Wenn die Engstirnigkeit immer breiter wird
Warum Gesellschaften, die zum Konformismus erziehen, systemimmanent Leid erzeugen und wie diesem Rad zu entkommen ist.
Der Druck wächst. Täglich. Aus Angst, unterm Rad zu landen, unterdrückt der Mensch Bedürfnis und Gefühl. Schließlich sind sie es, welche die Beschränktheit des Systems erst spürbar werden lassen. Eigensinn erzeugt den Widerstand in jener Maschinerie, die zugunsten ihrer unablässigen Steigerungsspirale alles Individuelle zu nivellieren versucht. In ihrer Reichweitenvergrößerung baut sie eine solche Alternativlosigkeit auf, dass sich alles weitere unhinterfragt anzupassen und unterzuordnen hat.
Unwillig, ebenfalls von dieser Walze begraben zu werden, rationalisiert und negiert der Mensch alles, was ihn vom Funktionieren abhalten könnte. Was mit dem rationalisieren seiner Neigungen und Interessen beginnt, endet darin, dass er seine innersten Sehnsüchte und Träume verleugnet und als unnütz und nicht zielführend abwertet. Indem er sich daraufhin fragt, wozu es sich noch lohnt, in einem System, das auf Unmenschlichkeit beruht, menschlich zu sein, degradiert er sich zum Gegenstand fremder Erwartungen und somit selbst zum Objekt.
“Von innen sieht das Hamsterrad wie eine Leiter aus.”
- Hannu Pulkkinen, Worte sind Taten - neue finnische Aphorismen
Reine Kapitalismuskritik ist an dieser Stelle unbefriedigend. Die eigentlichen Initialstörungen unseres Selbstwertes greifen tiefer. Um besser verstehen zu können, wie in einem Menschen das zutiefst innere Bedürfnis, Gestalter seines eigenen Lebens sein zu wollen, gebrochen werden kann, folgt nun ein pseudosoziologischer Rundumschlag über Erziehung und Anerkennung inklusive Gegenwartsbezug.
Wenn Kinder objektifiziert werden
Folgt man Gerald Hüther, resultiert Selbstverneinung und Selbsterniedrigung aus dem frühkindlichen Gefühl, nicht verstanden zu werden. Durch verbales oder nonverbales Verhalten wird dem Kind zu verstehen gegeben, dass es so, wie es ist, “nicht richtig sei”. Die dem Kind natürlicherweise innewohnenden Bedürfnisse, Träume und Wünsche werden delegitimiert. Sie werden für nicht relevant, nicht beachtenswert, gar für unnatürlich erklärt. Laut Hüther sei dies „das Schlimmste, was einem Kind passieren kann: Dass es in seiner Einzigartigkeit nicht gesehen wird. Dass es das Gefühl hat, dass es bei Menschen aufwächst, mit denen es sich - so wie es ist - nicht verbunden fühlen kann, weil es nicht so – wie es ist – angenommen wird. Weil man ihm nichts zutraut, weil man immer irgendwas aus ihm machen will, weil es wie ein Objekt behandelt wird.”
Das Infiltrieren von Gefühlen der Unfähigkeit und Unverstandenheit vermittelt dem Heranwachsenden den Eindruck, kein selbstbestimmter Mensch zu sein. Anstatt, dem Kind also beizubringen (geschweige denn vorzuleben), auf sein eigenes Empfinden zu vertrauen, entfernt man es von diesem. Die Entwicklung jeglicher Intuition wird sowohl im Kern erstickt wie auch fortlaufend unterbunden. Dies geht soweit, bis das Kind anfängt, jene für “falsch” erklärten Neigungen selbst zu unterdrücken. Es verdrängt die ungeliebten Anteile seiner Person so lange, bis diese sich irgendwann in der von Leistungsdruck und Zugzwang verursachten Dauerbeschallung seines Lebens nur noch durch Depressionen, Süchte und anderen Eskapismen verlautbaren können.
Wenn Kinder aufhören, sich selbst zu spüren
Wird ein Kind derart durch seine Eltern oder das Bildungssystem (sprich durch unsere Gesellschaft) zum Objekt fremder Erwartungen degradiert, eröffnen sich nur zwei Möglichkeiten, um jener Qualitätsanforderung zu entkommen: Entweder das Kind erklärt den Leistungsanfordernden für blöd oder es sucht die Ursache der Qualitätsmängel bei sich und erklärt sich selbst für blöd. In beiden Fällen erlischt das menschliche Grundbedürfnis nach Verbundenheit und Zugehörigkeit einerseits sowie Autonomie und Freiheit andererseits. Tritt jedoch letzteres ein und das Kind erklärt sich selbst als “zu doof” für diese Welt, reduziert es sich fortan zum „Objekt seiner eigenen Bewertung“ und bezeichnet sich selbst als nicht liebenswert.
Hat ein Kind dementsprechend nie gelernt, sich selbst als Subjekt anzuerkennen, wird es auch nie eine subjektive, sprich lebendige, Perspektive auf die Welt entwickeln. Es nimmt sich und die Welt stets nur als Mittel, nie als Selbstzweck wahr. Alles wirkt koordiniert, kalkuliert, kontrolliert. Jede tiefere Verbindung zu anderem Leben scheint gekappt, unzugänglich oder verborgen. Das Einzige, was in dieser Entfremdung noch zu bleiben scheint, ist die Unbeteiligtkeit: Hat das Kind kein Mitgefühl mehr für sich, kann es auch kein Gefühl für andere mehr entwickeln. Was damit beginnt, sich selbst nicht mehr zu spüren, endet darin, auch andere nicht mehr zu spüren.
“Wie soll ein Kleinkind das Mitfühlen lernen, wenn niemand da ist, der fühlt?”
- Manfred Spitzer, Einsamkeit 2018
Interpersonale Anerkennungserwartungen vs. bedingungslose Liebe
Der einzige Weg, dieses Leben in Fremdbestimmung und Apathie gar nicht erst entstehen zu lassen, besteht für Hüther in der bedingungslosen Liebe von Kindern. Sie gilt für ihn als Grundvoraussetzung für jede spätere Form der Selbstliebe. Erst, wenn man bedingungslos sein Kind liebt, macht man es nicht zum Objekt seiner Erwartungen, sondern vermittelt ihm das Gefühl, dass es, so wie es ist, richtig ist. Kinder müssen in ihrer Einzigartigkeit gesehen, wertgeschätzt und schlussendlich auch anerkannt werden. Folglich gehören sie für Hüther auch nicht in gesellschaftliche, ihre Potenziale erstickende, Konventionen. Was nämlich aus diesen folge, nennt er das „Verwickeln von Potenzialen“: Die Kindern lernen nicht nur, sich selbst nicht treu zu sein, sondern dass einzig die “Anpassung” dazu führt, “gesehen” und gewürdigt zu werden.
Die “Ent-Wicklung” dieser Potenziale könne für ihn jedoch erst dann stattfinden, käme dieser Mensch wieder “mit sich selbst in Berührung”. Was es hierzu bräuchte sei die gelebte Authentizität innerhalb zwischenmenschlicher Beziehungen. Die durch sie aktivierten Emotionen der ehrlichen Wertschätzung und wahren Liebe gilt für Hüther als Schlüssel unerschöpflicher Lebensfreude. Nur dadurch, dass wir einander als Subjekte begegnen, können wir Vertrauen und Verantwortung für unsere freie Lebensgestaltung gewinnen. So gilt für ihn, dass Menschen, die die Erfahrung machen konnten, “um ihrer selbst willen” geliebt zu werden, später auch keine Notwendigkeit mehr verspüren, um Anerkennung, Aufstieg und Ruhm zu kämpfen. Gleichzeitig gilt allerdings auch, dass erst, wenn wir aufhören, Kindern vorzuleben, dass es “normal” sei, andere Menschen wegzuschieben oder zu versuchen, sich auf ihre Kosten durchzusetzen, wir die Art und Weise ändern können, wie unsere Kinder mit sich und anderen umgehen1.
Nur so kann jenes Konglomerat aus Spontanität, Leichtigkeit und Freiheit entstehen, das sich einst Leben genannt hat. Jene Gefühle der Selbstwirksamkeit und Kohärenz, die uns ein gesundes Miteinander im Sinne der Salutogenese eröffnen2.

Kollektive Bedürfnisunterdrückung
Unsere Zeit ist geprägt von einer unübersehbaren Inkohärenz: Die Kranken gelten als gesund und die Gesunden als krank. „Angepasstsein“ ist die Norm und jede Abweichung schon eine mögliche Diagnose. Jene Freiheit und Lebendigkeit, die wir uns so sehnsüchtig herbeiwünschen, assoziiert die Mehrheit unserer Mitmenschen mit Gefahr, Unsicherheit und Kontrollverlust. Wer seine eigenen Bedürfnisse noch spürt und so entgegen dem “Behagen der Masse” versucht, sich trotz allem dieser Güter zu bedienen, wird als unsolidarisch, verräterisch oder gar als “rechts” betitelt.
Was aber ist, wenn das System, in dem die Mehrheit dieser Menschen sich für “gesund” erklärt, selbst krank ist? Wenn wir es mit Menschen zu tun haben, die aufgehört haben, sich selbst und andere Menschen zu spüren? Was ist, wenn dieser Apparat, der sich “Gesellschaft” schimpft, systemimmanent Leid erzeugt? Wenn er flächendeckend Menschen heranwachsen lässt, die keinen Bezug zu sich und ihrer natürlichen Mitwelt haben? Wenn er darauf aus ist, dass Menschen sich zum Objekt fremder Erwartungen degradieren. Eben, weil sie es nicht anders kennen. Weil ihnen nie jemand gezeigt hat, dass die schönere Welt, die unser Herz kennt, möglich ist. Sie wissen nicht, was sie wirklich wollen, geschweige denn, wer sie wirklich sind.
Woher auch? Sie haben nie gelernt, für sich selbst einzustehen, weil sie gar nicht wissen, was oder wer dieses Selbst überhaupt ist (mehr dazu hier und hier).
“Nur wer gesunden Menschenverstand hat, wird verrückt.”
”Je kleiner die Bürger, desto größer das Imperium.”
- Stanisław Jerzy Lec
Man könne meinen, es herrsche eine kollektive Bedürfnisunterdrückung. Weltweit. Unbewusst als auch bewusst. In den vergangenen Jahrzehnten wurde der Mensch systematisch so klein gemacht und gehalten, dass er sich gar nicht mehr vorstellen kann, wie ein selbstbestimmtes Leben aussehen könnte: Mittels Kaiserschnitt und Krippenerziehung wird frühzeitig jene tiefe Verbindung zu den Eltern unterbunden, die später zu einer festen (Wert-)Orientierung führen könne. In der Schule wird das Kind zum “Beschulten” deklariert und gleichzeitig seines eigenen Bildungsweges enteignet (mehr dazu hier). Fehlt diese fundamentale “Bindungsbildung” zu sich und anderen scheint der Mensch später außer Stande, aus sich selbst heraus, neue Horizonte und Handlungsmöglichkeiten zu erschließen. Wie auch? Unfähig sich selbst neu zu denken, erscheint ein Umdenken des “Systems” erst recht unmöglich.
Seit der Bologna-Reform spielt die Erzählung der Modernisierung auch bei der (Aus-)Bildung von Studenten eine noch wichtigere Rolle: Sie werden zur ständigen Leistungsoptimierung im freien Wettbewerb trainiert, statt zum „selbst Denken“. Sie lernen, dass soziale Benachteiligung irgendwie gerecht ist, weil sie oft die Konsequenz einer mangelhaften oder fehlenden Leistung ist, also selbstverursacht. Die Kultur der Modernisierung wird nicht nur von den Eliten verinnerlicht, sondern auch von den Massen. In dieser Kultur werden Tradition und Alltagskultur als „rückständig“ abgewertet, während Moderne und Hochkultur zu Leuchttürmen stilisiert werden, an denen sich Menschen orientieren sollen, um Wertschätzung und Anerkennung zu erfahren. Eine Jugend, die in dieser Kultur sozialisiert wird, verlässt das „rückständige“ Land, um in die „moderne“ Stadt zu ziehen. Die verinnerlichte soziale Ungleichheit drückt sich auch als Scham aus, zum Beispiel wenn Arbeiter oder Migranten das Wort nicht ergreifen, weil sie ein Minderwertigkeitsgefühl vor Akademikern spüren. Auch Menschen, die Ungerechtigkeit täglich erleben, rebellieren nicht unbedingt, wenn sie die soziale Kontrolle verinnerlicht haben und eine Art Selbstzensur ausüben: „Es gehört sich nicht, laut zu protestieren!“.
- Davide Brocchi 2019, S. 46“The schools we go to are reflections of the society that created them. Nobody is going to give you the education you need to overthrow them. Nobody is going to teach you your true history, teach you your true heroes, if they know that that knowledge will help set you free.”
- Assata Shakur, An Autobiography, p. 181
Was es heißt, Lebendigkeit neu zu denken
Ohne jemanden von seiner persönlichen Verantwortung freisprechen zu wollen, gilt es zu erkennen, dass wir in einem System leben, das Konformität belohnt und somit auch zum Konformismus erzieht. Wichtig hierbei sei es jedoch, zu erkennen, dass unsere Gesellschaft nicht nur aus Individuen besteht. Sie drückt vielmehr “die Summe der Beziehungen, Verhältnisse aus, worin diese Individuen zueinander stehn”3. Folglich ist es “nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt”4. Wollen wir also in Zukunft selbstbestimmt und frei leben, bräuchten wir “eine Neubetrachtung der Werte, die Menschen in ihrer kooperativen Lebendigkeit stützen”5.
“Society is collapsing and people are starting to recognize that the reason they feel like they’re mentally ill is that they’re living in a system that’s not designed to suit the human spirit.” - Jim Carrey
Hat man dies erst erkannt, scheint sich jeder weitere Knoten wie von selbst zu lösen: Selbst-Wirksamkeit in Kooperation mit anderen Menschen erscheint als einzige Herangehensweise, um der Lebendigkeit zurück in diese Welt zu helfen. Nur im Undenken unseres gesellschaftlichen Miteinanders lassen sich jene Nischen erschaffen, die der “Andersartigkeit” in uns Raum geben. Die es ermöglichen, bislang ungesehene Talente anzuerkennen und zu fördern. Hierzu braucht es in erster Linie reflexions- und innovationsfähige Menschen, die in einem Strukturwandel Potenziale erkennen und gegenwärtige Verhaltens- und Konsummuster hinterfragen.
Erst wenn wir begreifen, dass wir in die Richtung, in die man uns derzeit versucht zu steuern (ID 2020 und Verkünstlichung des Menschen), nicht gehen möchten, können wir uns bewusst für einen anderen Weg entscheiden. Wir müssen lernen, für uns selbst Partei zu ergreifen und über unser Leben selbst zu bestimmen. Andernfalls wird die Walze uns irgendwann überrollen. Sie kennt nämlich nur diesen einen Weg.
“Das Leben beginnt dort, wo die Angst endet” - Osho
Literatur(-empfehlungen):
Antonovsky, Aaron; Franke, Alexa (1997): Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit (Forum für Verhaltenstherapie und psychosoziale Praxis).
Brocchi, Davide (2019): Nachhaltigkeit und soziale Ungleichheit. Warum es keine Nachhaltigkeit ohne soziale Gerechtigkeit geben kann. Berlin Heidelberg New York (Springer-Verlag).
Feiring, Sami (2010): Worte sind Taten. neue finnische Aphorismen.
Göpel, Maja (2020): Unsere Welt neu denken. Eine Einladung. Berlin: Ullstein.
Marx, Karl (1859): Zur Kritik der politischen Ökonomie. (F. Duncker).
Marx, Karl (1974): Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. Berlin (Dietz Verlag).
Shakur, Assata (2001): Assata. An Autobiography. London (Zed Books).
Spitzer, Manfred (2018): Einsamkeit. die unerkannte Krankheit : schmerzhaft, ansteckend, tödlich. München (Droemer).
Wagenhofer, Erwin (2013): alphabet. Angst oder Liebe. Unter Mitarbeit von Sabine Kriechbaum und André Stern. 1. Auflage. Wals: Ecowin.
Und wenn du mir etwas spenden möchtest, damit ich weiterhin bei Tee und guter Laune lesen und schreiben kann, nutze gerne Paypal oder schreib mir.
Wagenhofer 2013, S. 150
vgl. Antonovsky 1997
Marx 1974, S. 189
Marx 1859, S. 9
Göpel 2020, S. 72f.