Eine Gruppe von Stachelschweinen drängt sich aneinander. Es ist Winter. Die Tiere frieren. Um der Kälte etwas entgegenzusetzen und sich selbst vor dem Erfrieren zu retten, rücken sie immer enger zusammen. Sie suchen die Wärme der anderen Stachelschweine. Doch diese Nähe tut weh: Denn je näher die Stachelschweine aneinanderrücken, desto mehr werden sie von den Stacheln ihrer Nachbarn gepikst. Insofern ein vollständiges Auseinanderrücken jedoch mit erneutem Frieren verbunden wäre, verändern die Stachelschweine ihren Abstand zueinander solange von Neuem, bis sie eine erträgliche Entfernung zwischen Distanz und Kälte sowie Nähe und Schmerz für sich gefunden haben. Auch sie wissen: Ganz alleine würden sie diesen Winter nicht durchstehen.
Diese Parabel zeichnete einst Arthur Schopenhauer1. Für ihn stand sie im übertragenen Sinne für die Gesellschaft als solche. Oder um genauer zu sein: unser In-Kontakt-gehen mit Menschen. Dieses berge schließlich – mehr als alles andere – das Risiko, verletzt zu werden. Wir öffnen uns und gehen eine Form von Be-ziehung ein, in der wir, so Schopenhauer, gleich zweierlei aufgeben: uns selbst und unsere Freiheit. Der Mensch, so schreibt er, «kann nur er selbst sein, solange er allein ist; und wenn er die Einsamkeit nicht liebt, wird er die Freiheit nicht lieben; denn nur wenn er allein ist, ist er wirklich frei.»
Was die Menschen gesellig mache, sei «ihre Unfähigkeit, die Einsamkeit und in dieser sich selbst zu ertragen». Anders als «intellektuell hochstehende Menschen», deren Vorteil darin bestünde, mit sich selber sein zu können, seien sie auf den sogenannten «Spiegel» zur Besserung ihrer selbst angewiesen. «Je weniger einer, in Folge objektiver oder subjektiver Bedingungen» es nötig habe, so Schopenhauer, «mit den Menschen in Berührung zu kommen», desto besser sei er dran. Insofern die allermeiste Gesellschaft für ihn ohnehin so beschaffen war, «dass, wer sie gegen die Einsamkeit vertauscht, einen guten Handel macht», hatte für ihn bereits das «Hauptstudium der Jugend» darin zu bestehen, zu lernen, die Einsamkeit zu ertragen. Allein in ihr ruhten das Glück und die Gemütsruhe, derer es als unmöglich galt, irgendwo anders als in sich selbst zu finden.
Ich, armer Tor
Da stehen wir nun. Gefangen in unserer eigenen Natur: Unser Bedürfnis nach Nähe lässt uns die Nähe unserer Mitmenschen suchen. Und unser Unvermögen, zwischen ihren Fehltritten und unseren eigenen Verletzungen unterscheiden zu können, lässt sie uns von uns wegstoßen. Hatte Schopenhauer recht? Können wir tatsächlich nur wir selbst sein, wenn wir alleine sind? Birgt jedes In-Beziehung-treten mit unseren Mitmenschen schlussendlich nur die Gefahr von Fremdschau, anstelle des gewünschten Einblicks in uns selbst? Wo hört die Projektion auf, und wo fängt die Introspektion an? Und können wir den Weg zu uns selbst wirklich nur im Alleingang bewältigen? Oder ist der besagte «Spiegel» nicht vielmehr ein Türöffner für jenen Raum, den wir nur gemeinsam betreten können: das Zwischenmenschliche in uns?
Zweifelsfrei: Wo immer ich Nähe zulasse, lege ich mein Innerstes ein Stück weit offen. Ich gebe mich meinem Gegenüber ein Stück weit «hin». Ich weiß: Ohne Öffnung kein Kontakt. Und ohne emotionales Band keine Beziehung. Doch geht mir in dieser Hin-Gabe auch etwas «verloren»? Oder wieso hatte ich in meinem Leben so oft das Gefühl, nachdem ich mit Menschen zusammen war, ein Stück weit «weniger» gewesen zu sein? Weniger ich selbst, weniger Mensch, weniger «da». Jede Hinbewegung nach Außen implizierte für mich anschließende Zustände des Ausgebranntseins. Ich begann, Menschen mit Verlust zu assoziieren: Sobald ich das Gefühl hatte, mich in meiner Hingabe an einen Menschen selbst zu verlieren, machte irgendetwas in mir «zu». Und weil dieses «Ende» innert meines Gefühlsraumes auch für den letzten Menschen ab einem gewissen Punkt spürbar ist, dauerte es meist nicht lange und der Abschied war absolut. Wer die «Trennung» als solche schlussendlich iniziiert hatte, ging meist verschütt unter der Frage, wer eher dazu bereit gewesen war, Nähe zuzulassen und wer nicht.
Ermüdet und frustriert vom ewigen Vor und Zurück beschloss ich, es wäre besser, mit mir (und den Büchern) alleine zu sein. Doch so «gerne» und viel ich dies auch war: Die Gewissheit, weder mit noch ohne «die anderen» sein zu können, wurde zu einem noch täglicheren Begleiter. Oder zu der Zerrissenheit, als die Nietzsche sie erkannte: «In der Einsamkeit frisst sich der Einsame selbst auf, in der Vielsamkeit fressen ihn die Vielen. Nun wähle.»
ㅤ
ㅤ
Die Einsamkeit mit Leere füllen
Noch während meines Studiums (der Selbstisolation) beschloss ich, nicht mehr wählen zu wollen. Die Option, fressen oder gefressen werden, klang mir auf Dauer dann doch zu plump. Gab es keinen Weg, Vielsamkeit und Einsamkeit ineinander aufzulösen? Müssen wir wirklich erst die Einsamkeit in uns besiegen, um den Weg zurück ins Leben zu finden? Oder können wir auch durch das Leben zurück ins Leben finden? Welche Lebendigkeit gilt es zuerst zu kultivieren? Die in uns, oder die um uns herum? Kann eines ohne das andere überhaupt bestehen? Oder können wir uns noch so sehr bemühen, unsere Umgebung in ein vital-organisches Geflecht aus Miteinander und Lebendigkeit zu verwandeln — solange wir diese in uns nicht spüren, wie können wir dann in eine ehrliche Beziehung mit dem Leben als solchem treten?
«Überlege wohl, bevor du dich der Einsamkeit ergibst,
ob du auch für dich selbst ein heilsamer Umgang bist.»
— Marie von Ebner-Eschenbach
Ich denke, langfristig betrachtet kommen wir nicht darum herum, zu lernen, mit uns selbst alleine sein zu können. Denn können wir dies nicht, wird einem ehrlichen in-Beziehung-treten immer etwas im Wege stehen. Wir sehen die Menschen nicht als lebendige Gegenüber und damit als Fortsetzung; als emotional-räumliche, als energetische Erweiterung unserer Lebendigkeit, sondern als vermeintliche Mittel zur Auflösung unserer eigenen Einsamkeit. Doch das wird nicht funktionieren. Und insgeheim wissen wir dies auch. Nichts und niemand in dieser Welt wird unsere Einsamkeit auflösen können, außer wir selbst. Und vielleicht nicht einmal das.
Diese Erfahrung durfte und darf ich zumindest machen. Es gibt Tage, an denen mir niemand näher ist als meine Einsamkeit. Und an denen ich folglich auch nicht in den Kontakt mit Menschen treten kann, bzw. es schlicht und einfach auch nicht will. Ich wüsste, dass es keiner ehrlichen Kontaktaufnahme, sondern meinem Bedürfnis nach Ablenkung entspringen würde. Und das würde sich nicht ehrlich anfühlen.
Doch wie gehe ich stattdessen um mit dieser Einsamkeit? Sie akzeptieren? Sie umarmen? Sie als Teil von mir betrachten? Oder höre ich irgendwann einmal damit auf, sie mit meinem Verstand begreifen zu wollen und fange an, sie zu fühlen?
Um ehrlich zu sein, ist das genau das, was ich derzeit mache. Ich liege hier mit meiner Einsamkeit. Und sie ist einfach nur da. Ich will zwar nicht behaupten, ich hätte aufgehört, sie begreifen zu wollen. Aber ich übe mich darin, den Raum, den sie einnimmt, durch nichts mehr ersetzen zu wollen.
Und was soll ich sagen? Sie wird weniger. Weil ich angefangen habe, wieder mehr bei mir zu sein. Und zu bleiben.
Arthur Schopenhauer (1965): Sämtliche Werke, Bd. 5: Parerga und Paralipomena: kleine philosophische Schriften, Teil 2, Kap. 31: Gleichnisse, Parabeln und Fabeln, § 396; (S. 765).
Diesen Post teilen