Der innere Raum
Du leidest an dir selbst, an nichts anderem als an deiner Uneinigkeit mit dir selbst. Wege aus der Ichlosigkeit — Teil 7 von 7.
Im Grunde unterliegen wir zwei Formen von Ängsten: existenziellen, den sogenannten Urängsten, und der psychosozialen Angst. Insofern Urängste wie Höhenangst oder die Furcht vor dem Ersticken im übertragenen Sinne das widerspiegeln, was unsere Seele in einem früheren Leben erlebt und als entsprechende Wunde in das unsrige hineingetragen hat, steht die soziale Angst für die Angst unseres Ichs, wann immer dieses nicht in Verbundenheit mit unserer Seele ist.
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Die soziale Angst greift, wenn wir uns selbst nicht mehr greifen können. Wenn wir Dinge tun, ohne dass es unser bewusster Wille ist. Sie entsteht, wo uns die Scham ergreift. Wo wir merken, dass wir nicht aus reinem Herzen, sondern aus Trieb, aus Unüberlegtheit oder Überredungskraft anderer gehandelt haben und wo wir somit nicht ganz «bei uns» waren. Kurzum: Die soziale Angst findet ihren Halt in unserem fehlenden Rückhalt in uns selbst.
Das macht die soziale Angst zum Kontrollwerk unseres Selbst. An ihr orientieren wir uns, hat die Angst uns innerlich erst einmal so erstarren lassen, dass wir von dort keine Antwort mehr erwarten können.
Sei es also die Angst vor sozialer Ablehnung, Versagen, Veränderung, Kontrollverlust oder die, nicht gut genug zu sein: Insofern sie allesamt nichts anderes sind als das Resultat unserer Gedanken und Erfahrungen, sind sie auch der Hebel, über den sie wirken: Anstatt dass sie uns darin bestätigen, selbst der Souverän unseres Lebens zu sein, lassen sie uns glauben, unser Glück hänge davon ab, ob andere uns dies zugestehen.
Darin besteht ihre gesamte Macht: in unserer Ohnmacht. Die soziale Angst macht uns zu Untertanen unserer eigenen Gedanken und Gefühle. Sie lässt uns glauben, wir seien nicht frei darin, uns von dem zu befreien, was uns unfrei macht. Als könnten wir diese Freiheit selbst dann nicht haben, würden wir sie uns nehmen. Und als wären wir noch weniger liebenswert, würden wir auch nur daran denken, sie zu ergreifen.
Dabei brauchen wir nicht einmal nach ihr zu greifen. Wir haben diese Freiheit bereits. Oder genauer gesagt: Wir sind diese Freiheit. Wir tragen sie in uns. Als Potenzial, als Möglichkeit, als Entscheidung.
Ihre gesamte Entfaltung ruht lediglich in einer Frage: Was wollen wir? Frei sein oder «gemocht» werden? Wollen wir die Einigkeit mit uns selbst, oder die mit «allen»? Sind wir lieber «unbeliebt» und dafür im Frieden mit uns selbst, oder verleugnen wir dieses Selbst und leben mit dem insgeheimen Wissen, dass die anderen in Wirklichkeit auch nicht uns mögen, sondern das Bild, das wir ihnen von uns zeigen, damit sie uns mögen?
Denn mal ganz davon abgesehen, dass nichts so anziehend ist wie Integrität und gleichzeitig jemand, der meint, du müsstest noch bestimmte Bedingungen erfüllen, damit er dich endlich lieben könne, höchstwahrscheinlich selbst noch nie geliebt hat, hat Freiheit – im Gegensatz zur Liebe – einen Preis. Er lautet Angst. Angst und Freiheit sind unvereinbare Gegensätze. Entweder sind wir frei, oder wir haben Angst.
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Anstatt dass wir in Zukunft also auf jemanden hören, der meint, besser über unser Leben Bescheid zu wissen, als wir selbst, fragen wir doch einfach mal zurück, was diesen jemand es so wenig mit sich selbst aushalten lässt, dass er Zuflucht und Ablenkung vor seinem Leben in unserem suchen muss? Haben wir nämlich erst einmal erkannt, dass die anderen an uns immer nur das ändern wollen, was sie an sich selbst nicht geändert bekommen, können wir die anderen getrost die anderen sein lassen und uns auf das Folgende konzentrieren:
Wenn du Wahrheit willst, dann sprich sie aus.
Wenn du Frieden willst, schließe Frieden mit dir selbst.
Weite den Raum in dir, bis dich nichts mehr daran hindert, ihn einzunehmen.
Dieser Text erschien zuerst in der 18. Ausgabe des Schweizer Magazins DIE FREIEN.
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