Mir wäre lieber, ihr würdet trauern
Mir wäre lieber, ihr würdet vermissen, wer ihr wart. Wege aus der Ichlosigkeit Teil 5 von 7. Dieses Mal mit Margarete und Alexander Mitscherlich.
In meinem letzten Text über «Die Pandemie der Ichlosigkeit» habe ich mitunter versucht, zum Ausdruck zu bringen, wie sehr es mich erschüttert, dabei zusehen zu sollen, dass das, was den Menschen – in meinen Augen – verloren gegangen ist, ihnen selbst nicht zu fehlen scheint und sie es folglich auch nicht vermissen. Es ist das Gefühl, um etwas zu trauern, was derjenige, den ich um seinen Verlust betrauere, nicht einmal als Verlust anerkennt, geschweige denn sein Fehlen auch nur bemerkt.


Entsprechend kam bei mir in diesem Zusammenhang zweierlei auf: einerseits das Gefühl von Einsamkeit, dem ich immer dann begegne, wenn mich die leise Gewissheit beschleicht, mit meiner Wahrnehmung relativ allein dazustehen, und andererseits eine gewisse Form von Mitleid für diejenigen, denen allein deshalb so viel gelebtes Leben abhanden geht, wissen sie nicht einmal, dass sie das, was Leben eigentlich bedeuten würde, schon längst verloren haben.
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In Zusammenhang mit diesem Prozess begleitete mich eine Lektüre besonders: Margarete und Alexander Mitscherlichs «Die Unfähigkeit zu trauern». Erstmals 1967 erschienen, galt der Essayband des Psychoanalytikerpaares schnell als Jahrhundertwerk, indem es die Verdrängungs- und Verleugnungsstrategien sowie Verstrickungen in Schuld und Mitschuld ehemaliger Hitler-Anhänger erstmals offen zutage legte. Gemeinsam führten sie die mangelnde «Einfühlung in das Schicksal der Opfer der Naziverbrechen» insofern auf die Derealisierung des gesamten Zeitabschnittes zurück, als dass nach Ende des Zweiten Weltkrieges diejenigen, die ihren «idealen Führer« verloren hatten, aus dem Grund nicht in Trauer oder Melancholie verfielen, weil sein Tod für sie nicht nur den Verlust irgendeiner Person bedeutete, sondern den Verlust des Repräsentanten eines gemeinsam geteilten Ich-Ideals und damit den Wegfall all’ jener Identifikationen, die sie mit ihm verbanden und die in ihrem Leben eine zentrale Funktion zu erfüllen hatten.
Oder mit anderen Worten: Weil der «Führer» zur Verkörperung ihres eigenen Ich-Ideals geworden war, erfuhr das Ich jedes einzelnen seiner Anhänger durch das plötzliche Umschlagen der ihm zugeschriebenen Qualitäten eine zentrale Entwertung und Verarmung.1 Trauer als essenzieller Schritt der Verarbeitung war für sie aus dem Grund nicht möglich, weil sie das eigene Schuldeingeständnis und die Erkenntnis der eigenen Mittäterschaft erfordert hätte. Insofern es für beides allerdings bewusste Ich-Strukturen bräuchte, diese zuvor bereits durch die Identifikation mit dem Führer untergraben wurden, trat obendrein auch keine Melancholie als Reaktion auf den eigens erlebten Verlust ein, sondern es fand eine Form von Massenverdrängung statt, die das Land bis heute nicht imstande ist zu benennen.
Während ich an anderer Stelle bereits zu Genüge über den Untergang des Einzelnen in der Masse geschrieben habe (siehe hier, hier, hier oder hier), soll es im Folgenden also darum gehen, wie Vermassung auch als Folge einer flächendeckenden Verdrängung und Entwertung des Einzelnen zur Vermeidung dessen Untergangs etabliert werden kann.
Von Nichtwahrhabenwollen bis Ungeschehenmachen
Tatsächlich galt als Zeitraum stärkster Verdrängung für die Mitscherlichs nicht die NS-Diktatur als solche, sondern jenes Zwischenstadium nach Kriegsende, aber noch vor dem Prozess gegen Eichmann in Jerusalem 1961 und den Auschwitzprozessen in Deutschland der 1960er-Jahre, infolge derer die deutsche Gesellschaft und ihre Eliten erstmals begreifen sollten, dass sie vor den Augen der Welt Verbrecher waren und unermessliche Schuld auf sich geladen hatten. Zuvor hätten sich nicht wenige Deutsche, aber auch die im Nationalsozialismus gut Gestellten vorwiegend selbst als «Opfer» gesehen: einerseits der Hitler-Diktatur, dann der Kriegsführung der Alliierten, und nun auch noch, indem sie sich für Verbrechen rechtfertigen sollten, für die sie allein Hitler und die Spitze seines Naziregimes verantwortlich sahen.
Zum Glück jedoch waren anders als die Mehrheit der Deutschen die zu Kriegszeiten ebenfalls verfolgten und emigrierten Psychoanalytiker keineswegs bereit, von der jüngeren deutschen Vergangenheit abzusehen und ihr Ausmaß an Verdrängung mitzutragen. Stattdessen gingen sie dazu über, die Gemeinsamkeiten ihrer späteren Studien, dass keiner der von ihnen Untersuchten eine tiefere Einfühlung in die Opfer der Naziideologie aufbrachte, noch auf anderem Wege bereit war, sich seiner Vergangenheit zu stellen2, darauf zurückzuführen, dass das Kollektiv der finalen Vernichtung und Auflösung verbleibender Ich-Strukturen nur dadurch entgegen konnte, «dass es alle affektiven Brücken zur unmittelbar hinter ihnen liegenden Vergangenheit abbrach».
Was die Mitscherlichs einen «Rückzug der affektiven Besetzungsenergie» nannten, sei ihnen zufolge weder als bewusster Entschluss, noch als ein beabsichtigter Akt zu verstehen, «sondern als ein unbewusst verlaufendes Geschehen, das nur wenig vom bewussten Ich mitgesteuert wird». Wir hätten uns, so schreiben sie, «das Verschwinden ehemals höchst erregender Vorgänge aus der Erinnerung als das Ergebnis eines gleichsam reflektorisch ausgelösten Selbstschutzmechanismus vorzustellen». Allein durch diese Abwendung der inneren Anteilnahme für das eigene Verhalten im Dritten Reich hätte «ein in ungezählten Fällen kaum zu bewältigender Verlust des Selbstwertes und damit der Ausbruch einer Melancholie vermieden»3 werden können.
Zur Erklärung: Sie, die Melancholie, verstanden die Psychotherapeuten als eine Art pathologischen Zustand, in dem der Verlust nicht bewusst durchlebt wird. Der Betroffene kann den Verlust nicht verarbeiten, sondern bleibt innerlich an ihn gebunden, was zu Schuldgefühlen, Selbstvorwürfen und emotionaler Lähmung führe. Während Trauer für sie mehr als aktiver Prozess der Verarbeitung von Verlusten galt, der die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ermöglicht und zur Integration des Verlusts in das eigene Leben führt, sahen sie die Nazi-Anhänger und ihre Mitläufer vielmehr durch «eine tiefe Spaltung der Persönlichkeit von der eigenen Vergangenheit, von Gefühlen, die mit einer Erinnerung an sie natürlicherweise verknüpft werden»4, getrennt. Auf diese Weise hätte weder eine aktive Trauer für Hitler einsetzen, noch Melancholie als ein passives Gefühl für den eigens erlebten Verlust eintreten können. Zu stark sei der seelische Abwehrvorgang gewesen, der in seinem Grundzug der Verleugnung durch ein zweiten, das «Ungeschehenmachen» verstärkt worden wäre – «jenes Ungeschehenmachen, das an der hurtigen Beseitigung der Ruinen und Kriegsschäden und beim ideenlosen Aufbau unserer Städte zu beobachten» war.
«Begangenes Unrecht kommt nicht dadurch zur Ruhe, daß man es totschweigt,
und nur Unverstand kann von Beschmutzung des eigenen Nestes reden,
wo es in Wahrheit darum geht, ein schwer beschmutztes Nest zu säubern.»5
Verdrängung: Schutzmechanismus oder Selbstverleugnung?
Kein Wunder beschrieben Alexander und Margarete Mitscherlich den Untergang des Dritten Reichs als «ein katastrophales Ereignis, auf das selbst bei zunehmend empfundener Ambivalenz die große Mehrheit innerlich nicht vorbereitet war». Wurden sie selbst nicht müde daran zu erinnern, «dass die Steuerung dieser Mechanismen nur zum kleinsten Teil bewußt wahrgenommen wird», unser unbewusster Ich-Anteil hingegen nicht nur unsere aggressiven Impulse abwehrt, sondern obendrein auch, «was an Schuld durch ihr Ausleben entstanden ist»6, erkannten sie zugleich, dass die Deutschen aufgrund ihrer Allmachtsfantasien und Projektionen schlichtweg zu keiner realitätsgerechten Vorschau in die Zukunft fähig waren: «Die Konfrontation mit der Einsicht, dass die gewaltigen Kriegsanstrengungen wie die ungeheuerlichen Verbrechen einer wahnhaften Inflation des Selbstgefühls, einem ins Groteske gesteigerten Narzissmus gedient hatten, hätte zur völligen Deflation des Selbstwertes führen, Melancholie auslösen müssen, wenn diese Gefahr nicht durch Verleugnungsarbeit schon in statu nascendi abgefangen worden wäre.»7
Während Trauer also immert dort entstünde, «wo das verlorene Objekt um seiner selbst willen geliebt wurde», oder anders ausgedrückt, nur dort entstehen kann, «wo ein Individuum der Einfühlung in ein anderes Individuum fähig gewesen ist»8, besäße der Verlust, welcher Melancholie auslöse, «eine narzisstische Objektwahl». Das entschwundene Objekt hätte der Betroffene dann nach seinem Ebenbild und nach dessen Bereitschaft, sich in seine Fantasie einzufügen, gewählt9. Oder wie es im Buch an anderer Stelle heißt:
«Bei der Analyse des seelischen Geschehens, das die Trauer ausmacht, finden wir den Schmerz um den Verlust eines Wesens, mit dem der Trauernde in einer tiefergehenden mitmenschlichen Gefühlsbeziehung verbunden war. Mit dem betrauerten Objekt ging etwas verloren, was ein wertvoller Inhalt unserer erlebten Umwelt war. Es gibt jedoch eine krankhafte Steigerung der Trauer, die Melancholie… In der Trauer fühle ich mich verarmt, aber nicht in meinem Selbstwert erniedrigt. Diese letztere Erfahrung macht jedoch der Melancholiker. Ihm widerfährt ‹eine außerordentliche Herabsetzung seines Ich-Gefühls, eine großartige Ich-Verarmung›.»10
Oder etwas später:
«Der Objektverlust bewirkt einen psychischen Energieverlust, führt zu einer ‹großartigen Ich-Verarmung›. Es kommt nicht zum Schmerz in der Trauer um das verlorene Objekt, sondern zur Trauer über einen selbst und in der Verbindung mit ausgeprägter Gefühlsambivalenz zum Selbsthaß der Melancholie. Immer aber ist der Schmerz dadurch charakterisiert, daß er nicht das Ende einer Beziehung meint, sondern daß er einen Teilverlust des Selbst betrifft, als sei es amputiert worden. Der Trauerklage um das verlorene Objekt steht die melancholische Selbstanklage gegenüber. Die Selbstzerfleischung der Melancholie ist im Grunde eine Anklage gegen das Objekt, das dem eigenen Selbst einen solchen Verlust zugefügt hat.»11
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Somit bestand der Schutzmechanismus, der als Begleitung zur Verleugnung auf der Bildfläche von Millionen von Psychen und Unterbewusstseinen erschien, im Ersetzen der Trauer durch die Identifikation von einem selbst mit dem unschuldigen Opfer. Sie gewähre insofern «eine konsequente Abwehr der Schuld, die dadurch verstärkt wird, dass man sich auf Gehorsamsbindung beruft, eine Bindung, die in dieser übertriebenen Form wiederum eine Abwehr der durch eine starke kindliche Ambivalenz ausgelösten Vergeltungs- und Trennungsängste darstellt»12. Ein unbewusster Schutzmechanismus, der die Vergangenheit im Bewusstsein folgendermaßen darstellt: «Man hat viele Opfer gebracht, hat den Krieg erlitten, ist danach lange diskriminiert gewesen, obgleich man unschuldig war, weil man ja zu alledem, was einem jetzt vorgeworfen wird, befohlen worden war.»13 Was wiederum die innere Auffassung verstärke, man sei das Opfer böser Mächter: «zuerst der bösen Juden, dann der bösen Nazis, schließlich der bösen Russen». Wobei das Böse – egal wie man es drehe und wende – in jedem Fall extemalisiert werde: immer werde es draußen gesucht und immer treffe es einen von «Außen».
Die Unfähigkeit zur Trauer um den erlittenen Verlust des Führers sei folglich das Ergebnis einer intensiven Abwehr von Schuld, Scham und Angst gewesen. Denn während wir als Reaktion auf Schuld eigentlich Reue und das Bedürfnis der Wiedergutmachung erwarten, sowie Trauer als Antwort auf Verlust oder Scham als natürliche Konsequenz auf verletzte Ideale, wirkte als Anlass zur Trauer nicht allein der Tod Adolf Hitlers als realer Person, «sondern vor allem das Erlöschen seiner Repräsentanz als kollektives Ich-Ideal». Entsprach er aber mehr einem Objekt, «an das man sich anlehnte, dem man die Verantwortung übertrug», glich die Derealisierung der eigenen Nazivergangenheit weniger einem Erinnern der eigenen Taten, denn einer «Aufrechnung der eigenen gegen die Schuld der anderen». Das Einreden, die eigenen Gräuel seien unvermeidbar gewesen, «weil die Gräuel der Gegner das Gesetz des Handelns vorgeschrieben haben»14, hätte so weit gereicht, die besondere Schuld auf dem eigenen Konto vollends aufzulösen.
«Die Zeit heilt nicht nur die Wunden, sie lässt auch die Tater sterben.»15
Denn wie zuvor bereits angesprochen: Die These der Mitscherlichs bestand darin, dass die Deutschen «in Massen einer Melancholie verfallen wären, wenn [sie] die Realität, wie sie war ‹zur Kenntnis genommen› hätten». Die moralische Aporie sei unverkennbar gewesen: «Der Mangel an moralischer Aufklärung über die natürlichen Grenzen menschlicher Befehlsgewalt und entsprechend die Unterrichtung, wann Widerstandspflicht in faktischen Widerstand umzusetzen ist – dieser Mangel trug zu den Gründen bei, die uns zu Agenten organisierter Menschenverachtung werden ließen». Die Schuldlast, schreiben beide, «der wir uns danach gegenübersehen, ist mit unserem für ein Fortleben unerlässlichen Selbstgefühl so wenig vereinbar, dass wir (narzisstisch verwundet, wie wir sind) Melancholie abwenden müssen. Damit ist aber ein submoralischer Notstand erreicht, in dem nur mehr biologisch vorbereitete Selbstschutzmechanismen Erleichterung bringen können.»16


Mir wäre lieber, ihr würdet trauern
Das «Problem», was die Deutschen – und mit ihnen alle anderen Anhänger totalitärer Systeme – gemein zu haben scheinen, ist folglich die innere Leere, die sie allesamt kompensieren zu müssen scheinen. Auch aus Sicht der Mitscherlichs sei sie dafür verantwortlich, dass «eine die Gesellschaft verändernde Revolution»17 nicht gelang – eben weil die Deutschen keine Verantwortung übernahmen. Dieses «deutsche Ambivalenzproblem» führten sie kurzerhand darauf zurück, «dass die Deutschen ein heftiges Bedürfnis nach Idealisierung ihrer Vorbilder oder ihres nationalen Selbstbildnisses verspürten». In ihm erkannten die Psychoanalytiker «den in der Ambivalenz gebundenen Gegenpart libidinöser Art zu den aggressiv-destruktiven Triebbedürfnissen», die sie wie folgt erklärten:
«Bevor eine Aggression gezeigt werden durfte, musste sie als im Dienste eines Ideals geschehend bezeichnet werden können – und wenn es ein noch so verstiegenes Ideal war. Nur eines blieb verpönt, und darüber bestand ein kollektiver Konsensus: die Zivilcourage. Der Entscheidung nach dem individuellen Gewissen und der Bereitschaft, persönliche Verantwortung zu übernehmen, haftete das Odium einer unehrerbietigen Haltung gegenüber den von Gott stammenden Autoritäten an. Abweichendes Verhalten auf Grund eigener Urteilsbildung, in den meisten Gesellschaften nicht gerne gesehen, konnte speziell bei uns nicht auf den Beifall der Vielen rechnen.»18
Ist der Begriff der «Zivilcourage» derweilen vielleicht ein wenig veraltet – oder wird gesellschaftlich zumindest nicht mehr gelebt –, fand er sein «Revival» erst kürzlich im Schlagwort «Solidarität». Hat diese derweilen bereits die französische «Fraternité» ersetzt, ist es erschreckt, was hinter ihrem Ideal noch so alles verschwindet: die Fähigkeit, sich in das wahre Leid anderer Menschen hineinzufühlen zugunsten der eigenen Selbstwertbestätigung. Wo wir unsere eigenen Kleinheitsgefühle und Anflüge von Wertlosigkeit zu kompensieren versuchen, greift die Dynamik der Idealisierung: Statt uns mit der Ambivalenz unserer Gefühle auseinanderzusetzen, verleugnen wir sie – und projizieren sie nach außen.
Um die wahre Lücke nicht anschauen, oder gar um ihre Leere trauern zu müssen, erkoren wir Menschen oder gar Kollektive wie «das Vaterland» zum Ideal – oder einigen uns zumindest darauf, so tun zumindest, als wären sie welche. Eine Dynamik, die Alexander und Margarete 1970 abermals in ihrem schmalen Bändchen «Eine deutsche Art zu lieben» aufgriffen. Gemeinsam fragten sie sich (beispielsweise in Hinblick auf Himmler, der die Verbrechen des Zweiten Weltkrieges nicht nur als «Höhepunkt eines heldenhaften Geschehens», der in die Geschichte eingehen werde, bezeichnete, sondern obendrein mit dem Stolz in Verbindung brachte, «dass wir dabei anständig geblieben sind»), mithilfe welcher Ideale man die entsetzlichsten Dinge in der Menschheit begehen kann.
Für die Mitscherlichs verbanden sich diese «Ideale» in jedem Krieg. Und in dieser Zeit mit einer «typisch männlichen Art», eigene angsterregende Aggressionen auf andere zu projizieren. Eigene perverse Fantasien bei anderen zu sehen und dann diese zu Feinden zu erklären, Kriege machen zu können oder sie wie Ungeziefer vernichten zu können, um den deutschen Volkskörper «zu reinigen», wie es in der Nazizeit hieß. Diese Werte und diese Art des seelischen Umgangs, eigene Aggressionen auf andere zu verschieben, und sie dort zu bekämpfen, sei laut Margarete Mitscherlich in der Tat sehr viel typischer bei Männern.
Ihnen, den Männern (oder auch den Frauen, die diese Aggressionen teilen), rieten beide dazu, ihre eigenen Wertvorstellungen kritisch zu prüfen. Und zu «versuchen, aus einem Perpetuum mobile herauszukommen, wo sie aufgrund solcher Wertvorstellungen und aufgrund solcher seelischen Mechanismen endlos neue Kriege produzieren und aus dem heraus sie natürlich auch in diese entsetzliche Art der Rüstungsspirale gelangt sind». Es gehe darum, immer mehr zu verstehen, warum man in solche Kreisläufe hineinkommt, um sie schlussendlich ein für alle Mal durchbrechen zu können.


Trauerarbeit: Der leise Umbau des Selbst
Das ist im Grunde, was ich mir wünsche, wenn ich schreibe, «Mir wäre lieber, ihr würdet trauern» und «Mir wäre lieber, ihr würdet vermissen, wer ihr wart»: Dass dieser Kreislauf ewiger Verdrängung und Selbstverleugnung endlich ein Ende nimmt und diese Flut an Tränen endlich geweint werden kann. Dass diese Schale des Vergessens, wer wir wirklich sind, endlich zerbricht, und da erstmals wieder Raum entsteht für das, was wir sein könnten, würden wir nur endlich anfangen, um das zu trauern, von dem wir immer gedacht haben, wir würden es sein, es aber niemals waren.
Diese Lücke unserer eigensten Ich-Illusion gilt es anzuschauen – erstmals und überhaupt. Es gilt die Lüge, die wir gelebt haben, anzuerkennen, um sie anschließend mit unserer eigenen innersten Wahrheit zu füllen.
Als Psychoanalytiker nennen Margarete und Alexander Mitscherlich diesen Teil «Trauerarbeit». Sie ist der schmerzvolle, langsame Prozess, innerhalb dessen das verlorene Objekt nicht einfach losgelassen, sondern zunächst in die eigene Innenwelt aufgenommen wird. Trauerarbeit ist das bewusste Aushalten der Erinnerung, das schrittweise Lösen der Bindung. Es ist ein inneres Zerreißen – kein Abwehren, kein Vergessen. Die Trauer widerspricht damit den üblichen psychischen Abwehrmechanismen, denn sie führt nicht weg vom Schmerz, sondern hindurch.
Besonders deutlich wird der Unterschied zur narzisstischen Bindung: Was lediglich dem Selbstwert diente, lässt sich leicht abstreifen – doch nicht ohne Konsequenzen. Die innere Kälte, mit der wir solche Objekte fallen lassen, mag folgenreicher sein, als es scheint. Ihre Vehemenz und Schwere richtet sich nun schließlich nicht mehr auf unsere narzistische Objektwahl, sondern lässt stattdessen uns erkalten – und damit vor uns selbst erschaudern.
Tiefe Trauer hingegen ist ein Akt der Wandlung: Indem wir den Idealen des Verlorenen nachzuspüren versuchen, beginnt etwas in uns, sich neu zu ordnen. Erst mit dem Abschluss der Trauerarbeit lösen sich Kräfte, um sich neuen Menschen, neuen Aufgaben zuzuwenden. Wo das Objekt jedoch vor allem narzisstisch besetzt war, wird sein Verlust als Verlust des Selbstwertes erlebt. Dort droht keine Reifung, sondern ein Abrutschen in Melancholie.
Am Ende der echten Trauerarbeit steht also nicht Wiederherstellung, sondern Anerkennung des unwiderruflich Veränderten. Wer diesen Weg geht, kann auch die Ambivalenz der Beziehung zulassen – und daran wachsen. Diese Reife aber bleibt dem verschlossen, der das Objekt nur in idealisierter Form sehen konnte. Denn was nie wirklich angenommen wurde, kann auch nicht wirklich verloren gehen. Es verschwindet – spurlos. Und hinterlässt eine Wunde, die nicht heilt.
Wie wir die Melancholie umgehen, und die Wunde endlich heilen lassen können; dem widme ich mich in den letzten zwei Texten dieser Reihe. Ebenso werden Texte zur «Vaterlücke» und warum die Zukunft laut Margarete Mitscherlich «weiblich» ist im Laufe der nächsten Wochen und Monate folgen. Es heißt also – dranbleiben! & Abonnieren.
Osteraktion: Wer bis diesen Ostersonntag (20. April) ein Jahresabonnement für meinen Blog «Treffpunkt im Unendlichen» abschließt (geht auch via Überweisung oder Paypal), dem- oder derjenigen schenke ich ein signiertes und gewidmetes Taschenbuchexemplar von meinem Essayband «Das Gewicht der Welt»!
Mitscherlich, A. & Mitscherlich, M. (2017). Die Unfähigkeit zu trauern: Grundlagen kollektiven Verhaltens. Piper, Seite 37.
Ebenda, Seite 58.
Ebenda.
Ebenda, Seite 125f.
Ebenda, Seite 39.
Ebenda, Seite 39f: Ein Schema, das auch auf den «Führer» zugetroffen hätte: Erfüllte er doch durchaus, «das Größenideal des lange absolutistisch verkrüppelten Untertanen und projizierte umgekehrt seine Größenideen auf die ‹Rasse›, welche das deutsche Volk auszeichnen sollte». Deshalb konnte Adolf Hitler, wie die Mitscherlichs es zusammenfassen, «auch den Gedanken denken, nicht er selbst sei für seine Katastrophe verantwortlich, sondern dieses deutsche Volk habe sich seiner nicht würdig erwiesen; es hatte seine narzißtischen Hoffnungen nicht erfüllt – sowenig es ihm gelungen war, die Sterne der Allmachtsphantasien des in passiver Erwartung an ihm hängenden Durdischnittsbürgers schlußendlich vom Himmel zu holen».
Ebenda, Seite 37.
Ebenda, Seite 60.
Ebenda.
Ebenda, Seite 58.
Ebenda, Seite 79.
Ebenda, Seite 36.
Ebenda, Seite 58.
Ebenda.
Ebenda, Seite 125f.
Ebenda, Seite 39.
Ebenda, Seite 62f.
Ebenda.
Ich glaube ein großer Teil weswegen Menschen sich selbst immer weniger spüren und Teile von sich selbst abspalten anstatt sie anzusehen und „durch den Schmerz zu gehen“ hat mit Ablenkung zu tun, mit Verwirrung. Denn ein verwirrter Geist ist besser lenkbar. Der neue Krieg findet in den Köpfen der Menschen statt.
Schleichend geschieht die Umwertung aller Werte. Es fängt damit an das man bestimmte Dinge oder Wörter nicht mehr sagen darf, und was man nicht mehr sagen darf, darüber darf nicht mehr diskutiert werden. Wenn etwas nicht diskutiert werden darf, dann wird nicht mehr gedacht, was nicht mehr gedacht wird verschwindet aus dem Horizont der Möglichkeiten und was verschwunden ist aus dem Feld sieht man irgendwann nicht mehr. Es bleibt ein Vakuum der Leere zurück, dem man nur durch noch höhere Kicks entfliehen kann (Sex, Porn, Drogen aber auch extreme Sportarten oder Esoterik Workshops in Bali, plant medicine etc.)
Ich bin tief berührt von der Weisheit dieses Artikels und die Deutlichkeit der Auswirkungen durch die fehlende Trauerarbeit. Die Melancholie als Zustand nicht geweinter Tränen, die unsere Gesellschaft durch dauerhaften Konsum wegzulächeln versucht, ich sehe deutlich eine grotesk verzerrte Fratze unendlich vieler verdrehter Energien, das Erkennen dieser Melancholie nehme ich mit in mein Leben, beschenkt und bereichert, dankbar für jede geweinte Träne.
Herzliche Grüße
Benjamin Dzialowski