Die Suche nach dem Ja in einer Welt des Neins.
Warum diese Welt so zestörerisch ist und wie wir lernen können, für unsere Lebendigkeit einzustehen.
Ich weiß, wie schwer es sein kann, im Angesicht dieser Welt nicht müde zu werden. Man ist am Leben aber kämpft täglich für die eigene Lebendigkeit. Wie kann das sein?
Erich Fromm kannte diesen Widerstreit zwischen Lebenslust und Todestrieb. In seinem epochalen Werk Anatomie der menschlichen Destruktivität bezeichnete er ihre Kräfte als Biophilie und Nekrophilie. Wodurch sie sich definieren, weswegen der Todestrieb einiger Corona-Matadoren derzeit die Welt zum Brennen bringt und warum wir eine Hegemonie der Lebensbejahung brauchen, folgt jetzt.
Lebst du lebensfördernd oder lebensverneinend?
Die Biophilie gilt für Erich Fromm als leidenschaftliche Liebe zum Leben. Der biophile Mensch wünscht das natürliche und soziale Wachstum zu fördern. In seiner “Ehrfurcht vor dem Leben” ist er noch fähig, sich zu wundern und Vielfalt wertzuschätzen. Er erlebt lieber neue Abenteuer, als dass er das Alte in gewohnter Sicherheit bestätigt findet. Indem er stets das Ganze im Auge behält, weiß der biophile Mensch, dass die Welt mehr ist als nur die Summe ihrer Teile. Er will Einfluss nehmen, die Dinge in der Tiefe ihres Seins ergründen, ohne sie dabei auseinanderzureißen. Dem biophilen Menschen geht es nicht darum, mehr zu haben, er will mehr sein1.
Beinahe antithetisch zu ihm steht der nekrophile Mensch. Er will mehr haben, statt mehr zu sein. Die Nekrophilie ist damit die Abwesenheit von Liebe. Sie ist die Leidenschaft, alles, “was lebendig ist, in etwas Unlebendiges umzuwandeln; zu zerstören um der Zerstörung willen; das ausschließliche Interesse an allem, was rein mechanisch ist. Es ist die Leidenschaft, lebendige Zusammenhänge zu zerstückeln.”2. Der nekrophile Mensch wird angezogen von allem, “was tot, vermodert, verwest und krank ist”. Er ist der Hasser, der Rassist, der Befürworter von Krieg, Blutvergießen und Destruktion3.
Folgt man Erich Fromm, so wohnt dieser “Todestrieb” jeder menschlichen Existenz inne: In Form von Zerstörungslust, Sadismus oder Machtstreben ist er genauso Teil von uns wie unser Drang nach Geborgenheit, Zärtlichkeit und Freiheit. Es hänge von den „sozialen Umständen“ ab, in welche Richtung sich das existenzielle Bedürfnis, etwas oder jemanden zu bewegen, ausprägt4. Erst indem die Biophilie als der Wunsch nach Lebendigkeit und Einheit in ihrem Wachstum gehemmt wird, ist es der Nekrophilie möglich, sich als ebenso im Menschen angelegtes Potential zu entfalten und sich als psychologische Alternativlösung anzubieten.
Der Weg in die Nekrophilie: Wenn das Leben unterdrückt wird
Nun gibt es diverse Wege, jenen Wunsch nach Leben in einem Menschen abzutöten. Allein über Bildung und Erziehung lässt sich ein solcher Konformitätsdruck und eine solche Bedürfnisunterdrückung evozieren, dass jeder Mensch auf Dauer einem Traumatisierten gleicht. Jemandem, der gewisse, ungewollte, Anteile von sich und seiner Person abgespalten hat. Einen Menschen zum Gehorsam zu dirigieren und somit einen fremden Willen zu seinem eigenen werden zu lassen, ist folglich nicht schwer. Es ist gar so leicht, dass es in der Masse angewandt wird: Indoktrination, Propaganda, Dissenskontrolle, Empörungsmanagement, Gaslighting, Täter-Opfer-Umkehr, individuelle wie kollektive Zersetzung bis hin zu Folter und von langer Hand geplanten Schockstrategien – man könne glatt meinen, “man kennt’s”.
“Wahre Gemeinschaft ist wesentlich Gemeinschaft verantwortlicher Personen – bloße Masse aber nur Summe entpersönlichter Wesen.”
- Viktor E. Frankl
Es steht außer Frage: “Krieg, Gewalttätigkeit, Verbrechen haben ein Ausmaß erreicht, das die Aufdeckung ihrer Ursachen zu einer Frage des Überlebens macht.”5 Auffällig ist jedoch, dass innerhalb dieser Kontexte meist nur davon gesprochen wird, “den menschlichen Geist zu brechen”. Ziel ist es, diesen für jederlei Form von Fremdbestimmung verfüg- und verführbar zu machen. Nicht aber, dass der bis dato “gute” Mensch fortan ein intrinsisches und somit eigen-dynamisches Verlangen nach Destruktivität entwickelt. Anders gesagt: Der Mensch wird zum Werkzeug des Bösen, nicht aber selbst böse. Betört und betäubt durch Salamitaktiken und Neusprech ist er weder im Stande, den Wolf im Schafspelz zu erkennen, noch, dass der Weg in die Hölle zumeist mit guten Vorsätzen gepflastert ist. Zu nah liegen gut und gut gemeint beieinander, um zu erkennen, dass man die Hand, die einen füttert, besser beißen sollte.
“Monsters exist, but they are too few in number to be truly dangerous. More dangerous are the common men, the functionaries ready to believe and to act without asking questions.”
- Primo Levi

Die Anatomie der menschlichen Destruktivität
Will man also verstehen, welches Kräfteverhältnis aktuell auf diese Welt herrscht, gilt es zu ergründen, wie Nekrophilie im Menschen entstehen kann und wie sie sich verbreitet. Es ist zu untersuchen, wieso sich Menschen gegen die Welt, gegen das Leben entscheiden. Schließlich reicht das Heraufbeschwören von Nekrophilie weit über das Erzeugen von Apathie und moralischer Gleichgültigkeit hinaus: Es greift tiefer als jede soziale Narkotisierung durch Konsumismus und mediale Überflutung mittels Nichtigkeiten. Um einen Menschen “böse” werden zu lassen, reicht es nicht, ihn präventiv von sozialen Bewegungen zu spalten. Es scheint nicht einmal auszureichen, ihn von sich selbst zu spalten: Der Mensch muss vom Leben gespalten werden.
Wird ein Mensch vom Leben getrennt, begibt er sich in einen Aggressionsmodus. Er beginnt, die Lebendigkeit anderer Lebewesen als eine Bedrohung wahrzunehmen und entwickelt daraufhin eine misanthropische sowie antinatalistische Haltung. Es gibt für ihn keine zu würdigende Realität mehr. So wie ihm das natürliche Leben kalt und fremd geworden ist, fühlt er sich auch mit seiner eigenen Natürlichkeit nicht mehr verwachsen. Folglich vermeidet er nicht nur den Kontakt mit den Dingen, die ihn auf seine (unterdrückte) Lebendigkeit und somit auch Sterblichkeit hinweisen könnten: Er beginnt, das Leben selbst zu verneinen. Oder vielmehr: Indem er das Leben, aus dem er stammt und das ihn trägt und hält, im Kern verneint, verneint er nicht nur sich selbst, sondern beraubt sich seines eigenen Existenzgrundes – seiner Menschlichkeit.
Erst in dieser scheinbar unumkehrbaren Enttäuschung wie Entfremdung, diesem Zerwürfnis mit dem Leben, entsteht jene Feindseligkeit gegenüber der Welt, in der der nekrophile Mensch denkt, “sollte er schon nicht aus dem Gefängnis seines totalen Narzißmus und ihres Abgetrenntseins ausbrechen können, so kann er doch dem unerträglichen Gefühl seiner vitalen Impotenz und Nichtigkeit dadurch entrinnen, daß er in einem Akt der Zerstörung des Lebens sich selbst bestätigt“6. Er entwickelt die Überzeugung, nur Gewalt könne Konflikte lösen. Das Leben gehört für ihn entweder kontrolliert oder vernichtet.
Der nekrophile Charakter erlebt nur die Vergangenheit und nicht die Gegenwart oder Zukunft als ganz real. Das, was gewesen ist, das heißt, was tot ist, beherrscht sein Leben: Institutionen, Gesetze, Eigentum, Traditionen und Besitztümer. Die Dinge beherrschen den Menschen; das Haben beherrscht das Sein; das Tote beherrscht das Lebendige.”7
Daraus folgt, dass auch der nekrophile Mensch fremdbestimmt zu sein scheint. Jene ihn beherrschende Dynamik ist nicht die seine. Ebenso wie der indoktrinierte oder manipulierte Mensch unterliegt auch er einem heteronomen Gehorsam. Sein Wollen wird überlagert von dem Willen des Haben und der Destruktivität. Nicht ausgeschlossen, dass beide sogar schon eins geworden sind.

Materialismus: Wenn Nekrophilie endemisch wird
Zweifelsfrei – nicht alle Charakterzüge der Nekrophilie gemäß Erich Fromm lassen sich eins zu eins auf die heutige Situation übertragen. Vielleicht ermöglicht aber gerade jene Inkonsistenz die Tatsache, dass wir als Gesellschaft von ihr, der Nekrophilie, so übermannt und ausgenommen werden können: Schließlich lebt die derzeitige Agenda davon, durch “Solidarität” das “soziale Wachstum zu fördern”. Gleichzeitig aber hält sie die Leute im Bann des Tagesgeschehens von Todesanzeige und Todesursache. Sie macht sich auf, neue Dinge in die Welt zu befördern, statt das Alte, “nicht bewährte”, weiterhin am Leben zu halten. Sie sieht keinen Profit darin, Individualität und Natürlichkeit zu fördern. Dafür sind beide zu schlecht standardisier- und kontrollierbar. Ihr Ziel ist es, die Welt in Zahlen, Statistiken wie leere Floskeln zu sperren und so jene Vorstellung vom unbelebten Leben zu erzeugen, die den Menschen dazu bewegt, dieses zu fragmentieren, zu technisieren und zu mechanisieren. Damit errichtet dieser nicht nur eine Alternativlosigkeit von Objektivität und Wissenschaftlichkeit, sondern zugleich eine „mechanisierte Existenz“, die das Leben nur noch hektischer und entseelter macht.
„Also die Dinge sind tot. … Von jeher hatten sie von der Mühe gelebt, die man sich um sie machte. Schwer begreiflich: aber um Mühe gaben sie Leben. Man wollte sie mühelos, man wollte sie hergestellt haben. Das gelang auch. Aber um den Preis ihres Lebens. … Eines Tags … wird in den Zeitungen stehen: Wie jetzt erst bekannt wird, sind die Dinge verstorben. Aber zur Zeit dieser Meldung werden nicht mehr Viele verstehen, was gemeint ist. Nur sehr alte Leute werden sich erinnern, in ihren jungen Tagen davon gehört oder gelesen zu haben: irgendwann einmal, vor Zeiten, lustige Vorstellung, sollten die Dinge, der Mond und der Bach und die Tanne, die Stadt und die Bucht und das Kornfeld gelebt haben.“
- Erhart (nicht Erich) Kästner
So wird die Nekrophilie zur wahren Massenerkrankung unserer Zeit: Sie entfernt die Menschen von sich und ihren Mitmenschen. Schlichtweg, weil fortan alles Lebendige außerhalb ihrer emotionalen wie kognitiven Reichweite liegt. Die Menschen werden unfähig für Demokratie, da ihnen das Gespür für Gemeinsinn fehlt und außer Stande sind, Verantwortung für ihre eigene Gesundheit zu übernehmen. Schlichtweg, weil sie nicht einmal mehr wissen, wie es sich anfühlt, wahrhaft gesund zu sein. Sie sind angewiesen auf das Außen, welches sich durch das Innere frisst, bis es dieses ersetzt. Haben sie einmal begonnen, mit diabolischen Kräften zu hasardieren, scheint es beinahe unmöglich, jene Büchse der Pandora wieder zu schließen.
„Wir leben in einem gefährlichen Zeitalter. Der Mensch beherrscht die Natur,
bevor er gelernt hat, sich selbst zu beherrschen.“
- Albert Schweitzer

Zurück in die Lebendigkeit
Solange wir uns gegen unsere eigene Lebendigkeit wehren und das Leben nur im Anbetracht des Todes betrachten, wird dieses immer nur Mittel, nie Selbstzweck sein. Der Mensch wird sein weder belebtes noch gelebtes Leben so lange verlängern wollen, bis er den Tod selbst aus dem Weg geräumt hat. Es scheint fast, als könne er nur ohne die Existenz des Todes einen wahrhaft freien Willen entwickeln und somit “frei” von jeglicher Angst und jeglicher Triebbefriedigung “leben”. Er versteht nicht, dass er erst dann wahrhaft selbstbestimmt leben kann, wenn er auch sterben gelernt hat. Wenn er ebenso das Leben als auch den Tod in sich zu integrieren und zu vereinen und somit in ihrer Alleinheit zu akzeptieren lernt.
Eins sollte damit klar sein: Sollten wir keine anderen Seinsbedingungen für ein menschenwürdiges Leben schaffen, wird sich der Mensch früher oder später selbst abschaffen. Es braucht mehr denn je eine Hegemonie der Lebensbejahung. Entwickeln wir als Menschen keine lebensbejahende Haltung, so verliert das Leben – verlieren wir.
„Die Besinnung auf den Tod ist Besinnung auf die Freiheit. Wer sterben gelernt hat, hat das Dienen verlernt. Die Kunst zu sterben befreit uns von aller Unterwürfigkeit und allem Zwang. Für den hat das Leben kein Übel mehr, der eingesehen hat, dass sein Verlust kein Übel ist.“ – Michel de Montaigne
Literatur(-empfehlungen):
Fromm, Erich (1977): Anatomie der menschlichen Destruktivität. Stuttgart: Dt. Verl.-Anst.
Houellebecq, Michel (2007): Gegen die Welt, gegen das Leben - H. P. Lovecraft. London (Rowohlt-Taschenbuch-Verlag).
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Fromm 1977, S. 331
ebd., S. 414
ebd., S. 373
ebd.
ebd., Klappentext
ebd. S. 322
ebd. S. 381