«Die Medizin, die Pathologie vor allem, ist die Heimat und Quelle des Materialismus. Und diese Quelle kann leider nicht durch philosophische Gründe verstopft werden; denn solange noch die Menschen leiden, wenn auch nur Hunger und Durst, und diese Leiden nicht durch idealistische Machtsprüche, durch wunderwirkende Worte, durch kategorische Imperative geheilt werden können, solange werden sie auch, wenn auch wider Wissen und Willen, Materialisten sein.» — Ludwig Feuerbach
Sie war schon lange offensichtlich: die Engstirnigkeit der modernen Medizin. Schon für Aldous Huxley bestand ihr eigentlicher Fortschritt darin, «dass es praktisch überhaupt keine gesunden Menschen mehr gibt.» Mit «Die Nemesis der Medizin» warnte Ivan Illich bereits 1975 vor der «Enteignung der Gesundheit». 1996 bezeichnete Hans-Georg Gadamer es in einem Gespräch mit Rüdiger Safranski als «Menschheitsaufgabe», «das große Vermächtnis unserer Wissenschaftskultur in seiner Begrenztheit einzusehen» («… denn sonst bringen wir uns mit Sicherheit irgendwann um»). Und in den 2000ern war es Giovanni Maio, der mit Büchern wie «Medizin ohne Maß?» das mechanistische Menschenbild der modernen Medizin endgültig infrage stellte.
Wer zusätzlich Alexander Mitscherlichs Schrift «Medizin ohne Menschlichkeit», Herbert Marcuses Studien über den «eindimensionalen Menschen» oder die Konzepte Michel Foucaults zu Biomacht und Biopolitik in Bezug auf Machtkonstellationen, welche die medizinische Wissenschaft und Praxis formen, verinnerlicht hatte, hätte meinen können, es sei soweit alles gesagt, um sich im entscheidenden Fall auf Moral und nicht auf Moralismus stützen zu können. Argumente jedenfalls hätte es genug gehabt, das Szenario einer biopolitisch gesteuerten Welt vorwegnehmen zu können.
Hätte, meinen, können. Leider lassen sich Konjunktive nicht leben, sondern nur denken. Denn erschien es Gadamer 1990 noch als trauriges Abtreten unserer «höchsten, eigensten, persönlichsten Rechte und Pflichten», sollte es von der Wissenschaft abhängen, ob wir uns für etwas verantwortlich fühlen oder nicht, schien jeder zuvor entworfene Ethos und jede Kritik an Szientismus oder Expertokratie spätestens in dem Moment vom Tisch gewischt, als das Antlitz der zu Beginn 2020 ausgerollten Angst jeden Anspruch auf «persönliche Rechte und Pflichten» als relativ, wenn nicht sogar als nichtig erschienen ließ. Aus «meinen» wurde «wissen», aus «dürfen» wurde «sollen» und aus «können» wurde «müssen». Solange, bis das Zwangskorsett äußerer Rechte und Pflichten von dem eigenen «Wollen» nicht mehr zu unterscheiden war.
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Während Gunnar zu Illichs «Monopol» der Medizin auf unsere Gesundheit oder der Schwierigkeit, Menschen durch Argumente zu überzeugen bereits eindeutige Worte verloren oder über die Freiheit wie den Missbrauch der Wissenschaft spannende Interviews geführt hat, möchte ich in diesem Text abermals eine anthroposophische Perspektive einnehmen und aus dieser heraus die Fragen stellen: Wie konnte es so weit kommen? Welche Abzweigung hat der Mensch gewählt, dass er sich so sehr verbogen hat? Und welche Weichen gilt es (zurück)zustellen, um seinen Fahrplan langfristig gen Selbstbestimmung auszurichten? Und wie sähe ein Verhältnis zu Geist und Körper aus, in dem wir nur bis zu dem Grad auf Medizin und Wissenschaft zu «hören» bräuchten, wie sie uns nützen, anstatt schaden würden? Kurzum: Worin bestünde eine menschenwürdige Medizin? Und wie gestaltet sich eine lebensförderne Wissenschaft?
ㅤTote Geister
«Es ist in der Tat ein eigentümliches geistiges Schicksal der Menschheit, dass sie in der geistigen Welt lebt und es nicht weiß und nicht wissen will. Dieser Irrtum der Menschen, nicht zu wissen, dass sie in einer geistigen Welt leben, das ist es, was das Unheil über die Welt heraufgebracht hat, das macht, dass die Kriege immer blutiger und blutiger werden und dass immer deutlicher und deutlicher wird: die Menschen sind wie besessen. Sie sind auch von den bösen Mächten besessen, die sie durcheinanderführen, denn sie reden gar nicht mehr, als ob sie dasjenige aussprechen würden, was in ihrem Ich liegt. Sie sind wie von einer Psychose besessen.» — Rudolf Steiner1
Wenn es darum ging, verstehen zu wollen, wie das materialistische Denken in der modernen Medizin Einhalt gefunden hat, war es für Rudolf Steiner unerlässlich, eine entscheidende Linie der europäischen Bewusstseinsentwicklung zu skizzieren, um anhand von ihr den Zusammenhang der Gegenwartskrise mit den Vorgängen des 4. und 15. Jahrhunderts zu rekonstruieren. Ihn, den Urverlust der lebendigen Geistigkeit als den Moment, von dem an die Menschen die alten «Eingebungen» verloren und stattdessen begannen, «verstandesmäßig» zu denken, führte er schließlich auf nichts Geringeres als die Abspaltung des Menschen von seinem instinktiven Wissen und das darauf für ihn gefolgte Verstummen der Welt zurück.
Oder konkreter: auf das Aufkommen des Abendlandes und sein Zurückdrängen jener Weisheit der alten Griechen und des Mithraskultes mitsamt seines «lebendigen Wissens» zurück in den Orient; den anschließenden Einflussverlust des Griechentums auf das Römische Reich im 4. Jahrhundert n. Chr. und dem sich daraufhin durchsetzenden romanischen Geist mit seiner «toten» lateinischen Sprache; auf den Kaiser Justinian, der die Schriften des Origenes für ketzerisch erklärte, die römische Konsulwürde abschaffte und die griechische Philosophenschule von Athen schloss; auf das seit ihm bzw. Konstantin in den Umgang mit der Wahrheit und dem Wort vorgedrungene ägyptisch-römische «Feststellungs-Prinzip», dessen «Übergang von der orientalischen alten Gedankenstellung aus der Welterkenntnis heraus zu der besonderen römisch-europäischen Art der Feststellung», nur noch durch Beschlüsse festzustellen vermochte, was die Wahrheit ist und folglich das Verständnis des Christentums aus der vorchristlichen Weisheit herausgeschnitten habe; sowie auf seine schlussendliche Vermaterialisierung des menschlichen Erkenntniszugangs weg vom «Leben im Leibe, das gerade dadurch die kosmische Geistigkeit erlebte» hin zum «Leben im Geiste, das sich der Materie zuwendet und sich selbst verkennt.».
«Der Orientale lebte in der geistigen Welt und mußte die materielle aus ihr heraus begreifen. Der Europäer lebt in der materiellen und muß die geistige von daher zu begreifen suchen.»
Geistentfremdung, Leibesferne, Wirklichkeitsverlust: Gleich ihre Halbblindheit noch immer einsame und vereinzelte Menschen zugelassen habe, die als «europäische Weisen» und Gralssucher weiterhin versuchten, das Geheimnis des Kosmos und seiner «ätherischen Astronomie» mit der Erkenntnis von der Bedeutung des Mysteriums von Golgatha zu vereinigen, – sowie innerhalb ihrer Wahrheitssuche bestrebt waren, eine Form des «Ich-Aufschwungs» aus eigener Kraft zu vollziehen, – sollte auch ihre untergründige Strömung mit Ende des Mittelalters verstummen. So ätherisch sie auch lebten – die Vermaterialisierung des Denkens konnten sie nicht mehr aufhalten: Denn mit den Anfängen der modernen naturwissenschaftlichen Anschauung im ersten Drittel des 15. Jahrhunderts, so Steiner, sei die Bewusstseinsseele, in der sich das menschliche Denken bis dahin als «lebendig» und wenn auch verstandesbezogene Aktivität im ätherischen Leib ereignet hatte, vollständig an den physischen Leib übergegangen; und habe dort den Boden bereitet, auf dem der Übergang, das «Gleiten» in eine andere, ahrimanische «Weltgeschichte» stattfinden konnte.
Sie, die Ahrimanisierung der Welt und ihre «ganze medizinische Abschattung»2 – auf die ich gleich noch genauer eingehen werde – währt bis heute. Ihren Übergang zwischen der rein äußerlichen Aufnahme von Wissen hin zur Zementierung des Menschen Umgang mit sich und seiner Welt im ausschließlich außerhalb seiner Selbst Gelegenen führte Steiner auf den in der Mitte des 19. Jahrhunderts zu verortenden Höhepunkt der Gestaltung und Strukturvollendung des physischen Leibes (insbesondere des menschlichen Gehirns) zurück: Der durch sie ermöglichte Aufschwung der materialistischen Weltanschauung als Theorie in seinem «physischen Denken» habe die Menschheit zum Materialismus hingetrieben und den Weg der physischen Organ-Pathologie der neuzeitlichen Medizin entwickelt. Beruhte die Auffassung von «Wirklichkeit» bis dahin noch auf dem Nerven-Sinnes-System und seiner in Zusammenhängen wahrnehmenden Weltorientierung von Umwelt, Kosmos und Leiblichkeit; galt spätestens ab dann nur das als «real», was als materielles Geschehen be-griffen werden konnte.3
Die Veränderungen des 19. Jahrhunderts im Konkreten führte Steiner auf das Ende des Christentums zurück: Gleich seine Kirchen als solche noch immer existierten, habe der Geist des 19. Jahrhunderts nicht einmal mehr eine innerliche Beziehung zu den «schlichten Erzählungen aus Palästina» erlaubt und zu der Symbolik einer «Handlung von höchster kosmischer Bedeutung» konnte kein realer Sinn mehr hervorgebracht werden. Was ab dem 19. Jahrhundert blieb, bezeichnete Steiner folglich als «verdünnten Geist» in Form des Intellekts, dieser sich, so wiederum Peter Selg, «in seiner Abstraktion, seiner eigenen Leere, fortan der Materie zuwandte, um sein eigenes Vakuum zu füllen. Die Materie und die sinnenfällig nachweisbaren Vorgänge, auch die sinnlichen Umstände des Lebens, wurden zum bestimmenden und zunehmend einzigen Lebensinhalt. Es entstand ein neues, sinnesgestütztes Selbstbewusstsein des Menschen – um den Preis jenes ‹Weltbewusstseins des Geistes› oder ‹geistigen Weltbewusstseins›, das nahezu vollkommen verloren gegangen war.»4
In dieser Ödnis von Welt und Wahrnehmung habe sich nicht nur die Beziehung zum geistigen Leben verändert, sondern, so Selg, «die Menschen selbst». Er schreibt: «Sie wurden – zumindest tendenziell – zu intellektuellen ‹Schattenwesen›, deren Tageserlebnisse keinen Eingang mehr in die nächtliche Welt des Geistes finden konnten – und sie waren auf der anderen Seite, am Willenspol ihrer Organisation und Existenz, zunehmend den ‹Instinkten› ausgeliefert. In der Außenwelt gewannen die wirtschaftlichen Verhältnisse an ‹Wucht› und ‹Brutalität›, wobei das schattenhafte Denken des Menschen immer weniger dazu in der Lage war, die Wirklichkeit des ökonomischen Lebens ganz zu erfassen; das ‹schattenhafte› Denken konnte nicht wirklich in dasjenige eindringen, ‹was sich äußerlich in der brutalen wirtschaftlichen Wirklichkeit abspielte›»5.
ㅤDie Ahrimanisierung der Wissenschaft
«Etwas ganz Unpersönliches, Unindividuelles, das ist dasjenige, was man auf diesem Gebiete als das Richtige betrachtet, und man hat eine greuliche Angst davor, dass irgendwie etwas Persönliches in dieses Wissen, in dieses Werk des menschlichen Verstandes hineinziehen könnte. Gerade auf diesem Gebiete gilt das Nivellieren der ganzen menschlichen Kultur am allermeisten. Man ist stolz darauf, nur ja nicht abzuweichen von dem, was ein für alle mal in einer gewissen Weise formuliert ist. Also man möchte dasjenige, was Wissenschaft ist, vom Menschen absondern.» — Rudolf Steiner6
Steiner betrachtete den Materialismus in gewisser Beziehung als eine «Prüfung» für die Menschheit, die durchzumachen war. Indem er die äußere Welt als Spiegel ihres seelisch-geistigen Innenlebens betrachtete, war ihr Mangel an lebendigem Ausdruck im Außen für ihn nichts weiter als Ausdruck ihres eigenen Mangels an Lebendigkeit in ihrem eigenen Inneren («Wenn Sie den Spiegel zerbrechen, kann sich nichts mehr spiegeln»). Folglich erschien es ihm auch als «richtig, daß das Festhalten an dem Materialismus jetzt einen furchtbaren Schaden bringen muß, und daß dasjenige, was wir an furchtbaren Weltkatastrophen und Menschheitskatastrophen durchmachen, eben darauf beruht, daß die Menschheit an diesem Materialismus in weiten Kreisen festhalten möchte».
Dementsprechend sah er auch «nicht nur autoritäre Machtpolitiker, neue Imperialisten und totalitäre Diktaturen voraus, sondern die weiter anwachsende Dominanz dessen, was er als das ‹ahrimanische› Prinzip beschrieb und im zivilisationsbestimmenden Materialismus und in seiner ‹geistentblößten Naturwissenschaft› wirksam sah»7. Der in seiner Fixierung auf die nur sinnlich-physisch begriffene Welt sichtbar gewordene «furchtbare Hang zur Oberflächlichkeit» zeichnete für ihn bereits früh ein folgenschweres Schicksal: «Der Mensch werde ausschließlich als erbgenetisches Produkt angesehen werden, ohne reale Freiheitsmöglichkeiten und ohne reale Eigenverantwortung ‹von irgendetwas zu sprechen, was in des Menschen eigene Entscheidung gelegt ist, ist [im materialistischen Verständnis des Zentralnervensystems] ein Unsinn, darauf braucht man keine Rücksicht zu nehmen.›»
Indem in dieser Zukunft bereits der als «abergläubisch» gelten sollte, der von einer «besonderen Geistigkeit» spricht, warnte Steiner bereits 1921 vor der, so wörtlich, gefährlichen «Ahrimanisierung» und «Automatisierung der Menschheit, im Sinne seiner früheren Ausführungen zur bevorstehenden Inkarnation Ahrimans» (meine vorhergeganenen Texte zu Ahriman finden Sie hier, hier, hier oder hier). Dieser träte innerhalb der Mysterien schließlich insofern an den Menschen heran, dass er diesem aus seiner eigenen «Festigkeit» und «Härtung», aber auch durch alle verdichtenden, sklerotisirenden Kräfte, die zu ihm gehören, heraus einen «sicheren Boden» verspräche. Ahriman gilt als «Kenner der Weltgesetze». Doch genauso wie sich diese für ihn auf nichts weiter beschränken als seine eigene, ahrimanische Erdenwelt und den für ihn leeren, physikalischen «Kosmos», verdichtet er auch die Sinnes-Erfahrung des ihm hörigen Menschen auf dessen irdische Präsenz und verspricht ihm zugleich, «in seiner alleinigen Orientierung am Sinnes-bezogenen Verstand zum «Selbstsinn» zu kommen»8. Als intelligenter Verführer, aller Täuschung Vater und ein «Geist des Trugs», der – «klug berechnend» – mit Aspekten der Wahrheit arbeitet, bemächtigt sich Ahriman «der schlafenden Menschenseelen, aber auch ihrer guten Werke, sofern sie sie nicht mit den besten Kräften ihrer Individualität in Verbindung halten und schützen können»9.
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Wissenschaften ohne menschliche Selbsterkenntnis betrachtete Steiner per se als schädlich. Indem sie zu der besagten «Verahrimanisierung» der Menschheit führten, sah er in ihnen auch die Ursache jenes «ausgehöhlten» Menschen, der nichts mehr von sich selber wisse.10 Ihn interessiere es gar nicht mehr, was er selbst in der Welt eigentlich für ein Wesen sei. Vollends abgetrennt von sich und seinen äußeren Handlungen merke er nicht einmal mehr, wie er seine Welt von einer artifiziellen Schicht überzieht, in der nur noch Maschinen vorhanden sind, – nicht aber das Leben, dem auch er, selbst wenn er es nicht mehr spürt, als solchem noch zugehörig ist. Rudolf Steiner sprach in diesem Zusammenhang von der Errichtung eines «Leichenfeldes», das dem eigentlichen «Grundlebendigen der Welt» sein Dasein raube. Durch den Menschen. Und das, ohne dass dieser sich dessen bewusst wäre.
Den Weg ins Wahre selber finden
«So wie uns eine lebendige Astronomie zeigen wird einen Himmel, einen Kosmos, der wirklich von jener Geistigkeit durchdrungen ist, aus der der Christus heruntersteigen kann, so wird uns die verlebendigte Medizin den Menschen wiederum so vorführen, dass wir ihn ergreifen mit unserem Wissen, mit unserem Erkennen bis in sein Geheimnis des Blutes hinein, bis in diejenige organische innere Sphäre, wo sich die Kräfte des Ätherischen, des astralischen Leibes, des Ichs umwandeln in das physische Blut. In dem Augenblicke, wo wir das Geheimnis des Blutes ergriffen haben von einer wirklich medizinischen Erkenntnis und wo wir begriffen haben die Weltensphäre, die kosmische Sphäre durch eine durchgeistigte Astronomie, werden wir verstehen, wie aus diesen kosmischen Sphären der Christus heruntersteigen konnte auf die Erde und wie er finden konnte auf der Erde den Menschenleib, der mit seinem Blute ihn aufnehmen konnte. Es ist das Geheimnis des Grals, das im Ernste auf diese Weise gesucht werden muss: uns mit dem ganzen Menschen, mit Kopf und Herz auf diesen Weg nach dem spirituellen Jerusalem zu machen. Das ist die Aufgabe der modernen Menschheit.» — Rudolf Steiner11
Gemäß Steiner leben wir in einer Zeit, «in der vielen Menschen das aufgehen muss, was zu geschehen hat», und in der «Nicht-Aufsteigenwollen» gleichbedeutend ist mit «Niedergehenwollen». Während die Natur-Erkenntnis früherer Zeiten für ihn stets mit menschlicher Selbsterkenntnis oder zumindest mit Selbsterfahrung verbunden war, zerbrachen die modernen Naturwissenschaften diesen Spiegel des Menschen zwischen sich und seiner Welt und begannen stattdessen mit der reinen Reproduktion seiner Physis wie materialisierten Gedankenwelt. Aus ihr, so Steiner, käme der Mensch nur heraus, indem er seine Härte gegenüber sich und der Welt durchbreche und stattdessen in eine «Wiederbelebung» des Denkens fände. Um den grundlegenden Veränderungsprozess, der in der Gegenwart des 20. Jahrhunderts eingesetzt habe, zu befördern und zu unterstützen, habe dieser in eine Form der Imagination zurückzufinden, die einzig leiblich – nicht körperlich –, sprich durch das Gefühl – nicht durch den Verstand, neu zum Leben ausgerufen werden könnte. Nur so könnte er den Materialismus und seine Folgekatastrophen überwinden: «wenn die Intellektualität sich imaginativ, inspirativ und intuitiv vertieft und der Mensch dadurch zu einer neuen Geistigkeit gelangt, zum ‹lebendigen Geist›»12. Oder um Steiner selbst zu zitieren:
«Ernst sind die Zeiten, denn der Mensch muß Mensch werden. Er muß lernen abzutun sowohl den Knächernen [Ahriman] wie den Schleimigen [Luzifer] und muß Mensch werden, Mensch werden so, daß der Intellekt durchwärmt werde vom Herzen, das Herz durchzogen werde vom Intellekt. Dann wird er das Äquilibrium finden. Und in der Tat wird dann der Mensch weder verfallen - wenn man geistig sprechen will - schleimiger Mystik noch kahlköpfiger Wissenschaft, sondern dem wird er sich öffnen, was Mensch ist, und was ich vielleicht nennen darf, nachdem ich es charakterisiert habe, das Anthroposophische. Das steht mitten drinnen, das wirklich Menschliche, das Anthroposophische, es steht wirklich mitten drinnen zwischen diesen Gegensätzen, in welche die Zivilisation allmählich hineingekommen ist. Der Anthropos ist in Wahrheit, wenn er sein Wesen wirklich offenbart, weder der Verknocherte noch der Schleimige, sondern er ist derjenige, der das Aquilibrium zwischen dem Intellekt und dem Herzen hält. Das muß gesucht werden.»13
Was Steiner demnach als notwendige Humanisierung der Wissenschaft und «Menschwerdung des Menschen» vor Augen stand, lässt sich gemeinhin zusammenfassen als Wissenschaften mit dem «Gegenbilde menschlicher Selbsterkenntnis» im Sinne einer «Ergänzung» der «äußeren Wissenschaft» durch die «Wissenschaft von der Erkenntnis des Menschen»14. Er schreibt: «Keine Wissenschaft darf es geben, die nicht in irgendeine Beziehung zum Menschen gerückt wird. Keine Wissenschaft darf es geben, die nicht verfolgt wird bis in das Innerste des Menschen hinein, wo sie, wenn man sie dahinein verfolgt, erst ihren rechten Sinn erhält.» Die Wissenschaften der Zukunft müssten von menschlicher Selbsterkenntnis «durchleuchtet» werden. Nur so sei die Durchdringung des sozialen Lebens mit imaginativer Kraft möglich. Oder wie Steiner 1921 Edith Maryon in ein Buch schrieb: Den «wirkenden Geist» an die Stelle des gedachten zu setzen, heiße, in der Gegenwart die «soziale Grundforderung» empfinden.15
Indem es somit von «der Durchgeistigung unserer Naturwissenschaften» abhänge, ob «der Fortbestand der Seele, ihre Gesundheit, ja der Fortbestand des Seelenlebens selbst, die Abwendung des Seelentodes der Menschheit» langfristig gesichert werden könne, gelte es zu lernen, «die Welt um uns herum als eine geistige anzusehen». Es gehe, so Peter Selg, «um ein Bewusstsein der Tatsache, dass die Erde, ‹insofern sie Natur ist›, im Niedergang begriffen sei. Es gehe um ein Lebenlernen in einer geistigen Welt, in einer Welt des Geistes, um ein Vertrauen in den Geist und nicht in die sinnliche Welt, die keinerlei Sicherheit und keine Dauer verbürge.»16. Indem der Materialismus das genaue Gegenteil – die Unsicherheit und das Unvertrauen in die eigenen Sinne – repräsentiere, gäbe es für den Menschen wie kein Entkommen, seinen «Weg in die Wahrheit selber zu suchen» und «aktiv an dem Wahren mitzuarbeiten»17. Nur wenn er in sich selbst die Sicherheit fände, sich aufs Leben als solches in einer Lebendigkeit – in seiner Lebendigkeit – hinzubewegen, bestünde Hoffnung, den Impuls Christi eines Tages in der Welt verwirklicht zu sehen.
«Man braucht sie [die anthroposophische Geisteswissenschaft] zunächst einfach nur zu verstehen. Versteht man sie, so schafft man ja mit dem, was das Ich sich als Verständnis errungen hat, nun in die Nacht hinein. Da bleibt man nicht mehr stumpf, wie bei dem bloßen intellektiven Verhalten zur Welt, da lebt man vom Einschlafen bis zum Aufwachen mit einem anderen Inhalt in der fein filtrierten Geistigkeit. Und dann wacht man auf und hat eine allerdings immer nur kleine Möglichkeit des innerlichen Aneignens zugesetzt zu dem, was man sich bemüht hat, intellektuell zu verstehen. Aber ich möchte sagen, mit jeder Nacht, mit jedem Schlafen setzt sich etwas dazu von einer innerlichen Beziehung, der Mensch bekommt eine innerliche Beziehung. Er trägt das, was er als Nachklang seines Tagesverstehens in die außerkörperliche Welt hinausträgt, beim Einschlafen wieder herein, und dadurch bekommt er eine Beziehung, eine ganz aus dem Realen herausgeholte Beziehung zu der geistigen Welt».18
Von ihm oder ihr getragen, könne der Mensch zu dem zurückfinden, dessen einstiger Verlust ihn einst von sich selbst fortgeführt hat: zu einer lebendigen Astronomie und einer lebendigen Medizin. Erst wenn der Mensch dahingehend wieder in ein Verstehen – oder vielmehr: in ein Gefühl – käme, dass er selbst wie auch der Kosmos, in dessen Gestirnskräfte er eingebettet ist, in sich selbst lebendig sind wie auch sich in einer lebendigen Verbundenheit zueinander befinden, könne er den Kräften, die ihn einst aus dieser herausgetrennt haben, etwas entgegensetzen. In diesem verlebendigten Verhältnis zwischen sich und seiner Mitwelt bestünde wie kein Raum für die schleimigen Verführungen Luzifers oder die knöchernden Verkopfungen Ahrimans. Wo Bindung gelebt wird, ist kein Raum für Lüge oder Falschheit. Denn solange wir verbunden sind, sind wir im Gefühl. Und Gefühl ist Wahrheit.
(Wie sich dieser Weg zurück in die Lebendigkeit schlussendlich – unverkopft – gestalten lässt, dem möchte ich mich hier in Zukunft vemehrt widmen.)
Steiner, Rudolf: Perspektiven der Menschheitsentwicklung. Der materialistische Erkenntnisimpuls und die Aufgabe der Anthroposophie. GA 204, Seite 290f.
Ebenda, Seite 76.
Zitiert nach Selg, Peter (2021a): Geistiges Überleben. Der Abgrund des Materialismus und die Aufgabe der Anthroposophie, Seite 28
Ebenda, Seite 29.
Ebenda, Seite 30.
Rudolf Steiner, Die Verantwortung des Menschen für die Weltentwicklung durch seinen geistigen Zusamenhang mit dem Erdplaneten und der Sternenwelt. GA 203, S. 308f.
Selg, Peter (2021a), Seite 14.
Selg, Peter (2021b): Die Zukunft Ahrimans. Und das «Erwachen der Seelen». Zur Geistesgegenwart der Mysteriendramen. Dornach, Seite 29f.
Ebenda, Seite 30.
Selg, Peter (2021a), Seite 31.
Perspektiven der Menschheitsentwicklung, Seite 91.
Selg, Peter (2021a), Seite 36f.
Rudolf Steiner: Die Verantwortung des Menschen für die Weltentwicklung durch seinen geistigen Zusamenhang mit dem Erdplaneten und der Sternenwelt. GA 203, Seite 160f.
Ebenda, Seite 153.
Selg, Peter (2021a), Seite 38.
Ebenda, Seite 40.
Die Verantwortung des Menschen, Seite 199.
Perspektiven der Menschheitsentwicklung, Seite 160.
Liebe Lilly, danke Ihnen für einen wieder sehr lesenswerten Artikel - allein der Titel weckt schier grenzenlose Hoffnung im Falle, sie gelänge (die Wiederbelebung). Herzlichen Dank!
Ein Wermutstropfen sind für mich jedoch die spiegelhaften Verdoppelungen von Gustav Klimts (leider nur in der schwarz-weiß Fotoversion erhaltenen) Darstellungen. Was hat Sie dazu bewogen? Es wird dadurch eine Symmetrie suggeriert, die von Klimt weder intendiert war noch seinem "gedanklichen" Konzept zu den Bildern entspricht. Auch bei der mittels künstlicher "Intelligenz" (sic!) rekonstruierten Farbfassung der Hygieia (ebenfalls durch Spiegelung zusätzlich erweitert) wäre m.E. doch der Hinweis aufschlußreich, dass es sich nicht um das Original handelt. Bezüglich der Abbildungen wäre m.E. das vielbeschworene "Weniger" tatsächlich zu bevorzugen gewesen.
Liebe Lilly,
"Wo Bindung gelebt wird, ist kein Raum für Lüge oder Falschheit. Denn solange wir verbunden sind, sind wir im Gefühl. Und Gefühl ist Wahrheit."
Ich habe deinen Text über "Die Wiederbelebung des Denkens" wissbegierig verschlungen und bin glücklich darüber, jetzt eine noch umfassendere Sicht auf die derzeitigen und auch vorzeitigen Geschehnisse, auf bestimmte Zusammenhänge bekommen zu haben, mit Details, die ich bisher außer Acht gelassen oder noch nicht genügend betrachtet habe.
Großen Dank dafür! 🙏❤️
Und ich freue mich schon sehr und bin gespannt auf die Fortsetzung.