oder Ahnung nicht nur dafür da sind, uns schlechte Gefühle zu bereiten. Wir tragen sie in uns, damit sie uns wiederum tragen auf unserem Weg. Oder wie schrieb es Goethe, der schon mit sieben Jahren wissen wollte, wie die Sterne bei seiner Geburt gestanden hätten, und der seine Autobiografie mit seinem eigenen Horoskop eröffnet hat, in seinen Heften «Zur Morphologie» unter dem Titel «Urworte. Orphisch»:
ΔΑΙΜΩΝ, Dämon
Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen,
Die Sonne stand zum Gruße der Planeten,
Bist alsobald und fort und fort gediehen
Nach dem Gesetz, wonach du angetreten.
So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen,
So sagten schon Sibyllen, so Propheten;
Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt
Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.
ΤΥΧΗ, Das Zufällige
Die strenge Grenze doch umgeht gefällig
Ein Wandelndes, das mit und um uns wandelt;
Nicht einsam bleibst du, bildest dich gesellig
Und handelst wohl so, wie ein andrer handelt:
Im Leben ist’s bald hin-, bald widerfällig,
Es ist ein Tand und wird so durchgetandelt.
Schon hat sich still der Jahre Kreis geründet,
Die Lampe harrt der Flamme, die entzündet.
ΕΡΩΣ, Liebe
Die bleibt nicht aus! – Er stürzt vom Himmel nieder,
Wohin er sich aus alter Öde schwang,
Er schwebt heran auf luftigem Gefieder
Um Stirn und Brust den Frühlingstag entlang,
Scheint jetzt zu fliehn, vom Fliehen kehrt er wieder,
Da wird ein Wohl im Weh, so süß und bang.
Gar manches Herz verschwebt im Allgemeinen,
Doch widmet sich das edelste dem Einen.
ΑΝΑΓΚΗ, Nötigung
Da ist’s denn wieder, wie die Sterne wollten:
Bedingung und Gesetz; und aller Wille
Ist nur ein Wollen, weil wir eben sollten,
Und vor dem Willen schweigt die Willkür stille;
Das Liebste wird vom Herzen weggescholten,
Dem harten Muß bequemt sich Will und Grille.
So sind wir scheinfrei denn, nach manchen Jahren
Nur enger dran, als wir am Anfang waren.
ΕΛΠΙΣ, Hoffnung
Doch solcher Grenze, solcher eh’rnen Mauer
Höchst widerwärt’ge Pforte wird entriegelt,
Sie stehe nur mit alter Felsendauer!
Ein Wesen regt sich leicht und ungezügelt:
Aus Wolkendecke, Nebel, Regenschauer
Erhebt sie uns, mit ihr, durch sie beflügelt;
Ihr kennt sie wohl, sie schwärmt durch alle Zonen;
Ein Flügelschlag – und hinter uns Äonen.
Zur Welt kommen — ins Gefühl kommen
In meinen Augen gibt es somit zwei Wege, auf die Vorstellung, in eine auf ihre Art bereits in sich beschlossene Welt geworfen worden zu sein, zu antworten: Angst und Widerstand oder Liebe und Vertrauen. War es für den mythisch geprägten, den archaisch aufgeladenen Menschen noch selbstverständlich, das eigene Schicksal bei den Gestirnen zu wissen, ist das Ego der Neuzeit zu groß und das Selbst-Bewusstsein zu klein, als dass der heutige Mensch dem Kosmos gegenüber eingestehen könnte, dieser wisse es vielleicht besser als man selbst. Dabei liegt in dieser – als Hybris getarnten – Unsicherheit die eigentliche Gefahr: Indem «Schicksalsschläge» nicht mehr als «Zeichen» oder «Lernaufgabe» erlebt werden können, sondern als – im wahrsten Sinne – «Schläge», die entsprechend als Bestrafung gewertet werden, erlebt der kosmisch isolierte Mensch eine andere Form der Schicksalsergebenheit. Gebunden an das, was ist, fehlt ihm die Hoffnung auf das, was sein könnte.
Losgelöst von Geist und Kosmos als auch abgespalten von den tieferen Schichten seiner Seele, erlebt er sich nicht nur als schutzlos, sondern als verlassener denn je. Er spürt eine Verstoßenheit, die er sich letztlich selbst zugefügt hat und die er, wenn er ehrlich mit sich ist, aus sich selbst heraus inszeniert. Insgeheim weiß er, dass niemand anderes seine Einsamkeit aufheben kann als er selbst. Dadurch, dass er loslässt und sich gleichzeitig öffnet gegenüber dem, was ihn umgibt und was ohnehin nie aufgehört hat, ihn zu durchströmen. Das Gefühl von transzendentaler Obdachlosigkeit — das können wir nur auflösen, indem wir uns vergegenwärtigen, dass es sie eigentlich gar nicht gibt. Wir sind nicht allein. Niemand von uns. Wir sind getragen. Jeder von uns. Die Frage ist nur, ob wir uns auch tragen lassen.
Darin liegt der eigentliche Zauber: Die Veränderung, die wir uns für diese Welt wünschen, beginnt nicht mit uns. Sie beginnt in uns.
«Du wirst keine Liebe finden, Liebe wird dich finden. Es hat etwas mit dem Schicksal und dem, was in den Sternen steht, zu tun.» — Anaïs Nin
Bender, Hans (1974): Verborgene Wirklichkeit. Parapsychologie und Grenzgebiete der Psychologie. 3. Auflage. München (Deutscher Taschenbuch-Verlag).
Habe mich sehr gefreut, dass du das Gedicht von Goethe eingestellt hast. Es ist seit fast 50 Jahren eines meiner Lieblingsgedichte und entfaltet für mich eine besondere Bedeutung für das Leben des Menschen an sich. Danke dafür und für all deine anderen lesenswerten Gedanken und Worte.
"Das Gefühl von transzendentaler Obdachlosigkeit" ...
... ist etwas, das das "insgesamte Gefühl" heimatlos zu sein, hervorruft. TROTZ Haus, trotz Zugehörigkeit zu einer Familie, zu dem Land, in dem ich geboren bin.
Ja, kenne ich sehr gut. Teil auch meines eigenen Erlebens. Zum Glück lange her, Vergangenheit. Heute dominiert Liebe und Vertrauen. Vertrauen in die eigenen inneren Kräfte und Vertrauen in den kosmischen, in den göttlichen Plan.
Liebe Lilly, du hast in diesem Text so vieles von dem beschrieben, an dem die Menschheit krankt. Aber es ist ein Text, der trotzdem das Herz beflügelt. Denn es gibt für diese "Krankheit" ein Mittel. Und jeder kann es in sich selbst finden. Wenn er möchte und bereit dazu ist, sich auf den Weg zu machen. Meistens ist es ja so, dass es tatsächlich dann die äußeren Umstände sind, eine Krise zum Beispiel, die diesen Weg erst öffnen. Denn noch sind jene, die bereits mit hochbewussten Seelen geboren werden in der Minderheit. Doch es werden mehr, immer mehr... Denn: "Wie im Himmel, so auf Erden"